I warned you expressly and in great detail about the Flyte family. Charm is the great English blight. It does not exist outside these damp islands. It spots and kills anything it touches. It kills love, it kills art; I greatly fear, my dear Charles, it has killed you.
Anthony Blanche in Brideshead revisited von Evelyn Waugh
Die Sache mit der Landpartie imponierte uns mit am meisten.
Es gab damals, Ende der 80er Jahre am Gymnasium der kleinen, dummen Stadt an der Donau unter den Kindern der gebildeten Schichten ein paar Buchmoden: Gabriel Garcia Marquez, Cocteau, auch Brecht und Oscar Wilde. Es gab – das war allerdings schon gegenüber dem Direktor im Unterricht schwer durchzusetzen, weil von einem Schwulen geschrieben und Schülerselbstmord behandelnd – die Falschmünzer von Andre Gide. Und es gab “Brideshead revisited” von Evelyn Waugh. Es war, als hätte jemand die verdreckten Fenster aufgestossen, und uns das Licht, die Sonne und das Leben gezeigt. Es war das letzte Schuljahr, die Zukunft lag irgendwie vor und die Irrationalitäten des Westviertels hinter uns, und hier nun bekamen wir ein Buch über unsere Kreise in die Hand, wie es weiter gehen sollte, konnte, vielleicht würde, ein irisierender, verstörender und sehr schöner Reigen an Leben, das Machbare und das Schlimme all dessen, was nach der Jugend kommen wird.
Evelyn Waugh hat Brideshead während des zweiten Weltkrieges während eines Aufenthalts im Lazarett geschrieben, und führte später mit entschuldigend die Opulenz des satten Lebens auf den Umstand zurück, dass es zu dieser Zeit nur karge Rationen gab. Ungeachtet dessen waren wir fasziniert vom ausgelassenen Leben des Erzählers Charles Ryder in Oxford, von seinem liebenswerten und gleichzeitig fragilen Freund Sebastian Flyte und ihrem Gegenstück, dem unmöglichen und schillernden Anthony Blanche, und so fingen wir an, kleine Fragmente in unser Leben zu übernehmen. Die vielleicht schönste Stelle ist eine Ausfahrt mit den Erdbeeren, die Sebastian Flyte von seiner Mutter aus deren Schloss geschickt bekommt. Es ist alles so friedlich, so amüsant, so frei und geistreich. So in etwa wollten wir auch sein. Ein klein wenig.
Wer das Buch kennt, weiss, dass die Früchte vergiftet sind. Vergiftet mit dem Schicksal der Familie von Sebastian, Angehörige des englischen Adels, die sich in ihrer Gegenwart der 20er Jahre nicht zurecht finden. Die Verhältnisse sind reich, mitunter sehr charmant, aber auch falsch und zerrüttet: Der Vater, Marquess of Marchmain, ist seiner bigotten Frau entflohen und lebt mit seiner Geliebten in Venedig. Die Geschwister von Sebastian sind, vorsichtig gesagt, schwierig: Der Erbe des Titels ist ein verhätscheltes Söhnchen, und seine Schwestern schlagen über die Stränge. Julia, die später die grosse und gescheiterte Liebe des Erzählers werden wird, lässt sich ohne viel Nachdenken mit einem ungebildeten Ekel ein, während ihre Schwester Cordelia zur Frömmlerin wird. Die Personen kommen im Verlauf der Geschichte immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammen, bis sie sich selbst und die anderen verloren haben. Über die 20 Jahre der Erzählung hinweg stirbt die bessere, englische Gesellschaft einen quälenden, langsamen Tod.
Dieser Tod jedoch ist grandios und voller Witz und Charme beschrieben, wie es Waugh stets meisterhaft beherrschte, all das Bittere und sogar das Schlimmste, das Herabsinken der liebenswerten Symbolfigur Sebastian zum kaputten Alkoholiker ist darin sanft eingebettet, so sanft, dass man es trotzdem geniessen kann, wenn man 18 ist, das Leben noch keine echten Sorgen bereit gehalten hat, und die einzige echte Frage, die man sich stellen muss, sich um den Studienort für irgendein sinnloses, aber amüsantes und mit Nachtleben verknüpfbares Fach dreht, oder auch zwei, oder auch drei, es eilte ja nicht, und solange fuhren wir hinaus in die Wälder um das Westviertel, kleideten uns hübsch ländlich, nahmen Erdbeeren, Wachteleier, Baguette und Champagner mit, und nannten unsere Teddybären Aloysius. Wir hatten unsere Leitbilder gefunden.
Leider fand bei der Gelegenheit auch deren Schicksal uns, nicht einsehend, dass es mit den guten Seiten der besseren Kinder genug sei. Mit aller Macht legte sich die Welt in die Lebenswege, und es dauerte nicht lang, da lebte der erste Sebastian Flyte mehr nach, als uns lieb sein konnte: Alle Gaben und Vorzüge der Familie konnten das Mädchen, das er sich erwählt hatte, nicht an seiner Seite halten, und weil er bis dahin immer alles von seinen Eltern bekommen hatten, mussten sie nun dafür büssen, dass sie ihm die Eine nicht geben konnten. Er begann zu trinken, wurde rabiat, rannte nach dem zweiten Tag aus der Kaserne weg, wo er seinen Wehrdienst hätte ableisten sollen, und wurde in die Psychiatrie gesteckt, damit es nicht auf Fahnenflucht hinauslief.
Man sagt, die schlimmste Zeit mit Kindern sei die Pubertät, aber damals waren wir noch folgsam und angepasst. Die grossen Brüche im Lebensweg kamen nach dem Abitur und den Möglichkeiten, die man erhielt. Da war der Junge, der mit Freunden auf einer winterlichen Party war, und sich in deren Auto auf dem Heimweg übergab. Sie warfen ihn vor dem Haus seiner Eltern aus dem Wagen, wo er hinter einem Wagen stürzte und erfror, einfach so. Mein Freund schaffte es mit vielen Rückschlägen wieder aus der Psychiatrie heraus, begann sein vorgesehenes Medizinstudium, fand eine neue Freundin aus besserem Hause, die eines Nachts absichtlich ihren Wagen in den Strassengraben steuerte. Die Apothekerstöchter, die allen gefallen hätten, heirateten scheinbar biedere Männer aus nicht passenden Schichten, die sich danach als rabiat und brutal erwiesen. Wir waren jung, schön, reich, und zu oft auf Beerdigungen, oder auf Intensivstationen, und wussten nicht, ob unsere Freunde die Nacht mit der Dosis überleben würden. Man kann es nicht erklären, warum Menschen, mit allen, wirklich allen Möglichkeiten dieser Erde ausgestattet, Angehörige einer winzig kleinen Schicht auf diesem Planeten des Elends und der Armut, einfach auf ein Baugerüst steigen und herunterspringen. Es ist so. Und es war damals auf eine perverse Art schick, so wie 10 Jahre später schlitzen in Mode kam.
Es war nicht so, dass man eine Seite umgeblättert hat, und das nächste, dort beschriebene Unheil brach herein. Das Schöne an Brideshead revisited ist seine Rahmenhandlung, in der deutlich wird, dass Charles Ryder davongekommen ist, sicher mit Verletzungen und sehr viel Trauer, aber er hat es überstanden. Das Buch erzählte uns in diesen schwarzen Tagen zwischen dem Abitur und dem alle Bindungen aufbrechenden Studienalltag nicht nur vom Niedergang unserer eigenen, heilen Welt, sondern vor allem, wie man es das verarbeitet, was man nicht versteht und auch nicht verstehen kann, weil es die ersten 18 Jahre des Lebens mit aller Kraft von einem fern gehalten wurde. Die resignierende Erkenntnis, dass einem vielleicht später jedes Glück versagt bleibt, und alle fest gefügten Strukturen brechen werden, weil die Zeiten sich ändern und die Optionen andere Wege erlauben; die Einsicht, dass es keine Sicherheit in dieser sehr anderen Welt geben wird; das alles mag vielleicht banal erscheinen, aber es ist ein wichtiger Schritt auf einem Lebensweg, dessen Gewissheiten sich damals sehr schnell in einem dunklen Nebel verloren.
Das Buch verzichtet darauf, tiefergreifende Erklärungen für das selbstzerstörende Verhalten der Protagonisten zu liefern. Sie sind durch ihre Herkunft definiert, sie können nicht anders, sie machen Fehler, werden dafür in einer sehr katholischen Manier bestraft, und richten sich selbst, jeder auf seine eigene, individuelle Art zugrunde. Das Buch verkündet sehr lakonisch das “Tu, der Du eintrittst, alle Hoffnung ab”, das über dem Höllentor stehen soll, und hält sich nicht mit den Fragen, den immer wiederkehrenden Fragen nach dem Warum auf. Man konnte sich in jenen Tagen nur an dieser Frage, dem ewigen und nicht beantwortbaren Warum aufhängen, es perpetuieren und daran selbst zugrunde gehen. Die Figur des Charles Ryder aber zeigte, wie man über diese Frage resignierend hinweg kommen konnte, ohne daran innerlich zu zerbrechen.
Irgendwann hörte das alles auf. Manche waren tot, manche hatten es nicht einmal in Briefen erklärt, aber für die Überlebenden kamen andere Orte und andere Menschen, die von diesen Tagen, den Ruhigstellern und den Telefonen am Stationstor nichts wussten, und bei denen man neu anfangen konnte. Irgendwann konnte man auch wieder in Urlaub fahren, einfach so über die Berge mit den Rennrädern und Brettern, ohne jemanden neben sich zu haben, der aus einer Station ausgebüchst war und einem keine andere Wahl liess, man musste niemandem mehr die Rasiermesser wegnehmen und alle Medikamente verräumen. Die Freundschaften sind erst später daran zerbrochen, man hatte zusammen zu viel erlebt und gesehen, man wurde zu einem Teil der Erinnerung an Zeiten, von denen sie nichts mehr wissen wollten.
Aber auch damit lernt man umzugehen, wenn man die Erinnerungen von Charles Ryder an Brideshead gelesen hat. Fast 70 Jahre ist dieses Buch nun alt, das den Untergang der britischen Oberschicht beschreibt, aber es half in den Westvierteln der frühen 90er Jahren immer noch, weil es ein universelles Buch nicht über seine Zeit, sondern über jede Klassengesellschaft ist, die sich im Umbruch befindet. Es ist, im Gegensatz zu den Eltern, mit diesen Erlebnissen nicht überfordert. Jeder in dieser Schicht sollte es mit 18 Jahren gelesen haben.
Wenn es wider Erwarten doch gut geht, lernt man allenfalls Picnics schätzen, und nennt seinen Teddy Aloysius. Es könnte schlimmer kommen.