Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die besten Familien und der Hamster im Mixer

Zehn Jahre sind eine lange Zeit, in zehn Jahren kann viel passieren, und gerade in den zwischenmenschlichen Dingen lernt man dazu: Entweder, weil man heiratet und damit nicht glücklich wird, oder weil man nicht heiratet, und deshalb der ideale Ort ist, das Unglück einer Scheidung frei Haus geliefert zu bekommen. Zehn Jahre sind der Unterschied zwischen der Begeisterung über Hochzeitskleider und der Ironie über Schlager, die die beste Zeit des Lebens und nicht brechende Liebe versprechen. Zehn Jahre ist der Zeitraum, den man benötigt, um Jochzeitskleid nicht mehr als Tippfehler zu erachten. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. nicht bis zum Lebensende, aber oft genug zu lang. Passiert in den besten Familien, dass sich manche wie der Hamster im Mixer fühlen.

Geschiedene sind sexy.
Moderner Volksmund

Es ist zu früh für das bestimmte Gehupe dieser Tage, ausserdem fehlen die Äusserungen massiv alkoholisierter Freunde des Rowdytums, das sich am Vorwand des Fussballs entzündet und durch die Gassen der Stadt schlängelt. Gehupe ist letztlich nur Gehupe, die Fähigkeit sonst artikulationsschwacher Figuren, auf sich selbst aufmerksamer zu machen, als es ihrem Verdienst entspräche. Und während ich noch über die Parallelen zwischen ungestüm Mitteilsamen nonverbaler Unart nachdenke, ahnt der Besuch, dass es sich hier doch eher um eine Hochzeit handeln muss, und rennt zum vorderen Fenster, weil sie das Brautkleid sehen möchte. Sie hat eine Schwäche für Brautkleider und vieles, was das Tragen so eines Stoffarrangements notwenig macht. Ich, als höflicher Gastgeber, heuchle minimales Interesse, folge ihr und schaue hinab auf die Strasse, wo gerade ein geliehenes, weiss beblümtes Automobil in die Einfahrt des Nachbargebäudes abbiegt, und eifrige Helfer die dort bereits für den Montag Morgen postierten Mülleimer beiseite räumen.

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Die Helfer lassen für das Brautkleid nichts Gutes ahnen, sie tragen billig knitternde Polyesteranzüge in Grau, Frisuren, wie man sie wohl aus dem TV kennen könnte, wenn man ein solches Gerät hätte, und dazu weisse Turnschuhe. Die feine Nase der Besucherin zuckt vernehmlich, und zuckt wieder, als ein Wagen anhält und eine Frau in einem knallblauen Minikleid mässiger Passform entlässt, mit zu hohen Schuhen und unsicherem Gang. Langsam schwindet ihr Interesse an dem, was da noch an Tüll kommen mag, und ich denke zurück an jenes Paar, dessen weiblicher Teil im pinkfarbenen Minidirndl nebenan vor etlichen Wochen ein lautes Fest gab; die Atomisierung der Gesellschaft macht auch vor jenen engen Pforten des gewöhnlichen Lebens nicht halt, durch die jeder muss, solange er sich nicht gegen den gesellschaftlichen Druck für solches Tun wehrt und ansonsten schnell genug an einen unbekannten Ort verzieht, wenn das Kind unterwegs und die Verwandtschaft in nachgerade pakistnischer Einstellung in dieser Frage nicht Förderer des freien Willens ist.

Auf der anderen Seite ist nichts besser für Abschreckung von solchem Tun geeignet, als hässliche Hochzeitskleider mit entsprechenden “Party People”-Allüren, und ein Umfeld, dem man die mangelnde Erfahrung mit den unverzichtbaren Grundlagen gesellschaftlicher Empfangssituationen ansieht; in diesem Bereich, so sagt man, hat ebenfalls das Kuppelhandwerk im Fernsehen unstilbildend und umfassend gewirkt. Die Besucherin bekommt noch weitere Anlässe, mit der feinen Nase zu zucken, aber die Braut hat einen anderen Eingang genommen, und bleibt verborgen. Dann geht es los, die Marhall-Verstärker gehen bis zwölf und bleiben an bis Nachts um zwei, so dass die Besucherin schon fragt, ob ich ob der wuchernden Belustigungen nicht vielleicht doch die Polizei, oder so.

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Nun stammen die Besucherin und ich zwar in etwa aus der gleichen sozialen Schicht, nicht aber aus der gleichen Altersgruppe. Ich bin aufgrund meiner Sozialisierung in den Clubs der frühen 90er bis an die Schwerhörigkeitsgrenze lärmresistenter und entsprechend über 10 Jahre älter. Für mich sind Menschen, die ironiefrei am Fenster nach Brautkleidern Ausschau halten, eine eher ungewöhnliche Erfahrung, selbst wenn man in meiner Wohnung, zwischen Rokokokirche und Festsaal gelegen, dergleichen kaum entgehen kann. Ich und meine Altersgenossen, wir sind zu alt, um solchen Ereignissen noch Begeisterung entgegen zu bringen, dem Abnudeln der immer gleichen 80er-Jahre-Hits (Summer of 69 etc.)  oder Schlimmeres, wie etwa “Da sprach der alte Häuptling der Indianer”. Über 40 ist ein schlechtes Alter für solche Zeitvertreibe, man ist weder jung noch retroinfantil genug, um darob feuchte Augen zu bekommen, oder zu sehr an Nachhaltigkeit zu glauben, wenn im Überschwang der Gefühle vom Wachsen und Gedeihen die Rede ist.

Dafür kennt man zu viele schlechte Geschichten von denen, die partout versuchten, die durchwegs klassisch guten Ehen der Elterngeneration zu kopieren. Wenn die das können, kann man das auch, lautet die ebenso simple wie falsche Überlegung, die dann regelmässig wegen innerer Probleme und äusserer Alternativen die Anpassung an die gelebte Realität nicht übersteht. Die Hochzeiten werden prunkvoller, lauter, moderner, es werden echte Veranstaltungen in möglichst eindrucksvollen Umrahmungen; das Danach bleibt die übliche Normalität mit den üblichen Tücken und voller unerwarteter Wendungen. Man sagt, dass Unverheiratete im Schnitt schlechter gelaunt und unzufriedener sind; eine Einschätzung, die man besser nicht in Relation zu Geschiedenen setzen sollte, denn schlechte Laune, Kettenrauchen, und teure Ablenkungen, hier ein Ice Cube und dort drei Wochen Wellness “irgendwo wo man ihn keinesfalls sehen muss”, all das hat den Ursprung in der Unfähigkeit, in dieser Moderne ohne sozialen Druck ein ganzes Leben lang mit einem Anderen auszuhalten – oder zumindest so lange, bis angesichts schwindender Alternativen das Zusammenbleiben auch eine feine Sache ist.

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Es mag sein, dass das Singledasein in diesem bestimmten, nicht wirklich besten Alter der Nichtmehrjugendlichkeit mit den einsetzenden Gesundheitsproblemen nicht immer ideal ist, aber bis dahin hat man genug Einladungen zu Hochzeiten bekommen, deren weiteren Verlauf man nur zu gut kennt. Eine Braut mag etwas tragen, was schöner als das Kleid von AB ist, oder dem von CD ähnelt, die EF und GH erst geehelicht und dann wieder abgelegt haben. Man hat nicht nur zu viel Scheitern gesehen, sondern besonders das Elend davor: Das “es geht schon”, das “es ist alles in Ordnung, das “Wir lieben uns immer noch” – lauter Dinge, die in alten Lebensentwürfen nicht existierten, weil sie ohnehin wenig inneren Kitt für den Zusammenhalt brauchten. Wer heiraten will, denkt an das kommende Glück; wer nicht zwingend heiraten möchte, denkt eher an die Kosten/Nutzenrechnung und die Überlebenschancen solcher Beziehungen, die von “Garantiert bis zum Lebensende” in Richtung “Hamster im Mixer” absinken. Es ist nicht so, dass man keinen Partner mehr fände – man findet kein Vergnügen an der Vorstellung, das dem Gehupe Folgende zu erleben. Es macht nicht den Anschein, dass es angenehm ist, und die Musterbeispiele für die Ablehnung solcher Ansinnen sind zumeist jene, die früher die stärksten Vertreter solcher Lebensziele trauter Zweisamkeit waren.

Kommt in den besten Familien vor, kann man sagen. Unter uns, es gibt wenig, was nicht auch in den besten Familien vorkommt, aber es sind genau diese Vorkommnisse, die ab einem gewissen Erfahrungshorizont keinen idealistischen Blick auf den Vorgang selbst in seiner schönsten Fassung mit den besten Essen und den weinendsten Tanten zulassen. Vielmehr beschleicht einen der Verdacht, dass all die sich über Monate hinweg ziehendem Planungen mit Gäste- und Geschenkelisten, der Auswahl des passenden Hupmobils und all die kleinen Dramen um falsch fallende Locken und einen Schatten auf dem Schuh – wie kann man das jetzt noch ändern, da der Photograph schon da ist und alles vom ersten Moment an aufnimmt – dass all diese Nichtigkeiten eine ganz blendende Ablenkung von der Frage ist, ob man das alles wirklich will, kann und durchhält.

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Später in der Nacht wird nebenan aus vielen Kehlen etwas intoniert, das eher bedrohlich klingt, so laut und angetrunken kommt es daher, und die Besucherin macht sich in ihrem hübschen Kopf vermutlich so ihre Gedanken, wie sie dergleichen Aspekte ausschliesst, wenn es dereinst so weit sein sollte. Ich jedoch denke, dass jeder Lärm immer noch besser als das Schweigen der Gleichgültigkeit ist, das feine Leichentuch all der Beziehungen, die ein Ende der Unsicherheiten suchten und letztlich nur die Gewissheit finden, dass alles nicht mehr so ist, wie früher, vom Gehupe über schlecht sitzende Anzüge bis hin zur banalen Erkenntnis, dass man in der Moderne alles tun kann, und nichts, auch keine Ehe, wirklich im vollen Ernst durchstehen muss.