Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Putzen im Grossbürgerkanon 2: Kulturen anderer Klassen

Es wird gerade wortreich von Demoskopen beklagt, die Kulturen der Klassen entwickelten sich auseinander. Das ist mir noch gar nicht aufgefallen, ich dachte eigentlich, dass man reich ist, um eine andere Kultur als die anderen zu haben. Wenn die Demoskopen nun populistisch fordern, wir sollten uns da irgendwie annähern, kann ich nur sagen: Bitte, Demoskopen, nähert Euch nicht zu sehr an mich an.

Die Reichshauptstadt ist nun einmal das Zentrum des Landes; von hier aus gehen die Bewusstseinsströme ins ganze Volk hinein.
Joseph Goebbels, Propagandaminister

Also, bei mir ist das so: Wenn ich Allensbach höre, denke ich unwillkürlich Nölle-Neumann. Nach einem kurzen Schlenker zu Helmut Kohl gehen meine Gedanken zurück, weit zurück in die Zeit und stossen auf Namen wie Hitler oder Goebbels und dann erleichtert auf den Umstand, dass man nicht immer gleich vorgestellt werden muss, und man im Zweifelsfall auch den Raum hätte verlassen können, und dass dieses Verhalten sicher von allen Seiten als angenehme Lösung betrachtet worden wäre. Ich kann nicht anders, als Kind der alten Bundesrepublik ist das in mir festgeschrieben. Generell aber ist in einem Land, in dem die vermögende Schicht das Sagen hat, Demoskopie allenfalls eine nette Analyse dessen, was nicht zählt, und ich kenne auch niemanden, der sich ernsthaft hinstellen würde und sagen: “Also, die Demoskopie hat ja herausgefunden, dass…” Das kann ja sein, aber es ist so relevant wie Regen in Hamburg, der Untergang von Sylt und Hagel in Frankfurt, wenn man am Tegernsee ist. Manche tun so, als hätte uns das zu interessieren, was andere denken. Aber unser verpflichtender Kanon ist ohnehin schon zu voll. Man sollte das unbedingt streichen.

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Nun hat mich ein Leser darauf hingewiesen, dass dieses Allensbach-Institut eine Umfrage im Auftrag dieser Zeitung gemacht hat, und weil ich in Sterzing war und Apfelstrudel für die Versendung in notleidende Gebiete beschaffte – der Konditor in Frankfurt ist gerade im Urlaub am, Sie ahnen es, Tegernsee – und dann noch auf einen Berg stieg und beim Wilden Mann in Lans Essen gegangen bin und nach fünf überflogenen Pässen so angenehm matschig im Kopf war, dass ich vielleicht auch eine Minute Wagner ertragen hätte, las ich auch den dazu gehörenden Beitrag. Der mal wieder, wie es heute Mode ist, bevor man sich wieder wichtigen Themen wie dem Wetter zuwendet, die auseinander klaffende Schere zwischen Reich und Arm bzw. Mittelschicht beklagte, weil man eine Schicht der sozialen Verlierer produziere. Das gipfelte im Satz: Das Auseinanderdriften der sozialen Schichten ist keineswegs nur eine Frage der materiellen Ausstattung, sondern immer mehr auch der Entwicklung unterschiedlicher Kulturen.

Mal abgesehen davon, dass immer mehr die inhaltliche Konsistenz eines Kaugummis hat und genauso schlechter Stil ist, erstaunt mich die Behauptung angeblicher Entwicklungen unterschiedlicher Kulturen. Was hier angedeutet wird, ist die Illusion eines ehemals verbindenden kulturellen Gutes, einer Art Übereinkunft, eines kleinen gemeinsamen Nenners, auf den man sich klassenübergreifend geeinigt hatte, und der jetzt verloren geht, weil verschiedene Schichten verschiedene Inhalte und Medien konsumieren. Ich habe den leisen Verdacht, dass Demoskopen nicht vollumfänglich wissen, wie so eine Schicht funktioniert.

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Nehmen wir nur mal der Einfachheit halber den Tegernsee. Es gibt hier zwei Klassen von Menschen: Besitzende und nicht Besitzende. Die einen wohnen hier, die anderen nicht. Es ist heiß, das Wetter ist schön, also gehen die einen zum Strand, und die anderen kommen mit dem Auto oder dem Zug. Formal sieht es so aus, als gäbe es eine gemeinsame Kultur des am Wasser Verweilens, gemeinsame Interessen der Panoramabewunderung und das stets gleiche Entsetzen, dass der See nur 16 Grad kalt ist. Jeder möchte dennoch hier sein, und schwer zugeparkt sind die Strandbäder. Und obwohl wir alle scheinbar die gleichen Interessen haben, käme ich nie auch nur ansatzweise auf die Idee, zu einem mit dem Auto angereisten Münchner oder Ebersberger zu gehen und zu sagen: Schön, dass wir die gleiche Badekultur haben! Kommen Sie doch hoch zu meiner Terrasse und lassen Sie uns schauen, ob Sie auch die Kuchengabel richtig halten können. Die einfache und harte Wahrheit ist: Ich weiss nicht, ob diese Leute eine Gabel halten können, ich werde es auch nie wissen, denn ich werde sie nicht einladen.

Oder die Leute draussen auf dem See in ihren Booten. Da gibt es welche in weissen Segelschiffen des Yachtclubs und andere in aufblasbaren Gummibooten. Alle schätzen die Fortbewegugung auf dem Wasser, aber keine Yacht würde beim Schlauchboot anhalten und dessen Insassen aufgrund formal gleicher Interessen mitnehmen. Die Kultur mag ähnlich erscheinen, und es gibt mehr oder weniger zufällige Überschneidungen. Aber die Klassentrennung sorgt dafür, dass man vom Kulturbegriff des anderen erst Notiz nimmt, wenn er in den eigenen Kurs gerät und nicht schnell genug wegpaddelt.

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Es ist nicht so, dass man hier in diesem Gebiet vornehmlich vermögender Menschen nach Allensbach ignorant wäre. Vermutlich wissen die meisten, dass in anderen Regionen Rosstage und Leonhardifahrten nicht typisch sind, und keine blumengeschmückte Verkehrsinsel den Fahrer eines 3er BMWs vom Vorführen seiner Spoiler abhält. Andernorts weiss man vermutlich auch, dass in Regionen wie diesen bei der Bäckerei Plakate für Schlosskonzerte hängen, und eher nicht für Resterampen. Das Wissen um die Kultur der anderen ist vorhanden. Was fehlt, ist der Andere, und wenn er doch kommen sollte, hat man mit ihm nichts zu tun. Würde ich einen Fuss in den Reichshauptslum setzen, würde ich auch nicht erwarten, dass mir jemand seine angebissene Currywurst vor die Nase hält, solange es sich dabei nicht um einen Erpressungsversuch handeln sollte. Man kommt da nicht hinein. Vielleicht dürfte man nicht, vielleicht hätte man enorme Assimilationsprobleme, aber in aller Regel gibt es schlichtweg keinen Versuch, es zu tun. Wann etwa war der letzte Leser im Märkischen Viertel, um dort mit den Bewohnern über Architektur zu reden?

Es ist, wie schon erwähnt, Mode geworden, über die Klassengesellschaft und ihre oligarchische Ausformung zu schimpfen. Was man dabei betrachtet, sind die Unterschiede der Möglichkeiten, der finanziellen Ausstattung und der persönlichen Lebensumstände, und aus diesem Blickwinkel wird dann der Versuch unternommen, die Kultur zu erklären: Ihre Mittel, ihre Definitionen, ihre Moral, ihre Distinktion und Abgrenzung gegen andere. Mein privater Eindruck ist vielmehr der, dass man sich darüber keine Gedanken macht. Der Ebersberger kommt, aber er geht auch wieder, und nimmt hoffentlich seinen Abfall wieder mit. Sich über andere Klassen zu beklagen wäre, als würde man hier über das Wetter in Berlin schimpfen. Ich glaube noch nicht mal, dass wir von einer Koexistenz der Kulturen in eine Epoche übergehen, da die Kulturen nur noch ignorant nebeneinander her existieren. Das war eigentlich schon immer so. Es fällt nur gerade mehr auf, weil die Kultur der Oberschicht für die anderen keinerlei Orientierung mehr darstellt.

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Es kann sein, dass Paddler im Gummiboot gern eine Segelyacht hätten, aber das ist nur ein sichtbares Objekt einer Klassenzugehörigkeit. Was sie vermutlich eher nicht haben wollen würden, sind Segelclubvorstandsintrigen und längliche Debatten über Yachtmaster-Uhren. Es kann sein, dass mancher Ebersberger jetzt ein Stück Apfelstrudel aus Sterzing wünscht, aber vermutlich keine Geschichten über die Frage, welchem Teil der Familie man die rotgestickte Tischdecke verdankt, und wie die Ehe der Dame verlaufen ist, deren Initialen darauf stehen (so gut wie Nölle-Neumann Widerstandskämpferin war, aber das würde man so nicht erzählen). Es mag sein, dass man hier gern eine Wohnung hätte, aber das fette Weib mit der Blume im Haar bliebe nicht an der Wand, sondern könnte im Container dem Restmüll was von Rokokoportraits und französischen Einflüssen auf die Haarmode um 1770 erzählen. Man geht leider eher in die umgekehrte Richtung, indem jemand heute Polo auf Sylt spielt und morgen mit Teenagern über Facebook verkehrt, sich mit ACDC volkstümlich gibt oder beim Rosstag bäuerliche Sitten vortäuscht.

Einfacher ist es, in der eigenen Kultur einfach mitzutreiben, die Ansprüche – keine Sorge, das tut nicht weh – pro forma zu erfüllen, ab und zu ein wenig zu heucheln und immer die Vorteile mitzunehmen, wo sie sich bieten. Die Riten und Fetische der diversen Kulturen sich vermutlich alle gleich schwer oder leicht zu bedienen; ja ich denke sogar, dass das saubere Aufmalen eines esoterischen Wandtattoos weitaus mehr Präzision und Geschick verlangt, als das Einschlagen eines Nagels für ein Gemälde. Ich kann begründen, warum stilistische Unterschiede zwischen Gesicht und Blume im Haar auf eine grosse Malerwerkstatt hinweisen; andere werden vielleicht begründen können, warum der eine Auspuff am Motorrad kanonisch ist und der andere den Besitzer verachtenswert macht. Manche sagen, dass Kultur nur eine dünne Kruste ist; ich bin so etwas wie ein Kulturhistoriker. Ich halte die Kruste für eine Illusion, die Kultur für gehobene Menschen wohlfeil benutzbar macht.

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Dass niemand hier auch nur den Versuch macht, eine wie auch immer geartete kulturelle Hegemonie zu erringen, zeigt recht schön, wo wir angekommen sind: Klasse definiert sich dann über Geld, mit dessen Erringung man genug zu tun hat. Man hat keine Zeit, anderen etwas aufzudrücken, was über wertlose Parteiprogramme und Klientelbefriedigung hinausgeht. Man lässt sich in Ruhe. nur ab und zu kommt es zu rituellen Zumfrassvorwerfungen, wenn einer die Doktorarbeit abschreibt oder ein Techtelmechtel hat, das im 18, Jahrhundert keinen aufgeregt hätte. Vielleicht wird man eines Tages, um Plünderungen zuvor zu kommen, kostensparend TV-Geräte und bedruckte T-Shirts der niedrigen Kultur verschenken, so wie man meinesgleichen schon länger die hohe Kulturförderung schenkt. Ich möchte niemanden missionieren und bin auch ganz froh, wenn es bei mir keiner versucht. Ich habe schon eine Kultur, und die reicht mir. Es ist später auch kein Ebersberger mehr hier, der mir seine Vorstellung eintrichtern könnte. Die Bänke am See sind verlassen, die Boote dümpeln an den Ketten, und irgendwo macht jemand vielleicht ein Modell, um demoskopisch den Sinn zu erfassen.

Vielleicht gibt es keinen.