Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Reiche Kinder in die Produktion

Angeblich soll Arbeit nicht schänden, und weil das so ist, schickten auch Besserverdienende ihre Kinder früher in die Fabriken, damit sie lernten, wie das Leben jenseits von Villen und Seelage aussehen kann. Es hat tatsächlich nicht geschadet, aber ob es genutzt hat, ist auch nicht bewiesen.

An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.
Marx/Engels, Das kommunistische Manifest

Es ist der Geruch von Gummi. Frisch in Reifenform gekochter Gummi, der noch nicht ausgelüftet ist, und durch riesige Hallen zieht. Man vergisst ihn nicht. Im Lauf des Tages gewöhnt man sich daran, aber – man muss es so sagen – es stinkt. Es setzt sich in den Kleidern fest. Es ist harmlos, kein Gift, nur eine Belästigung. Autofirmen riechen immer so. Der Ernst des Leben riecht so. Und seitdem die Autofabrik ein neues Auslieferungslager entlang meiner Trainingsstrecke gebaut hat, riecht auch ein Teil meiner Ausfahrt so. Heute tendieren bessere Eltern dazu, ihren Kindern den Ernst des Lebens über Folienhilfsschubserei beim Vorstandsassistenten vermitteln zu lassen, sie können gar nicht früh genug Erfahrungen mit dem Bürobetrieb und mit dem Erfolgsdruck sammeln. In meiner Jugend dagegen gehörte es noch zum guten Ton, die Kinder in die Produktion zu stecken und zu sagen, sie würden dort, im Gummigestank, den Ernst des Lebens kennenlernen.

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Natürlich stimmt das nicht ganz. Der Ernst des Lebens ist je nach Klasse, Abstammung und Wohnort so, wie er eben ist. Besteht er darin, dass man vor Schulbeginn im Sommer noch an den See radeln und eine Runde schwimmen kann, während andere vom Schulbus durch Käffer gerollt werden, und wieder andere ihr Frühstück selbst machen müssen, ist der See eben der Ernst des Lebens – einfach, weil es gerade keinen anderen Ernst gibt. In den besseren Vierteln meint man damit auch weniger das Leben dort, sondern mehr: Das Leben der anderen. Das Leben, von dem man weiss, dass es existiert, schliesslich ist Deutschland keine Ansammlung von Villenvierteln. Aber man baut natürlich keine Villa, um wie in einem Reihenhaus zu wohnen. Oder was es da bei der Fabrik in diesen Blocks sonst noch geben mag. Es erschien den Eltern dennoch als sinnvoll, den Nachwuchs während der grossen Ferien nicht an den See, sondern in die Fabrik zu schicken.

Mit etwas Glück erwischte man einen verregneten Sommer. Mit etwas Glück bekam man im Gummigeruch eine angenehme Aufgabe. Da gab es welche, die Tagein, Tagaus Blechteile stanzten oder das Kühlwasser in Fräsmaschinen wechselten. Auch das hat seinen eigenen, unangenehmen Geruch. Und es gab andere, die hoch oben auf der Fertigungsstrasse dafür zuständig waren, auf ein Lichtsignal zu warten, und dann in den Produktionsablauf einen Kasten für die Klimaanlage einzuführen. Das war zu meiner Zeit nur ein, zwei Mal in der Stunde der Fall. Es gab dort oben einen Stuhl, keinen Menschen in der Nähe, Akkordlohn und viel Zeit zum Lesen. Nie habe ich mehr gelesen als dort oben im Ernst des Lebens, Akkord arbeitend und recht gut verdienend. Man lernt in so einer Fabrik. Es gibt solche Arbeiten und solche. Es geht nie ganz gerecht zu, auf dieser Welt. Irgendwann ist es vorbei. Dann kann man wieder an den See, und andere Kollegen müssen in die Werkshallen.

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Das ist er also, der Ernst des Lebens. Nicht so, dass man es nicht aushalten würde, aber insgesamt schon so, dass es kein Dauerzustand sein solte. Vielleicht war dieser Fabrikaufenthalt eine vorbeugende Massnahme gegen das Schlappmachen beim Abitur, oder auch ein freundliches Stupsen hin zu einem späteren Studium in der Hoffnung, man würde die Alternativen des Berufslebens kennen und vermeiden lernen, und ja, keine Frage, das hat funktioniert. Zart besaitete Kinder besserer Familien mögen vielleicht sogar etwas wie Dankbarkeit empfunden haben, dass ihre Eltern ihnen ein Leben in Gummigeruch und Blockwohnung ersparten, in einer endlosen Produktion von Automobilen und Kollegen, deren Themen Motorsport, Fussball und TV-Programm sind. Andere lernten ein wenig für das Leben – ich etwa kann immer noch Gewinde schneiden und Rohre abdichten – zählten die Stunden und waren froh, als es vorbei war. Dann wieder an den See. Arbeit schändete nicht, und die meisten wurden von ihren Eltern auf die ein oder andere Art dazu angehalten. Danach ging es es mit dem Unernst des Lebens bruchlos weiter.

Man warf uns ja nicht in Verderben. Man versuchte nur, uns einen Eindruck zu vermitteln, wie es ist, wenn es nicht ist, wie es sein sollte. In einem Westviertel hat man, vom Personal einmal abgesehen, kaum Möglichkeiten, solche Erfahrungen zu machen. Und weil das Interesse der normalen Menschen auch eher das Verderben des lokalen Fussballvereins ist, und nicht die Klage über ihre Behausung, den mangelnden Zugang zum Konzertverein und die Begrenztheit der Lektüre, blieb man auch im Gummigeruch von tiefen, allzu tiefen Einblicken verschont. Man konnte ahnen, so es einen interessierte, aber man denkt dabei nicht viel. Man ist hier nur zu Gast, man geht, nimmt das Geld mit und kauft sich etwas Hübsches, einen Siebdruck von Rupprecht Geiger vielleicht, oder ein neues Rennrad, das Geld kann man natürlich behalten, als Belohnung für den verlorenen Sommer im Ernst des Lebens. Wie es wäre, das Geld für Versicherung, Miete, nicht familienfinanziertes Auto, generell Lebensunterhalt auszugeben, also gemeinhin das zu erdulden, was der Ernst des Lebens jenseits des Rohresägens auch noch bedeutet – das war dann schon nicht mehr vorgesehen. Das Rennrad war die Lücke im elterlichen Heildurcherfahrungsplan.

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Es bleibt der Geruch von Gummi, unvergesslich, jederzeit wieder die Erinnerung anregend, an einen Sommer, der keiner gewesen ist. Und die Frage, ob es etwas gebracht hat. Vermutlich eher nicht. Kaum jemand hätte gerne auf ein paar Jahre Studentenleben – damals noch vor allem Leben und weniger Studieren – verzichten wollen, auf die Gelegenheit, der Stadt zu entgehen und andere Lebensmodelle zu finden. Bandarbeit hat in der Gegenwart nicht mehr die frühkapitalistischen Schrecken, aber auch nicht gerade den Reiz eines erfüllten Daseins. Mit dem Netz einer Familie und dem doppelten Boden der gesicherten Finanzierung nimmt man das nicht wirklich ernst, aber immerhin: Man hat es einmal gesehen. Und mit angepackt. Man versteht danach vielleicht etwas, worüber man sich vorher keinen Gedanken gemacht hat: Dass auch Arbeiten mit der Hand ihren Anstand und ihre Würde haben. Man sieht nach unten, man macht sich die Hände schmutzig, man wäscht sich, und ein halbes Jahr später, in der Staatsoper, denkt man nicht mehr daran, dass es auch anders sein kann.

Es hat sicher niemanden dazu gebracht, das Abitur abzusagen und eine Metallerlehre anzufangen. Manche wurden trotz dieser Erfahrung reichlich aufgeblasene Menschenschinder, und andere, denen die 37 Stunden mit Haustarif so lang erschienen waren, arbeiteten sich in weitaus härteren Umfeldern in Anzug und Kostüm in eine Lebenskrise. Der Ernst des Lebens kam immer anders als in Overall und Gummigeruch daher, als Scheidungsanwalt und Steuerfahnder, als Wärter in Station 36 oder vielleicht auch mal gar nicht bei those happy few, die den Tag damit zubringen, nichts zu tun und darüber zu schreiben. Es war eine andere Welt, man hatte einen Einblick, und er war sicher lehrreicher als das, was man sieht, wenn die Arbeitswelt nur als Zahlenkolonne in der HR-Abteilung vorbeirauscht, in der bessere Eltern ihre Kinder heute auf dem Weg zum BWL-Master heute unterbringen. Dafür müssen die dann später auch bei jedem kleinen Rohrproblem den Klempner anrufen.

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Und so trennen sich dann wieder die Wege. Die einen arbeiten weiter und bauen Autos, die anderen gehen in die Zukunft, die teils vorbestimmt, teils gewünscht ist; manche werden bei der gleichen Firma später Manager, aber niemand macht sich wegen der anderen besondere Gedanken. Es sind vorübergehende Erscheinungen, man hat nichts miteinander zu tun, es dauert genau so lange wie der Gummigeruch an einem klebt, und dann ist es vorbei, die einen gehen in ihre Blocks und die anderen dorthin, wo der Bau solcher Objekte verboten ist. Vielleicht ist es auch eine Tradition, Peter der Grosse wollte Handwerk erlernen, und bayerische Herzöge hatten ein Faible für Drechselarbeiten, man probiert oben aus, wie das da unten sein mag, und lebt letztlich doch so, wie es sein soll. Funktioniert die Firma gut, bekommen auch die Arbeiter mehr Geld, und sie können die Blocks verlassen und die Dörfer im Umland zersiedeln. Manchmal, wenn ich ihnen auf dem Rennrad im Weg bin, hupen sie mich an. Dann treffen sich nochmal unsere Wege. Sollte es mit mir ganz schlimm kommen, könnte ich notfalls sogar wieder in die Firma. Aber es scheint, als bliebe alles so, wie es schon immer gewesen ist, und es dauert nur einen schnellen Antritt, bis der Geruch nach Gummi und alle, die darin bis zur Rente bleiben werden, in der Donauebene und im Vergessen zurückbleiben.