Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Sophies wilde Jagd

Es war einmal ein Wald, für den die kleine Wildsau Sophie, gerade erst von ihren Frischlingsstreifen befreit, ihren Zwinger verließ und den Schneeflocken nachjagte. Doch die Kälte kennt keine Gnade mit Freiheitsanfängern - ein Wintermärchen, ausnahmsweise mal als Stütze für die kalten Tage.

Nu’ gait dat rround seicht der S-patz und flöcht in de Ventilator

Zitat: meine Großmutter

 

Es war einmal des Nachts in einem ganz normalen Wald. Es war genau so ein gut gehegter, mitteldeutscher Mischwald, wie Du ihn aus dem Fernsehen kennst. Der große, runde Mond schien hell und leuchtete dabei so sehr, dass kein einziger Stern mehr am Himmel zu sehen war. Weißer Raureif zog sich winterweiß über die Bäume bis in die Spitzen der Tannennadeln klirrten die Kristalle und blitzten im weißen Licht. Die Tiere des Waldes waren auf den Kälteeinbruch mehr oder weniger gut vorbereitet. Der Dachs, zum Beispiel, hatte sich schon im Sommer den Sand Schaufel für Schaufel in seinen Bau geschleppt, damit er nun sorgfältig seine Einfahrt streuen konnte. Diese Tölpel, dachte er sich, als er die letzte Schaufel grobkörnigen Sand verteilte, die jetzt erst anfingen darüber nachzudenken, wie man sich also spontan noch gegen die Glätte wehren könnte. Schlange standen diese Idioten nun beim Biber und tauschten ihre gesparten Einlagen gegen simplen Sand. Keinen Sinn für Haushaltung hatten sie, diese einfältigen Wald-Mitbewohner. Ein eisiger Wind strich ihm über die Nase, schnell schleifte er sich in seinen Bau ein und verbaute den Eingang mit der letzten frischen Erde, die noch nicht steinhart gefroren war.

Bild zu: Sophies wilde Jagd

Der Wind nahm immer weiter zu, Schneewehen wirbelten in der Luft und die Kristalle an den Bäumen glitzerten im Mondlicht wie Diamanten. Alle Tiere hatten sich in ihr warmes Heim verzogen. Alle Tiere? Nein, nicht ganz. Eine kleine, dunkle Gestalt streunerte noch durch den Schnee, die tellerförmige Nase mal im Wind, mal auf dem Boden kleine Schneehaufen vor sich auftürmend. Welch ein Wunder, welch eine Pracht, freute sich die kleine Wildsau Sophie, als sie diese wunderliche Gegend durchstöberte. Wie gut, dachte sie sich, dass sie aus dem blöden Stall gelaufen war, wo sie sich nur in kleinen Kreisen bewegen konnte. Seit sie ihre Frischlingsstreifen verloren hatte, war ihr die Fläche doch arg klein geworden. Doch das Bauamt wollte es nicht erlauben, den Zwinger zu vergrößern, so wie es die Kinder dringend von ihren Eltern erflehten.

Doch dann, wie durch ein Wunder, hatte der Vater einfach so das Gittertor nicht wieder verriegelt, als er ihren Fressnapf noch einmal besonders voll gefüllt hatte. Vor lauter Aufregung hatte sie keinen Bissen runtergekriegt, sondern es nur vorgetäuscht, bis er im Haus wieder verschwunden war. Welch ein Glück hatte sie doch, dass er das Tor aufgelassen hatte, sonst hätte sie ja niemals dieses Wunder des Waldes erleben können und nun den Schneeflocken hinterher jagen können. Nur, ganz so dick waren ihre Borsten noch nicht, dass sie die Kälte nicht merken würde. Ihr Frischlingsflaum war auch schon ziemlich weit ausgedünnt und tatsächlich war sie im Moment weder Fisch noch Fleisch, wenn man das über eine Wildsau so sagen kann.

Bild zu: Sophies wilde Jagd

So kam es, dass sie, während sie den Boden unter den erfrorenen Blättern des Herbstes aufbrach, ihren Rüssel in einen Fuchsbau steckte. Wie sauber und elegant es hier roch. Doch davon nicht genug: warm war es auch. Das Leben war ein einziger Glücksfall. Bewundernd durchlief sie die hochherrschaftliche Einganghöhle und in dem zweiten Bau erblickte sie die feenartigen Füchsinnen, wie sie auf feiner Erde sich rekelten und mit zarter Zunge ihre üppigen Fuchsschwänze leckten. „Seid ihr schön“ sagte die kleine Wildsau Sophie. Doch keine nahm von ihr Notiz. „Sagt einmal, ihr lieben Füchsinnen, darf ich mich ein wenig bei Euch aufwärmen?“ Eine unterbrach ihre Kosmetik, um über Sophies Kopf hinweg die anderen zu fragen: „Wer, bitte, hat dieses zottelige Wesen eingelassen? Das Personal ist auch nicht mehr das, was es mal war.“ „Das Tor war offen”, erklärte sich Sophie schnell.

Dann mache sie es wieder zu, von außen. Schaue sie sich einmal an? Es gäbe schließlich Stilvorgaben. Beschämt blickte Sophie auf ihre stoppeligen Borsten und lief so schnell weg, wie sie nur konnte. Keinen Moment länger wollte sie es diesen anmutigen Fehen antun, ihren beschämenden Anblick weiter ertragen zu müssen. Wieder im Freien lief sie ziellos durch den Wald. Der Mond war mittlerweile hinter einer dicken Wolkenschicht verschwunden. Es hatte wieder zu schneien begonnen, die dunklen Fichten reckten sich wie Ungeheuer in die Höhe und Sophie gruselte sich sehr.

Bild zu: Sophies wilde Jagd

Hallo meine Kleine“ kam da eine tiefe Stimme aus der Dickung. „Wer hat dich denn noch nicht eingepackt und mit nach Hause genommen?“ Ein hundert Kilo schwerer Keiler streckte seinen Kopf aus der dicht an dicht wachsende Naturverjüngung. „Von Zuhause komm ich ja her. Aber jetzt ist es zu dunkel, ich wüsste nicht mal den Weg zurück, wenn ich gehen wollte.“  „Nein, durch den Wald im Dunkeln sollte so eine süße Überlaufer-Bache wie du nicht mehr alleine ziehen.“ „Ich bin noch kein Überläufer“ rief Sophie erstaunt. „Ich bin doch noch ein Frischling.“ „Umso besser“ grunzte der Keiler und fuhr mit seinem Lecker über seine dicken Waffen. „Komm doch zu mir, meine Kleine. Hier ist es warm und beschützt. Komm, ich habe ganz frische Eicheln für dich.“ Bei der Vorstellung, dem dicken, runzligen Bauch des Alten näher zu kommen, wurde ihr schlecht. „Danke, keinen Hunger.“ Sagte sie ihrer guten Kinderstube immer noch gerecht werdend und wandte sich zum Gehen.

 

Das passte dem alten Keiler gar nicht, behäbig versuchte er seine alten Glieder aufzurichten, schaffte es gerade so und stand nun in voller Statur vor ihr. Da nahm sie aber ihre vier Läufe unter den Arm und lief so schnell sie konnte. Hinterher kam er ihr nicht, nur die Flüche des schimpfenden Alten verfolgten sie noch. Dass nur er ihr Vorteile im Wald verschaffen könnte, dass ein dummes Wesen wie sie doch gefressen würde. Er würde dann im Frühling ihr Skelettiertes zusammen sammeln, sie würde schon sehen, was sie davon hatte. So ein geiler Keiler war doch etwas höchst unangenehmes, fand Sophie.

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Als sie glaubte, genügend Abstand zwischen sich und das Monster gebracht zu haben, verlangsamte sie ihren Schweinsgalopp, verfiel in den Trab und blieb bald ganz stehen. War sie an dieser dicken Eiche nicht schon einmal vorbei gekommen? Nicht dass sie immer und immer nur im Kreis liefe und dem Keiler wieder in die Arme. Es schüttelte sie. Der Frost legte auch noch nach und da stand sie nun und zitterte am ganzen Körper. Doch wie es so ist, wenn man glaubt, das Ende sei angekommen, passiert einmal noch das Nächste. Der kleinen Wildsau Sophie geschah es so, dass sie es ihr für einen Moment so vorkam, als klinge eine Art Melodie an ihre steif gewordenen Ohren.

 

Wie elektrisierte Schallwellen klang es durch den Wald und die Neugier trug ihre letzten Kräfte wieder zusammen. Wie von selbst zog es sie auf einen flach getrampelten Wildwechsel, auf dem es sich viel leichter lief, denn der tiefe Schnee und all das dornige Gewächs zerrten nicht mehr an ihr. Das Plingen und Wumsen wurde immer deutlicher ,und plötzlich stand sie am Rande einer verspiegelten Fläche ,auf der eine ganze Rotte Wildsauen rutschte und tobte. Immer wieder rumsten sie ihre schweren Körper aneinander und bumsten dann auf den zugefrorenen See, dass das Eis unter ihnen ächzte, stöhnte und krachte. Sie lachte. Ihr Haupt begann zu den fremdartigen Klängen an zu nicken, ihre Borsten an zu wippen.

 

Wie von einem fernen Steuer gelenkt, begann sie zu tanzen. Welch ein Glück, solche Klänge nur einmal hören zu dürfen. Zu den anderen zu gehen traute sie sich zwar nicht,  das waren ja schon richtige Überlaufer. Lieber blieb sie schüchtern wie sie nun mal war, am Rand und im Schatten versteckt und ließ die Schallwellen durch sich hindurch schießen. Und so tanzte sie nur für sich und liebte es. Sie tanzte und tanzte und merkte nicht, wie ihre Schalen sich schon nach oben bogen vor Kälte. Die Schneeflocken schmolzen auch nicht mehr auf ihrer erstarrten Schnauze, sondern türmten sich hoch auf, sodass sie kaum noch gucken konnte. Doch sie merkte es nicht. Nein, sie tanzte und tanzte dem Mond entgegen, der so hell sie umfing, wie sie noch nie zuvor ein Licht gesehen hatte. Hier wollte sie bleiben, für immer. Und wer nun genau aufgepasst hat, der mag sich über die unstete Witterung etwas wundern. Doch, wer weiß das nicht: über den Wolken scheint der Mond immer. Zumindest irgendwo. 

 

Und die Moral von der Geschicht`, Wärme teilt man oder eben nicht.