Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die beste Lösung des Unlösbaren

Im Folgenden ein Gastbeitrag der von mir höchst geschätzten Melanie Mühl aus der FAZ-Feuilleton-Redaktion. Ich habe sie lang bekniet, es doch auch einmal zu versuchen. Sie hat mit letztlich erhört und über harte Themen wie den Tod und Altern geschrieben, und ich hoffe, es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.

[Vorbemerkung des hier sonst schreibenden Bloggers: Würde so ein Thema passen, fragte mich Melanie Mühl, als sie mir den Gastbeitrag anbot, den ich schon immer von ihr haben wollte. Natürlich, sagte ich, und ich hätte es auch gesagt, wenn das vorgeschlagene Thema das karolingische Münzwesen oder die friesische Küche gewesen wäre. Ich erklärte mich natürlich auch bereit, die Bilder zu beschaffen, denn alte Menschen sind kein Problem am Tegernsee. So ging ich hinunter zur Mangfallbrücke, von wo aus man den besten Blick über den See hat. Dort ist eine kleine Birke und darunter eine Bank, und darauf sass eine alte Frau, allein, ganz am Rand. Weisse Hose, weisse Verbände an den Füssen, weisse Perlenkette, eine weisse Bluse mit lila Muster. Im gleichen Lila waren auch die Plastikteile der Krücken gehalten, die neben ihr lagen.

Dieses Bild habe ich nicht gemacht, es wäre hier obszön voyeristisch gewesen, egal, wie gut es gepasst hätte. Das Abschiessen und Verbraten hier im Blog hätte ihr nach meinem Empfinden die Würde genommen, und dass es die richtige Entscheidung war, wusste ich, als ich den nun folgenden Gastbeitrag von Melanie Mühl gelesen habe]

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Die Großmutter meiner Freundin sagte: ich will sterben. Sie lebte seit vier Jahren in einem Altersheim, ein Schlaganfall hatte sie dorthin gebracht, jetzt war die eine Körperhälfte gelähmt während die andere weiter funktionierte, als wäre nichts gewesen.

Das Heim ist schön, eine Straße schlängelt sich den Hügel hinauf, überall Bäume, durch die man einen Fluss sieht. Vor dem Zimmer breitet sich eine Terrasse mit Vogelhäuschen aus, in dem reichlich Futter liegt. Nur die Vögel fehlen.

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Das Heim ist auch eine totale Institution. Die Aufgabe der Institution besteht darin, eine Gruppe von Menschen zu managen, die der Soziologe Erving Goffman in seinem Buch „Asyle” als „Insassen” bezeichnet hat. Der Welt der Insassen steht die Welt des Aufsichtspersonals gegenüber und der Graben, der zwischen diesen Welten verläuft, ist ziemlich tief. „Jede der beiden Gruppen sieht die andere durch die Brille feindseliger Stereotypien. Das Personal hält die Insassen häufig für verbittert, verschlossen und wenig vertrauenswürdig, während die Insassen den Stab oft als herablassend, hochmütig und niederträchtig ansehen”, schreibt Goffman.   

Die Großmutter war nun ein Insasse. Das verminte Territorium konnte sie ohne fremde Hilfe nicht verlassen. Gleichzeitig war sie aber auch eine feine Dame. Sie saß stets perfekt frisiert in ihrem Rollstuhl, einen roten Pullunder über dem schmächtigen Körper, dazu eine Bundfaltenhose und um den Hals ihre Lieblingsperlenkette. Sie roch gut. „Alte Menschen müssen nicht schlecht riechen. Meine Großmutter roch wie früher, als ich noch ein Kind war: nach frisch gewaschener Wäsche”, sagt die Freundin. Aber ihr Blick war traurig. „Der Blick machte mich fertig”. Es war der Blick einer Frau, die fünfundsechzig Jahre lang alleine gelebt hatte, froh, selbstständig, frei – die Herr gewesen ist über ihren Geist und Körper und nun klingeln musste, wenn sie zur Toilette wollte. Manchmal kam jemand, und es passierte, dass ein Pfleger den sie nie zuvor gesehen hatte nachts vor ihrem Bett stand. Manchmal kam auch niemand.

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Die Freundin besuchte ihre Großmutter selten. Dabei hing sie an ihr auf eine kindliche, ehrliche, bedingungslose Art, wie man eben an seinen Großeltern hängt, deren Rolle, egal, wie alt man selbst ist, besonders und unantastbar bleibt. Man bringt ihnen jenen Respekt entgegen, den man den Eltern so oft verwehrt hatte. Die Gesetze, die während der Kindheit innerhalb der elterlichen Wände galten, galten bei den Großeltern nicht: man durfte abends lange aufbleiben, fernsehen, lesen bis in die Nacht hinein, riesige Kaugummiblasen platzen lassen, Unmengen an Plätzchenteig essen. Man durfte sein, wie man war, ohne Konsequenzen zu fürchten. Ganz gleich, was man anstellte, die Großeltern hielten zu einem und plädierten für Milde. Zudem kochen Großmütter besser als Mütter. Sie backen auch besser. Sie erzählen aufregendere Geschichten. Großeltern sind die heimlichen Eltern, zumindest in Kindertagen.

Die Freundin sagt, sie denke mit Wehmut an jene verschworene Gemeinschaft zurück, die zwar im Geiste weiter existiere, aber in der Realität nicht mehr gelebt werden könne. Der erwachsene Mensch muss sich selbst beschützen, vor wem oder was auch immer. Doch sobald wir unsere Großeltern besuchen, verwandeln wir uns in die Enkelkinder von damals. Die Freundin fragte ihre Großmutter wie früher: „Kochst du mir gefüllte Paprika?” „Backst Du mir Schnecken?”, „Gehen wir ins Leuzebad?” Als könne sie auf diese Weise das Gefühl ihrer Kindheit noch einmal heraufbeschwören. Das war, bevor die Großmutter ins Heim gekommen ist.

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Es gibt ein sehr schönes Buch von George Perec, es heißt „Träume sind Räume”, darin steht: „Ich möchte, dass es dauerhafte, unbewegliche, unantastbare, unberührte und fast unberührbare, unwandelbare, verwurzelte Orte gibt; Orte, die Empfehlungen wären, Ausgangspunkte, Quellen: meine Heimat.” Nach diesen Orten suchen wir ein Leben lang und finden sie doch nur in unseren Gedankenwelten. Die Freundin sagt: „Ich will das Bild von meiner Oma bewahren.” Sie hatte nur noch die eine und die Brutalität der Altersheimwirklichkeit beschädigte ihre Erinnerungen. Die Frau, die im Rollstuhl saß, hatte wenig mit der selbstbewussten, scharfsinnigen, warmen Großmutter zu tun, die sie kannte. Sie war tatsächlich ein Insasse, ein Häufchen Elend, todessehnsüchtig, unglücklich, dass es schmerzte. Ihr Leben hing lediglich noch in Form von Fotos an den Wänden, ansonsten war es verloren. Die Möbel, ein Großteil ihrer „Identitäts-Ausrüstung”, standen aus Platzgründen in der Wohnung der Freundin. Der Großmutter waren wenige Kleinigkeiten geblieben, zum Beispiel die Porzellanhunde oder jener Plastikweihnachtsbaum, der nur so hoch wie ein Buchrücken ist.

Das Essen im Heim wurde in Ostdeutschland gekocht, verpackt und dann in einem Lastwagen angekarrt. Häufig gab es Steckrüben, die so übel rochen, dass sich der Freundin der Magen umdrehte. Sie schmeckten auch scheußlich.

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Die Großmutter wartete auf den Tod. Das Warten auf den Tod zählt zu den Hauptbeschäftigungen in Altersheimen, weshalb man sie so ungern betritt. Es sind Sterbehäuser. Das Ende steht einem direkt vor Augen. Die Insassen vegetieren dahin, entsorgt wie defekte Geräte. Die Großmutter hatte objektiv betrachtet Glück: sie gehörte nicht zu den ausrangierten Menschen, sie bekam beinahe täglich Besuch, vom Sohn oder der Schwiegertochter. Sie war, wie man sagt, noch fit im Kopf, löste Kreuzworträtsel, kannte die Bundesligaergebnisse und wusste jedes Detail der Affäre Guttenberg. Das Heim zählte auch nicht zu jenen Anstalten, in denen sich Demenzkranke in Besenkammern verirren und sterben, weil ihr Fehlen niemand bemerkt hat. Trotzdem war die Großmutter untröstlich. Das Heim stahl ihr die Würde.

Die Freundin sagte: „aber es doch ganz schön hier. Du hast ein eigenes Zimmer. Es ist ruhig. Und dann der Blick auf den Fluss.” Sie wusste, das war blanker Hohn. Wie alle Insassen war ihre Großmutter dem Personal ausgeliefert, abhängig von dessen Zeit und Laune. Dieses Ausgeliefertsein ist deshalb so grausam, weil es am Ende die kleinen Irrtümer sind, die täglichen Erniedrigungen, die einen Menschen zerbrechen. Einmal wurde die Großmutter nach dem Baden mit Duschgel eingerieben, angezogen und in den Rollstuhl gesetzt wie ein Kind, das sich nicht wehren kann. Ihr Körper juckte, es interessierte niemanden. Ein anderes Mal sagte ein Pfleger: Stehen sie mal auf. Er hatte vergessen, dass sie halbseitig gelähmt war. Später schob er sie im Rollstuhl ungeschickt um die Ecke. Die Wunde an der rechten Hand war groß. Der Sohn tobte, als er am nächsten Tag kam, der Pfleger sagte: „so was passiert.” Irgendwann erklärte die Großmutter der Institution den Krieg und verweigerte häufig das Essen. Sie nahm ab, zehn Kilo, fünfzehn. Ihre Knochen schimmerten durch die weiße Haut. Mit der Zeit verschwand sie mehr und mehr in ihrem Rollstuhl, als wolle sie sich in Luft auflösen. Aber ihr Händedruck war warm und zart wie früher.

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Das Schrecklichste, sagt die Freundin, sei das Gehen gewesen, das Umarmen der Großmutter zum Abschied und dann das Schließen der Tür. Als verrate man einen geliebten Menschen. Der Verrat hat ein Ende. Ihre Großmutter ist tot.