Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Ritterlichkeit in Zeiten der Aschenwolke

Eine halbe Stunde, bevor letzthin mein 1955er Sunbeam auf der Autobahn stehen blieb, sagte ich einem Kind, das sofort auch so einen Wagen von seinem Grosvater wollte, es solle warten - es werde nie zu alt sein, um grosse Fehler zu machen. Und ich bin mir sicher, dass es auch für mein nächstes absonderliches Benehmen Rechner gibt, die mir zweifellos bestätigen werden, dass mein Verhalten nach ihren Berechnungen nicht sinnvoll ist. Ich jedoch würde diesen Rechnern dringend raten, sich nicht auf die trügerische Sicherheit des Zebrastreifens zu verlassen, sollten sie vor mir die Strasse queren, auf der ich nach Italien fahre.

Sag dem Hahnrei von deinem Vater, dass ich die Angelegenheit regeln werde.
Gabriel Garcia Marquez, Beständiger Tod über die Liebe hinaus

Die Grösse unseres Zeitalters zeigt sich auch in der miserablen Opulenz unserer Katastrophen; was dem Menschen des Mittelalters noch das Hölleninferno und der Totentanz war, ist uns eine Aschewolke einer Insel, auf die kein im Westviertel eingelassener Mensch je gereist ist, und eine Vielzahl allenfalls mittelgut gekleideter Menschen in Flughäfen, deren Hässlichkeit erst jetzt zum Vorschein kommt, da man durch diese Nichtorte der unfreundlichen Behandlung nicht mehr zum Taxi eilt, sondern sich dort einquartieren muss – oder auch nicht, wenn man in der Nähe eine Wohnung und einen Rennrodel hat. Der normale Fluggast, der nun zum Flughafenungast wurde, müht sich an seinem Mobiltelefon ab und versteht gar nicht mehr, warum der Kasten nicht mehr helfen kann.

 Denn der Kasten kann sonst immer irgendwie helfen. Der Kasten stellt Kontakt her zu den Abertausenden von Menschen, deren einziger Sinn und Zweck es ist, einem in solchen Momenten gegen kleine Gebühr zu helfen. Man braucht eine Information, schon ist sie da. Man braucht eine Frau mietweise für die Nacht, schon ist sie bestellt. Man braucht ein Auto oder eine Reservierung für ein Hotel, kein Problem. Man bekommt blitzschnell einen Arzt, und im Viertel meiner Eltern auch Nachts um 5 noch einen Anwalt, wenn die Kinder in der Altstadt besoffen Autos demoliert haben. Aber nun sitzen sie in Rom, den Kasten in der Hand, und kommen nicht weiter.

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Es ist eine besondere Ironie dieses Schicksals, dass die Unwägbarkeiten für all diese unfreiwilligen Besucher der ewigen Stadt ausgerechnet in einer möglichst exakten Formel begründet sind, die als Ergebnis ausspuckt, dass sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf dem Weg nach Deutschland vom Himmel fallen und meine schönen Berge beschmutzen werden, was niemandem recht sein kann. Früher bedeutete verflucht sein, die Pest zu bekommen oder in einem Land zu leben, das Adenauer wählt. Heute ist man verflucht, wenn der eine Kasten mit einem Alkoridmuß, oder sonst was, das nur Leute mit Mathe-LK verstehen, den Lebensweg verbaut und der andere Kasten keinen Ausweg findet, weil die damit verbundene Dienstleistungsgesellschaft von wieder anderen Kästen nicht darauf eingestellt wurde. Und so liegen sie am Boden wie ihre Vorfahren in einem Lazarett der Choleraepedemie, und erfahren zum Trost, dass auch Minister und Manager nicht geschont wurden.

In Rom. Im Frühling. Hier, jetzt, sind sie gestrandet. Verloren. Würden so gern weg. Das ist es, das grosse Drama dieser Tage, der Anlass für Sondersendungen und Extraseiten, oh Gott die Armen, der Staub einer komischen Insel und ein Alkoridmuß nageln sie fest in diesem Unglück, und nun starren alle auf einen Politiker und eine Fluglinie, die sich streiten und hoffentlich dafür sorgen, dass alle wieder, wie gewohnt, weitertrotten können und dabei nicht vom Himmel fallen, und möglichst schnell wieder Vertrauen in ihre kleinen, tollen Kästen finden. In Rom, der schönsten Stadt der Welt, im Frühling.

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Und auf der anderen Seite der Alpen hört man die Klagen der dort bald auch Festhängenden, die gerade ihre Koffer für den gestörten Heimflug packen, kein Mietwagen wird da sein, überfüllte Züge drohen, Verspätungen, schlimme Zeiten, ganz schlimm, bald ist auch der Akku alle, dann bricht selbst der Kontakt über den nutzlosen Kasten ab, und sie wird auch hinsinken auf den Boden des Flughafens und sehr, sehr schlecht gelaunt sein. Aber gerade das Wegsterben aller Alternativen, das Ende aller modernen Helfer, das Verschwinden des letzten Strichs der Akkuanzeige erlaubt es, an den Sportwagen zu denken, an die gewundenen Strassen der Alpenpässe und die sanften Hügel der Toskana, an die Strecke nach Innsbruck, Sterzing, Brixen, Trient, Verona, Bologna, Florenz, Siena, Rom, keine Strecke eigentlich, sondern ein Gedicht, es erlaubt den Gedanken an das kleine Hotel mit der wunderbaren Dachterrasse und dem blauen Speisesaal, und es erlaubt zu sagen: Kein Problem, ich hole Dich ab.

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Dieser kleine, unscheinbare Satz, ausgesprochen gegen seltsame Aschewolken und ein absurdes Programm in einem grauen Kasten, dieses Angebot, das auf 900 Kilometern nicht mit Vernunft zu erklären ist, macht den Unterschied zwischen jenen, die das einfach können. Und den anderen, die es nicht können und irgendwann einen vom Fussboden entnervten Schatz in Händen halten, der allenfalls vor Wut funkelt und vor Hass gleisst. Muss man jedoch keiner geregelten Arbeit nachgehen, hat einen Sportwagen in der Tiefgarage und ist ohnehin gerade nahe der Grenze, kann man alle kleinlichen Einwände und Bedenken wegwischen und sogleich nachschieben: Keine Widerrede.

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Denn was soll das für eine Welt sein, die einem mit irgendwelchen Berechnungen eines Kastens und der Unfähigkeit der Restwelt die Geliebte vorenthält, und ihr obendrein Rom verleidet. Es ist, das jedoch muss man anerkennen, wenigstens eine Welt, die ein schmales Fenster der Ritterlichkeit zulässt, die sie sonst stets zu verhindern vorgibt. Man braucht das ja alles nicht mehr; solange die Kreditkarte Geld ausspuckt, ist immer jemand da, der die Probleme von den Erdbeeren im Winter bis zu den Falten im Alter löst. Die Probleme sind so tiefgreifend gelöst, dass man nicht mal mehr etwas aus dem Urlaub mitbringen kann, das es daheim nicht gibt, denn alles ist immer und überall verfügbar. Aber jetzt hat sie entweder Nächte auf dem Flughafenboden vor sich, oder Tage in einem Roadster. In Rom. Im Frühling. Und die ganze Strecke bis in die Berge und darüber hinaus.

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Natürlich wird man zu hören bekommen, dass es unvernünftig sei. Es ist mindestens so unvernünftig wie das ausgesprochen unfeine Gefühl des Beneidetwerdens, da man über all die rumliegenden Leute hinweg steigt, weil draussen vor dem Eingang ein schneller, offener Sportwagen wartet, der einen nach Hause, davor aber erst nach Rom bringt, und weiter nach Siena und Volterra. Es gibt nur einen Sitzplatz, denn man kann nicht alle retten, sondern nur die eine. Die anderen, nun, vielleicht rettet die der ein oder andere graue Kasten schneller, als der Wagen die Berge überquert.

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Natürlich zeigt sich auch die Grösse unseres Zeitalters in den Gegnern, derer man sich erwehren muss. Der Feind ist nicht mehr materiell, sondern nur noch eine Zahlenkolonne, die geschaffen wurde, um das Richtige zu tun, und einen doch im Falschen enden lässt. Sie sagen, dass es gut für uns ist, aber ich denke, dass eine Reise durch Italien erheblich besser sein wird. Der graue Kasten könnte mir sagen, wie viel Geld ich in dieser Zeit anderweitig verdienen könnte, wie ich den Planeten verschmutze und anderes mehr, aber er kann nicht berechnen, was es bedeutet, ein paar Tage auf dem Flughafenboden zu verweilen, oder in Siena die Meisterwerke der Gebrüder Lorenzetti zu betrachten, die noch von der echten Pest hinweggerafft wurden, und nicht in einer optimierten Ödnis leben mussten, in der die einen Programme Partikelkonzentrationen auswerten, und andere Programme Absturzrisiken mit Liquiditätsproblemen und Versicherungsrisiken abgleichen.

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Es soll Leute geben, die froh sind, wenn ihnen die verknüpften grauen Kästen das Denken, Lesen, Analysieren und Rechnen abnehmen; es sind jene Zukunftshoffer, die darin das bessere Leben erkennen. Vielleicht schreiben sie die Heilsbotschaft ins Internet, da andere jene kleine Strasse in der Altstadt von Arezzo hinaufgehen, an deren Ende ein Trüffel auf sie wartet, den sie nie bekommen hätten, hätten die grauen Kästen nicht für den Flughafenfussboden entschieden, und der Mensch das Leben gewählt. Vielleicht schreiben diese Glücklichen es später auch in das Internet, als Subversion und Versklavung der grauen Kästen.

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Manchmal wünschte ich, die grauen Kästen und ihre Bewunderer hätten nur ein paar Sekunden so etwas wie eine Seele. Damit sie den Schmerz fühlen, wenn sich der irrwitzige Trüffelgeschmack in meinem Mund entfaltet, und ich schallend in den tiefblauen Nachthimmel hinein lache, über diese Idioten. Und mein Glück.