Et in Arcadia ego
Ich würde Ihnen an diesem Sommertage gern etwas zeigen. Natürlich, ich weiss, würden Sie lieber nach Italien fahren, und im Cabrio vielleicht die berühmten Villen venezianischer Landadliger rund um Vicenza erkunden, in der klassischen Grösse des Architekten Andrea Palladio schwelgen, dessen Bauten – und besonders die berühmte Rotunda – Vorbild für so viele Herrenhäuser in England wurden, wo es geradezu eine Mode des Palladianismus gab. Ich kann ihnen nur den bayerischen Jura anbieten, und das auch nur auf dem Radl.
Das Radl jedoch ist wenigstens offen und aus Italien wie ein, um nicht zu sagen mein gutes, mechanisch anfälliges Cabrio, und der Jura kann mit seinen sanften Kuppen hier und da vielleicht ein wenig an die Region um Vicenza erinnern, so wie das Donautal, in dem wir starten, an die Tristesse der Poebene erinnert. Es ist eine reizvolle Landschaft, die mit den Jurahäusern eine eigene Architektur hervorgebracht hat, und es ist dank meiner Heimatstadt inzwischen auch eine reiche Region: Nirgendwo gibt es weniger Arbeitslose, die Löhne sind üppig und die Zuversicht, die ist grenzenlos. Früher waren die Dörfer im Jura bitterarm und nagten an dem, was steinigen Böden unter Qualen abgerungen wurde. Heute arbeiten ihre Bewohner bei den Weltmarktführern der dummen, kleinen Stadt an der Donau, werden von Mietern zu Besitzern, und die Bauern, denen die Äcker gehören, die durch den steten Zuzug zu Bauland werden, verzweifeln an den langen Lieferzeiten ihrer S-Klasse und der Porsches für die Töchter. Das Elend dieser Dörfer stirbt nicht, aber es ändert sich. In einer Art und Weise, dass man heute durchradeln kann, ohne Armut zu erblicken.
Wir sind nicht allzu schnell unterwegs, und wir meiden die Bundesstrassen, wir nehmen kurvige Seitenwege, die früher nicht für Rennräder taugten. Aber hier ist man inzwischen so reich, dass auch die Feldwege asphaltiert werden. Vornehme Zurückhaltung ist nicht der Bayern Art, man zeigt gern, was man hat, und wenn man viel hat, zeigt man viel. Es wird ja viel über Gentrifizierung in Berlin und München gesprochen, über verdrängte Ureinwohner von Friedrichshain oder dem Glockenbachviertel. Gentrifizierung auf dem Dorf verdrängt nicht Bauern und Knechte, sie breitet sich um die Ortskerne aus, entwickelt einen Gürtel um den alten Siedlungskern, und erdrückt ihn dann: Hier eine neue Sparkasse in Stahl, die Raiffeisenbank will in Beton nicht zurückstehen, ein poststrukturalistischer Sozialanbau für das Rathäuschen, und in den Dorfladen kommt ein Friseur mit dem Namen “Hair by Hoberbauer”. Am Rande des nächsten Dorfes das nächste Neubaugebiet mit schnellem Anschluss an die Strasse zur Fabrik, und plötzlich liegt ein Hauch von Italien in der Luft, eine Ahnung von Palladio, denn dort steht, zwischen Feld, Wiese und Scheune, die neueste Errungenschaft des aufstrebenden Bürgertums:
Die neupalladianische Villa. Die neuestpalladianische Villa, wenn man so will, gerade fertiggestellt, der Garten fehlt noch, aber alles stimmt: Da ist der hervorspringende Mittelrisalit als auffälligstes Merkmal, idealtypisch unterteilt in eine Basis und die darüber stehenden Säulen, da ist die Symmetrie der Fensterachsen, wir sehen die eher für Italien typischen hochrechteckigen Fenster, wir bestaunen die an mediterranes Klima mit wenig Schnee erinnernden flachen Dächer, und letztlich auch die kubische Form, denn auch die Breitseiten sind so lang wie die Front. Palladio selbst konnte îm 16. Jahrhundert nur selten so frei seine Ideale verwirklichen, meistens musste er existierende Gebäude mit einbeziehen und Kompromisse schliessen. Später konnte man seine Gestaltungsideen natürlich radikaler umsetzen: Man betrachte nur das Treppenhaus von Schloss Pommersfelden, das als Inkunabel der deutschen Barockarchitektur Palladios Gestaltungsprinzipien in die Hirne bauwütiger Rokokofürsten schlug. Jeder wollte so einen Mittelrisalit mit Säulen an seiner Schlossanlage dran haben, den Palladio wiederum selbst aus den Fronten antiker Tempelanlagen übernommen und als Schaufront an die Villen geklebt hatte.
Selbst diese Verwendung einer antiken Schaufront hat Palladio, sagen wir mal, geborgt. Aber während die Entwürfe seiner Vorgänger wie Alberti oder Romano nur lokale Bedeutung hatten, verbreiten sich rasch Palladios Bücher über die Architektur, und werden zur Bibel nachfolgender Architektengenerationen. Die palladianische Villa war ursprünglich ein Landhaus für reiche Venezianer, die auf dem freien Land aller Welt das zeigen konnten, was ihnen in der Ende der Städte verwehrt war: Dass sie es geschafft hatten. Dass sie sich so einen Risadingsbums als grossen Bums am Haus leisten konnten, die Antike und ihre ideale zitierten, und Hauslehrer für ihre Kinder anstellten, die Latein konnten. Auch: Dass sie, dem geschäftigen Treiben in der Stadt entrückt, sich einige erholsame Monate auf dem Land inmitten ihrer Besitztümer leisten konnten. Mit Vorliebe setzte man sein Haus auf eine Hügelkuppe, damit es auch wirklich jeder sehen kann. Heute setzt man die Nachfolger grossbürgerlichen Bauwillens nah an die Strasse, wo man sie auch sehen kann. Früher entwarf man lange, pappelbesäumte Alleen zur tempelvorgeblendeten Liegenschaft. Heute hat man eine üppige Steinfläche vor der Garage. Es ist ein paar Nummern kleiner als in Vicenza, es würde 10 mal in das Treppenhaus von Pommersfelden passen, aber: Es ist die gleiche Idee. Und sie gehört heute – wieder – zu den beliebten Bauelementen, die man haben möchte, um, nun, was auch immer, also
Denn nicht immer ist es so total, so vollumfänglich geglückt wie im ersten Beispiel, Eine Strasse weiter sind die Risalite, die Tempelfronten aus der Mitte gerückt und zu Vordächern geworden, noch mit Säulen und italienisch rot gdeckten Dächern, auch noch mit den hohen, schmalen Fenstern und sogar mit einem baumbesäumten Zugang – aber es ist nicht mehr der unerbittliche Wille, Palladio oder einem Rokokofürsten nachzueifern. Die Dekore werden wieder zu dem, was sie sind, Zitate, Anhängsel, etwas unorganisch Drangeklebtes, das man herzeigen kann, ein Ornament, oder, um mit Adolf Loos zu sprechen: Ein Verbrechen. Ein uneingelöstes Versprechen eines Landhauses, denn dazu sitzt man zu nah an den Nachbarn, ein Traum von Italien, ein sehr kleiner Traum, aber immerhin ein Zeichen auch der inneren Einstellung, die man sich leisten kann. Und die, seien wir ehrlich, schon in manch früheren Zeiten, wie schon unter Palladio und anderen Freunden italienischer Opulenz, nicht wirklich geschmackssicher war, wie vieles, was hervorspringt und andere aufdringlich anspritzt.
Es liegt mir weltenfern, hier den Namen der Person zu nennen, die dergleichen einmal angesichts von Chromkapitellen an den Säulen eines Westvierteldomizils als “Arschgeweih für Häuser” bezeichnete, aber einen wahren Kern hat diese Verbalinjurie. So, wie die Bewohnerinnen des Hasenbergels, des Bundespräsidentenpalastes, Neuköllns und anderer wenig feiner Gegenden mit einem “Tribal” die Verbundenheit mit einem nicht existierenden Stamm jenseits ihres Umfeldes aufzeigen, wird auch hier Stammeszugehörigkeit vorgeführt. Man kann sich fragen, ob die Nähe der gebauten Selbstverwirklichung nun den Verfassern von Architekturbüchern gilt, den britischen Landadligen, den deutschen Rokokofürsten, den Geldsäcken aus Venedig, einem vielleicht zu Unrecht als Genie bezeichneten Architekten, der zu seiner Zeit nur einer unter vielen war, den Römern oder den Griechen oder gar einer wenig glaubhaft erfundenen, alteuropäischen Kulturlinie aus der Antike in die Gegenwart. Man kann aber, über Felder und Wiesen radelnd, in einem italienisch anmutenden Sonnenuntergang fast auf andere Gedanken kommen, denn es ist schön hier.
Würden im Weichbild des nächsten Dorfes nicht wieder Kräne ihr garstiges Haupt über die steinige Erde erheben, und von neuen palladianistischen Stilirrungen Kunde tun, mit leichter Hand und schwerem Gerät einer Erde aufgezwungen, die nie Vicenza sein wird, sondern nur der Jura an einem langsamen, braunen Fluss.