Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Gerated und für reich genug befunden

Gute Nachrichten! Die Ratingagenturen glauben, dass die Europäer jeden Cent des gigantischen Schuldenpakets stemmen können, das mit der Währungsrettung bald auf sie zukommt. Tolle Zeiten für Anleger! Rendite! Profit! Nur diejenigen, die das bezahlen werden, hat keiner gefragt. Nicht so gut für das Westviertel.

Das mag Euch wahrlich nicht behagen;
Ihr habt ein Recht, gesittet Pfui zu sagen.
Goethe, Faust I.

Wenn es in den Westvierteln Westdeutschlands eine gravierende Änderung in den letzten Jahren gegeben hat, dann ist es der erstaunliche Umstand, dass man über etwas redet, worüber man früher nicht geredet hat: Über Geld. Es ist ja nicht so, dass man nicht auch früher schon hätte beurteilen können, wie vermögend die Wohngegend ist, und ein gewisses Gefühl für Vermögensverhältnisse kann nicht ausbleiben, wenn man sich selbst als Vergleich verwenden kann. Aber die Finanzkrise – wir erinnern uns, jüngst mal wieder 40 Milliarden Garantien für die Hypo Real Estate – hat jede gewohnte Diskretion verschwinden lassen. Zwei Sommer lang konnte man in den Wohlstandsbecken darüber reden. Ausnahmsweise.

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Nun ist es aber so, dass der Mensch gerne Unerfreuliches vergisst, und eben jene Region, in der der Verfasser dieser Zeilen sein Dasein fristet, ist längst wieder oben auf: Vorbei die Zeiten, als man im Osten und anderen gniabiesligen* Niedergangsregionen hoffte, die Wirtschaftskrise werde uns nach Unten angleichen. Vergessen die Angst, dass es hier bald so aussehen könnte wie in Berlin, Wittenberg, Schkopau oder in der Hamburger Hafencity, wo heruntergekommene Anwälte mit Blick auf die marode Containerbranche und die Bauruine eines überambitionierten Stadttheaters in billigen Blocks hausen müssen. Hier muss ich meine Rennradstrecke** verlegen, weil die Bahnschranke zum grossen Firmengelände fast immer für Gütertransporte geschlossen ist. Hier stiegen die Mieten im letzten Jahr um 13%. Die beste Strategie zum Überleben der Finanzkrise war es, genau das zu tun, was die Hiesigen von allen Dingen am besten können: Bleiben, abwarten, nichts tun. Und bald auch wieder: Nicht mehr darüber reden.

Und so tue ich mich schwer, schlechte Meldungen als das zu erklären, was sie sind. Eigentlich ist es eine grosse Nachricht, die heute etwas untergegangen ist: Die drei grossen Ratingagenturen waren so nett, der als “Europäische Finanzmarktstabilisierungsfazilität” ESFS getarnten Eurorettung das Beste aller Ratings – AAA – zu geben. Man erinnert sich vielleicht, vor ein paar Monaten drohten Griechenland, Portugal, Irland und Spanien öffentlich pleite zu gehen, und über Nacht zauberten die Regierungschefs der EU ein ambitioniertes und 750 Milliarden teures Programm, um die Finanzmärkte von der Stabilität des Euros zu überzeugen. Nun wird diesem – es ist schwer, so eine Struktur in Worte zu fassen – Vehikel also zugesichert, dass man ruhigen Gewissens dort investieren und Geld verleihen kann. Die Ratingagenturen sehen keinerlei Gefahr, dass jemand Geld schuldig bleiben würde.

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Nun ist das, was gut für institutionelle Anleger ist, auf den ersten Blick auch gut für den Rettungsfond, denn er kann sich durch dieses Rating zu sehr niedrigen Zinsen Geld leihen. Auf den zweiten Blick sagt die Einschätzung der Ratingagenturen aber noch etwas anderes: Die Überzeugung, dass die Länder – und damit auch die Bürger – Europas ohne mit der Wimper zu zucken bereit sind, die Kosten des Pakets zu übernehmen, was immer auch da noch kommen mag. Die Bankenpleiten und das Staatsdefizit in Irland, der netterweise verschobene Stresstest für griechische Banken, 40% Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, fehlende Mehrheiten für Sparbeschlüsse in Madrid und Lissabon, das alles, so wetten die Finanzmärkte, sind nun nicht mehr die Probleme der einzelnen Staaten, sondern, wenn diese Staaten nicht mehr können oder wollen, ein Problem aller. Sagen die Ratingagenturen mit Blick auf die finanziellen Möglichkeiten und die Bereitschaft alles, bis auf den letzten Pfennig zu zahlen. Angesichts der Vermögensverhältnisse des Landes jedoch sind diese letzten Pfennige vor allem bei uns im Westviertel.

Gewissenlose Zyniker würden angesichts dieser Gemengelage nun sagen, die Vermögensverhältnisse des deutschen Westviertels seien damit im Zentrum des Anlegerinteresses, denn dort gedenke man sich jene Zinsen und Sicherheiten zu holen, die andernorts nicht zuverlässig bedient werden können. Es ist die Bonität eines Systems, dem die Bonität verloren gegangen ist, ein Rettungsanker nicht mehr der Bildung, die ihm von manchen ahnungslosen Kleinbürgern fälschlicherweise unterstellt wird, sondern der Forderungen, die man gegen sie hat, ohne dass sie dafür etwas erhalten hätten. Kurz: Das deutsche Westviertel findet sich gleichentrechtet neben allen anderen Bürgern am unteren Ende jener finanziellen Verwertungskette wieder, an deren Spitze es selbst zu stehen glaubte. Das hat nicht mehr viel mit jenen Versprechungen der Banken zu tun, die ihre geschätzten Kunden einluden, von ihrem Tun und Treiben zu profitieren.

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Das sind die Momente, in denen sich die Vermögenden und Privilegierten tatsächlich fragen müssten, ob ihre Vorteile nicht weitgehend eine schöne Illusion geworden sind, ein Schein, der gnädigerweise noch gewährt wird, solange man sie als systemrelevant einschätzt. Sie, wer sind diese sie, müsste man sich dann fragen, die Ratingagenturen, die institutionellen Investoren, die Banken, die Rettungsfonds in Luxemburg, die Politikberater, die Lobbyisten des Euro, die Osteuropäer, die in Brüssel mitentscheiden? Sicher nicht jedenfalls der Bundestagsabgeordnete oder gar der Landtagsrepräsentant, den man in der Konzertpause mal eben anhauen konnte. Das alles spielt sich weltenfern der Einflusssphären ab, die man früher wie selbstverständlich hatte, und die sich nicht fühlbar verkleinert haben. Aber die Globalisierung hat es geschafft, darüber neue Herrschaftsstrukturen zu errichten., die gar kein Interesse daran haben, sich ihre Entschlüsse vom Westviertel absegnen zu lassen.

Irgendwo zwischen dem äussersten Rand dieser immateriellen Sphäre und dem gesellschaftlichen Nichts von Wattenscheid müsste man sich verorten, wenn man sich darüber Gedanken machen würde. Immerhin kann man sich damit trösten, dass man noch das beste Rating hat, es könnte noch schlimmer sein und weiter nach unten gehen. Aber man ist nicht mehr oben, und auf die Frage, wie man wieder nach oben käme, gibt es auch keine zufriedenstellende Antwort – vielleicht abgesehen von schönen, neuen Illusionen einer bürgerlich-gebildeten Elite, an das das Land genesen sollte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Hohelied auf Scheinbildung und idealisierte Bürgertugenden gerade jetzt in den Talkshows von Nichtgehenwollern ausgestossen wird, wenn drei A der Ratingagenturen für die Rettung einer Währung den Restwert dieser Gruppe in der dominierenden Wirtschaftswelt vollumfänglich beschreiben, und alles andere, Dünkel, Bücherschränke, Abitur, soziales Engagement, Sonntagsgeschirr und Perserteppich als irrelevant ignorieren. Die drei A sind das Nützlichkeitsprinzip in praktischer Anwendung, und den Fondsverwalter, der sich dadurch 2012 auf Kosten aller seinen neuen Sportwagen scheinbar ohne Leistung wird leisten können, kann man weder abschieben noch abwählen.

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In gewisser Weise muss man ihm sogar noch dankbar sein, wenn er sein Vertrauen dem Euro und den Eurobesitzern schenkt – er könnte auch chinesische Schweinezüchter bevorzugen, ablaufende amerikanische Lebensversicherungen oder Terminkontrakte auf Getreide, die Zigtausende in der Dritten Welt in den Hunger stürzen. Es ist nur noch eine Möglichkeit unter vielen mit AAA, und das einzige andere Asset ist vielleicht noch die Züchtung von vorzeigbaren Töchtern, die man in solchen Positionen und in diesem Ausnahmefall nicht einfach aus Billigproduktion in Taiwan bestellen kann. Beste Bonität und Qualitätstöchter sichern vielleicht noch ein paar Jahrzehnte unseren Vorsprung. Das ist schon was, wenn man es mit Osteuropa vergleicht.

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*gniabieslig (bayr.): schlecht machend, also eine dem fremdenfreundlichen Bayern vollkommen fremdartige und unerklärliche Einstellung gegenüber Preussen, Hamburgern und anderen österreichischen Sachsenschwaben.

**schliesslich muss ich trainieren, um Ihnen am 10. Oktober in der gedruckten FAZ vom Beinahetod eines übergewichtigen und untergeübten Herren auf einem schrottreifen Rad und den Schotterpisten des Chiantitales zu berichten.