Leeeeeporello! Pfrrrrhhja maijn Hörr! Was mampfst Du da?
Lorenzo da Ponte, Don Giovanni
Vorbemerkung: Auch vom Schicksal nur begrenzt vernachlässigte Italienexilierte müssen mitunter harte Entscheidungen treffen. Wie etwa diese: Gehe ich heute bei diesem Traumwetter noch einmal an den Gardasee an den Strand, bevor morgen die gewöhnlichen Münchner hier einfallen, oder schreibe ich an dieser Stelle wie üblich einen Beitrag über Themen, zu denen ich eigentlich mangels Wissen wenig sagen kann, was aber in den letzten Jahren auch keinen grundlegend gestört hat. Das Content Managment System ist immer hungrig und auf dem Weg an den See komme ich durch Vallegio, wo sie die grandiosen Vorspeisenteller machen – es kann nicht jeder Magen kann gestopft werden. Freundlicherweise jedoch hat sich die Dramaturgin Venezia Fröscher bereitgefunden, aus ihrem Erfahrungsschatz über die Musik aus der Zeit vor jener Epoche zu schreiben, die man gemeinhin als Klassik bezeichnet, womit alle zu ihrem Recht kommen – und ich zu meinem Vergnügen. Ich lausche den Wellen und Sie, liebe Leser, im virtuellen Theater der Alten Musik von Venezia:
„Die Alte Musik ist die Leidenschaft meines Lebens” – Dieses Bekenntnis des römischen Notensammlers Fortunato Santini könnte auch von mir stammen. Nur werde ich dafür meist verständnislos angesehen: Was hat eine junge Frau mit diesen eher ungewohnt klingenden Klamotten, lange vergessen und vergraben in Archiven und Schränken, zu schaffen? Altes und Altern ist in unserer Gesellschaft ja nicht zwangsläufig eine positive Errungenschaft. Viele beschenkt das Leben mit hoher Betagung, fast immer aber ereilen sie die Folgen der Falten und Gebrechen gegen einigen Widerstand. Wer ist schon freiwillig gerne alt? Die holde musica jedoch lässt sich völlig angstfrei zu den „Alten” zählen: Konzertreihen, die sich Forum Alte Musik nennen, Regalreihen mit Tonträgern, die mit eben jener Musik bestückt sind, und Zeitschriften, die sich ohne Umschweife concerto – Das Magazin für Alte Musik nennen. Zu allem Unverständnis lässt sich Alte Musik auch noch bereitwillig mit dem Altersvergleich ein. Ihr Pendant auf der anderen Seite der Entwicklung, die Neue Musik, lässt sie erst so richtig alt dastehen.
Ich bin der Alte, sogar im Alter. (Jean Paul)
In der Bibel eines jeden Musikologen, dem Lexikon mit dem maschinengewehrartigen Kürzel MGG, steht es geschrieben: Alte Musik sei die Musik der Vergangenheit. Was aber ist die Vergangenheit und welches Alter hat dadurch die Alte Musik? Es verhält sich bei ihr wie bei Frauen jenseits einer gewissen Altersgrenze, die nicht weiter erklärt werden muss: Das wahre Alter wird geflissentlich verschwiegen, und anstandshalber fragt man auch erst gar nicht danach. Das führt zwangsläufig zu wilden Spekulationen. Die Alte Musik hat man behelfsmäßig bis zum Tod Johann Sebastian Bachs angesiedelt. Das wäre dann bis 1750; somit wäre sie knapp 250 Jahre alt. Wäre demnach aber die Musik eines Mozarts oder Beethovens unter Neuer Musik zu subsumieren? Wie lässt sich dann allerdings die Musik des 20. Jahrhunderts bezeichnen? „Antimusik” käme vielen Musikhörern spontan über die Lippen, und das wäre noch die freundliche Version.
Ganz andere Horizonte eröffnen sich, wenn man Alte Musik nicht nach ihrem Alter fragt, sondern nach ihrem Charakter, ihren Eigenheiten und Ansprüchen, wie auch alte Menschen mitunter spezielle Anforderungen haben. Sie wird auf historischen Instrumenten, alt oder im alten Stil rekonstruiert, gespielt; die sogenannte historische Aufführungspraxis hilft ihr dabei. Sie versucht, die notierte Alte Musik auf den Instrumenten der Zeit in Klang umzusetzen, und das möglichst nach den Intentionen des Komponisten und zu den damaligen klangästhetischen Bedingungen. Diese Praxis fordert dazu auf, Musik aus einer lange verschwundenen Vergangenheit in unserer so gänzlich anders gearteten Gegenwart zu musizieren und zu hören. Für einige Hörer ist dieser Anspruch nicht zeitgemäßer Ballast. Für viele Hörer allerdings bringt die dermaßen entstehende Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bereichernde Erfahrung.
Alt werden heißt, ein neues Geschäft zu beginnen. (Johann Wolfgang von Goethe)
Meine Erleuchtung kam bei Vivaldis Vier Jahreszeiten in einer Einspielung mit Fabio Biondi und Europa Galante. Aufgewachsen war ich mit eine jener LPs, auf denen Karlheinz Böhm Kinder in die Welt der klassischen Musik entführt. Auch er hatte mich gepackt und nahm mich auf jene Vivaldische Musikreise durch die Jahreszeiten mit. Dort bahnten sich quirlige Flüsse durch eine Frühlingslandschaft. Böhm berichtete vom klirrend-kalten Winter. Aber bei dem angeblich zu hörenden Sommerunwetter konnte ich ihm nicht folgen. Wo waren bloß Donnergrollen, Regengüsse und Blitze von denen er sprach? Ich hörte nur wild-spielende Streichinstrumente. 20 Jahre später trat dann – nun bereits auf einer CD gebannt – Biondi und Konsorten in mein Leben. Plötzlich hörte ich es, das Unwetter, das sich am Sommerhimmel zusammenbraut und sich mit Blitz und Donner entlädt. Auf historischen Instrumenten klingt es schaurig-schön. Oder die unheimliche Komtur-Szene in Mozarts Don Giovanni. Mich lehren diese historischen Posaunen mit ihrer Naturton-Wildheit unter John Elliot Gardiner weitaus mehr das Fürchten, als die warmen Töne moderner Posaunen eines Furtwängler-Orchesters. Ob die Interpretation der Musiker dabei deckungsgleich ist mit der Intention des Komponisten mag dahingestellt sein. Aber es ist ein Versuch. Ein Versuch, den Klangkosmos zu erweitern, Unerhörtes zu präsentieren. Die Alte Musik auf ihren historischen Instrumenten bereicherte mir die Gegenwart. Sie eröffnete mir neue, ungeahnte Klangwelten und trotz ihres fortgeschrittenen Alters war sie mir ganz modern.
Aus Angst, ihre hegemoniale Stellung des Gebildet-Seins unterwandert zu sehen, trennte das Bildungsbürgertum kurzentschlossen das „Ernste” vom „Unterhaltenden”. Fortan gab es die Einteilung in Popular- bzw. Unterhaltungsmusik und die Kunstmusik. Mit diesem Konstrukt fanden sich Gruppen zusammen. Der Abonnent und Kunstliebhaber freute sich, zur Gruppe mit dem Prädikat „anspruchsvoll” zu gehören. Die Unterhaltungsmusikliebhaber schielten verachtend auf die Bildungsschnösel im Konzertsaal. Die Kluft zwischen U- und E-Musik wurde im 20. Jahrhundert größer. Je mehr das massenhafte Auftreten der ersteren das Bild von Musik in der Öffentlichkeit prägte, desto mehr beschwörten die Kritiker die hohe Tonkunst als einzig legitime Repräsentantin von Musik.
„Unbesonnenheit ist dem blühenden Alter, Einsicht dem Greisenalter eigentümlich.” (Cicero)
Beide Gruppen übersahen jedoch lange Zeit, dass dieses Konstrukt auf tönernen Füssen steht. Weder ist die „ernste” Musik, nur weil sie sich selbst dafür hält, von Vermarktungszusammenhängen und kommerziellen Ansprüchen frei. Noch ist sie davor gefeit, auf ihren Unterhaltungswert hin gehört zu werden. Umgekehrt reduzierten sich die populären Musikformen zu keiner Zeit auf den Tanzsaal oder auf ein rein unterhaltsames Musizieren. Ästhetische Ansprüche sind auch hier zu finden. Sei es die Entwicklung des populären Liedes zu einer poetisch-musikalischen Ausdrucksform wie im modernen Chanson oder seien es die Improvisationspraktiken des Jazz.
Die Alte Musik ist zwar nicht kulturkonservativ, sondern auf eine positive Art reaktionär. Sie macht gerade keinen Unterschied zwischen Kunst- und Gebrauchs- bzw. Popularmusik: Ob all die bekannten Kompositionen von Opern, Oratorien, Sinfonien und Kammermusik oder aber die folkloristische Musik – die historische Aufführungspraxis macht vor nichts halt. Sie nimmt alles mit, was ihr unter die notenlesenden Augen kommt. So gibt es Ensembles die sich auf die „ernste” Musik, auf Opern und Oratorien verlegt haben. Aber es gibt auch die, die sich auf ihren historischen Instrumenten oder Nachbauten der folkloristischen Musik widmen. Und das ohne Ängste zur Unterhaltungsmusik gezählt zu werden: Ein Jordi Savall, ein Marco Beasley oder eine Christina Pluhar; auch ein Countertenor wie Andreas Scholl. Er, der sonst ausschließlich aus der „Kunstmusik”-Sparte zu uns singt, widmet sich englischen Volksweisen. Das Ergebnis: Erfrischend, alle Sinne ansprechend und sehr unterhaltsam bei höchstem Kunstanspruch.
„Das Alter ist kein statisches Faktum; es ist Ende und Verlängerung eines Prozesses.” (Simone de Beauvoir)
Im Rahmen der Alten Musik ist es gerade nicht „verrückt”, wenn La Folia, eine der ältesten Melodien, im neuen/alten Klanggewand musiziert wird. Die bekannteste Kunst-Version dieser Melodie begegnet uns mit den Variationen in Arcangelo Corellis Violin-Sonate. Bei einem Ensemble für Alte Musik, wie Christina Pluhars L’Arpeggiata, kommt einem eine besondere Version zu Ohren. Ohne Umschweife trifft hier „ernste” Kunstmusik auf die vermeidlich unterhaltende Jazzmusik. Klarinettist Gianluigi Trovesi, der unüberhörbar im Jazz zu hause ist, gibt der Folia seine ganz eigene Note. Erinnert nicht diese Klarinette auch an die jüdische Klezmermusik? Oder die Bergamasque Turlurù, ein Volkslied aus dem 16. Jahrhundert: Hier begegnen einem Improvisationselemente aus dem Jazz. Bei den Interpretationen italienischer Kanzonetten eines Marco Beasleys kommt pure italienische Lebensfreude auf. Wen interessiert dabei noch, ob es sich nun um ernste oder populäre Musik handelt? Es ist mit der Alten Musik und ihren Spielarten, wie die Sopranistin Lucilla Galeazzi in ihrer Kanzone verkündet: „Voglio una casa … per farci musica matina e sera“. Von einem Haus, in dem von morgens bis abends Musik erklingt, träume auch ich.