Verdammter Vogel, wirst du rückwärts tanzen?
Dante, Die göttliche Komödie I 22
Weisst Du, sagte die B. zu mir, es ist schon auffällig: Ein vor Überfremdung warnender Macho Berlusconi wird mit einer minderjährigen Einwanderin erwischt. Kohl mit seiner geistigmoralischen Wende kann nachlesen, was sein Sohn von der real existierenden Moral hält. Und jetzt erwischen sie auch noch den angeblich so anständigen Guttenberg mit einem Plagiat. Als würde sich jemand für Sünden passende Strafen ausdeken. Es ist nicht von der Hand zu weisen, möchte man hinzufügen: Als hätte das Schicksal genug von diesen Figuren, als bräche der Tag des jüngsten Gerichts an, als wäre Dante aus dem Grab gekommen, um seine Kreise des Fegefeuers und der Hölle im Diesseits fortzuschreiben.
Man kann im Übrigen der B. noch weniger als mir vorwerfen, dass sie etwas gegen konservative Lebensmodelle hat. Ihr Vater hatte strenge Prinzipien, so streng, dass er eine wenig zun ihm passende Frau sofort heiratete, als er erfuhr, dass sie mit der B. schwanger war. Seine Prinzipien waren so streng, dass B.s Geburt durch einen Aufenthalt in einer anderen Stadt vor allzu neugierigen Blicken vertuscht wurde, wodurch vorerst der Schein erhalten blieb, sie sei ehelich gezeugt worden. Ihr Vater wollte seinen Töchtern alle Prinzipien mitgeben, aber wenn es zu viel wurde, griff seine Frau zugunsten der Kinder nonchalant ein. Die Prinzipien ihres Vaters liessen nicht zu, dass er sich, als B. und ihre Schwester aus dem Haus waren, vielleicht doch eine Frau suchte, die besser zu ihm und seinen Prinzipien passte. Es wurde, alles in allem, zwischenzeitlich eine etwas schräge Familie mit überkorrektem Vater und fideler Mutter, aber heute hat sich alles wieder eingerenkt. Grossartige Töchter. Eine hochdotierte Zierde für den Heiratsmarkt.
Wie in jedem besseren Viertel gab es natürlich auch damals bei uns den ein oder anderen, der meinte, sich in die Erziehung anderer Leute einmischen zu müssen; mit guten Ratschlägen und leichten Stössen, mitunter gar mit recht unverblümten Ansagen, wenn etwas Schlimmeres passierte. Über den Vater der B. hörte man dergleichen nie; er begrenzte seine Prinzipien strikt auf seine Familie, und verzichtete auf jede Ratscherei. Ich vermute, dass es vielleicht etwas mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun hat; die Zeiten, als die Herkunft der B. dann allgemein bekannt wurde, waren keinesfalls mehr mit dem repressiven Klima der Vor-68er vergleichbar. Bezeichnenderweise stellte die B. bei ihren eigenen Beziehungen dann klar, dass es ohne Kinder keine Hochzeit und vor der Hochzeit keine Kinder geben würde – der Umstand, dass die Kinder dann ausblieben, ist letztlich nur Schicksal zuzuschreiben, aber keinerlei Absicht.
Mein Lebensentwurf war früher anders und ist auch anders geblieben; dass ich mich trotzdem mit der B. verstehe, liegt daran, dass sie zwar in vielen Punkten reaktionär ist, aber diese Haltung nur von sich selbst einfordert, bei anderen aber nachsichtig. Nachdem ich auch die drei Kinder ihrer kleinen Schwester erleben musste und zudem weiss, dass die B. nicht einmal die Versuchung empfindet, diese unverschämten Antiquitätenmörder und Katzenquäler ein paar Wochen in den Waschkeller zu sperren, möchte ich ihr diese gütige Zurückhaltung gerne glauben. Freunde aktiv-besserer Familienpoliik fand sie übrigens – im Gegensatz zu Kohl, dem Alptraum unserer Jugend, dem geschniegelten Guttenberg und dem unerträglichen Berlusconi – in vielen Punkten richtungsweisend: Gerade bei der Frage, ob jene, die es sich leisten könnten und gebildet sind, nicht mehr Kinder bekommen sollten. Sollten sie natürlich. Und immer schwingt da die Frage mit, warum ich mich dagegen so wehre.
Als hätte das Schicksal wirklich genug von diesen Figuren, stellt sich nun heraus, dass mitunter die Protagonisten dieser Haltung, auch auch sichere, unbeugsame, ehrliche, das ja wohl noch sagen dürfende, aufrechte, für Ideale kämpfende Säulen der Selbstvergewisserung vieler Konservativer nicht davon verschont bleiben, in ihrem Umfeld anwaltliche Vorkommnisse zu erleben, was insgesamt eher nicht den landläufigen Vorstellungen idealer Verhältnisse entspricht. Ich will mich hier gar nicht an jenen Spekulationen über die Lebensumstände von Personen beteiligen. Ich kenne diese Leute nicht und möchte ihnen auch nicht vorgestellt werden. Aber unzweifelhaft ist in der ganzen Kinder- und Elitenzuchtdebatte, dass die Ausformulierung von Idealvorstellungen keinesfalls alle Aspekte der Realität widergibt. Da wird bei konservativen Vorreitern Härte und Disziplin gefordert, und gleichzeitig verschwiegen, dass im gelebten Beispiel die Folgen absolut nicht Traumvorstellungen entsprechen müssen. Auch eine Art der Verleugnung.
In manchen Kreisen mag das vergleichsweise egal sein; wo man Kindern mit 15 die Alcopops nicht wegnimmt, und sich alle so verhalten, wie es die Zuchtanhänger gerne anderen unterstellen, mögen harte Brüche normal sein. Zumindest in meiner Welt jedoch gilt die Familie über jeden Kummer und Ärger hinaus als unverbrüchliche Schicksalsgemeinschaft, das Blut läuft zusammen, sagen wir in Bayern. Mitunter kam es auch hier zum Bruch zwischen Eltern und Kindern, aber niemand hätte nach einem grossen Problem gesagt, wie man ordentliche Familien macht. So etwas kann passieren, manche bringen sich um, andere landen in der Psychiatrie und bisweilen bleibt einem nur das Abschieben schwer Erziehbarer in ein Internat. Es ist vermutlich auch selten die Schuld eines Beteiligten allein; es sind die Höllenkreise, für die man Mitleid empfindet. Nach meiner Erfahrung zerreist sich darüber auch kaum jemand missgünstig das Maul, man würde sich, um es wieder auf bayerisch zu sagen, versündigen, würde man darin etwas anderes als eine Schicksalsschlag erkennen.
Aber auf dem Felde der Erziehungs- und Züchtungsdebatten erleiden nicht nur Familien Schicksalsschläge; es betrifft mehr noch jene scheinbar vorbildlichen Lebensmodelle, die einem ganzen Weltbild diesseits von Scheidung, Patchwork und bröckelnder Moral Sinn und Form gaben. Dass alles zeitgleich aufkommt und generationenübergreifend Mythen zu Staub zerfallen lässt, wirft die Frage auf, ob das Schicksal mit den Figuren auch gleich uns alle loswerden möchte, die Heuchler mit den Ehrlichen, die selbsternannten Leitbilder mit den vom Glauben Abgefallenen, in deren ironischem Lächeln immer auch ein klein wenig Bedauern mitschwingt. Hätten sie nur, wünscht man sich, den Mund gehalten, ein Vorbild, oder wenn es Probleme gibt, auch ein Bemühen angesichts des Versagens gelebt, ein stetig strebendes Bemühen, statt diese mit Feindbildern und Abgrenzungen angereichterten Scheinideale anderen aufzuschwatzen, im Wissen um die Verführbarkeit der Massen durch Worte wie Anstand, Vertrauen, Leistung, Haltung, Sicherheit und Disziplin.
Ich kenne die B. gut genug, um zu wissen, wie sie mir gegenüber reagieren wird, wenn sie von den Problemen seines Vordenkers in Erziehungsfragen erfährt. Deshalb, mein lieber Alphonso, würde sie sagen, ist es ja wichtig, dass wir Kinder bekommen: Damit es anständige Leute werden, weder bildungsfern noch heuchlerisch, weder apathisch noch verhetzend. Die B. würde ein Hohelied auf die Tugenden singen, die ihr Vater vorgelebt hat, und es ist eine tröstliche Vorstellung, dass nach dem Sturz der titanenhaften Götzen immer noch die eigene Erfahrung da ist, die feine Menschen schafft, wenn man Glück hat. Allein, ich sehe den Berlusconi, den Gaddafi und den Mubarak, die auch gegen das Andere, Fremde, Faule, Drogensüchtige und die Medien hetzten, ich sehe deren Vorstellungen von Eliten, Anstand und Moral, und darunter den Abgrund und den Feuerschein, der diese Menschen und alles, was ihnen auch nur entfernt ähnelt, erwarten wird. Vielleicht liegt die Rettung der Konservativen in eher zurückhaltenden Menschen wie der B. und ihrem Vater, vielleicht aber gehen wir auch einfach unter, und die neuen Guttenbergs, Kohls und andere haben bessere Ghostwriter, Parteispender und Anwälte.