Irgendeine Tugend muss man haben. Das gehört sich so. Ich habe mir die Tugend des Antialkoholismus herausgesucht, weil ich Alkohol ohnehin nicht mag und gerne Betrunkene diskriminiere. Die Entscheidung gegen den Alkohol habe ich lange vor diesem Blog getroffen, das sich mit Kreisen auseinandersetzt, bei denen der üppige Weinkeller zum guten Ton gehört. Da kann ich nicht mitreden. Nachdem hier aber öfters der Wunsch nach einem Weinbeitrag aufkam, habe ich den allseits geachteteten Weinblogger Christoph Raffelt von originalverkorkt gebeten, darüber zu berichten.
Ernte zählt für mich zu den Begriffen, die im Leben vieler keinen konkreten Inhalt mehr besitzen. Häufig sagt man reiche Ernte und meint damit, dass man endlich die Früchte seines Engagements in Händen hält, sie als Abzeichen am Revers tragen darf, oder dass der Erlös als schwarze Zahl mit großem Plus auf dem Kontoauszug erscheint.
Was jedoch draußen um diese Jahreszeit geschieht, nehmen die wenigsten von uns noch wahr. Die Zeiten haben sich so rapide geändert, dass das, was früher – und das ist erst wenige Jahrzehnte her – eine der wichtigsten Phasen im Verlauf des Jahres war, heute so selbstverständlich stattfindet, dass es für das Gros der Zeitgenossen bedeutungslos sein dürfte.
Seit Wochen wird geerntet, die Getreidefelder sind längst Stoppeläcker, man könnte mit den Kindern rausgehen und Drachen steigen lassen, doch ich habe keine gesehen. Das kommt wohl höchstens noch an der Nordsee vor, und in alten Kinderliedern. Der Mais wird geschnitten und gehäckselt von durchgestylten Landmaschinen, die aussehen wie riesige Käfer mit großen Fühlern. Frische Äpfel und Birnen sind käuflich zu erwerben und ersetzen das Überseeangebot und auch die Zuckerrübe wird eingefahren. Die Rübe gehört zu jenen Feldfrüchten, die eng mit den Erntezeiten meiner Kindheit verbunden sind. Damals rauschten die Trecker zu Dutzenden durchs Dorf, Kolonnen mit voll beladenen Hängern – man nennt es Zuckerrüben-Kampagne – auf dem Weg zur Fabrik. Wenn der Wind günstig stand (oder ungünstig, das ist natürlich eine Frage des Standpunktes), konnte man die Rüben sogar riechen, auch wenn die Rübenfabrik einige Kilometer entfernt stand. Das, was später als Kölner Zucker mit den beiden an die Domtürme erinnernden blau-weißen Zuckerhüten in den Regalen stehen würde, wurde nicht allzu weit entfernt gewaschen und gekocht, und der Geruch war schwer, fast penetrant süßlich und erdig mit einem Hauch von Karamell.
Als Kinder sind wir damals über die schon abgeernteten Felder gestreift und haben uns Rübenstücke eingepackt, um sie zu Hause selber zu kochen und zu essen, oft mit zweifelhaftem Ergebnis. Viel schmackhafter war es damals wie heute, ein Brot mit Zuckerrübensirup zu bestreichen. Dabei kommt das beste Rübenkraut allerdings nicht aus dem Zentrum der Rübenverarbeitung, dem Rheinland, das beste Krütt, wie man dort sagt, kommt immer noch aus meiner niederrheinischen Heimatstadt. Nirgendwo sonst bilden sich so schöne Zuckerkristalle wie in diesem sämigen, von Hand gemachten Sirup, und wie damals schmiere ich mir das auch heute noch auf Pfann- oder Reibekuchen, bevorzugt aber auf Rosinenbrot, mit frischem Gouda belegt. Da mögen zivilisiertere deutsche Stämme mitleidig den Kopf schütteln ob der geschmacklichen Kauzigkeit des Flachländers, ich weiche nicht davon ab.
Auch wenn das flache Land für seine kulinarischen Köstlichkeiten nicht weiter berühmt ist, finden sich doch ein paar Spezialitäten, die Erwähnung finden dürfen: Spargel zum Beispiel, aber darüber will ich mich hier nicht weiter auslassen, dessen Ernte ist längst passé. Doch mein bevorzugter Spargelbauer, dessen Kartoffeln ich ebenso gerne erwerbe wie sein Möhren, hat einen kleinen Hofladen, und weil er, ähnlich wie ich, die mit Sorgfalt und Liebe zur Natur erzeugten Produkte mag, findet sich hier nicht nur oben erwähntes Rübenkraut wieder, sondern ebenso eine Auswahl von am Niederrhein erzeugten Säften, deren Früchte man ebenfalls nicht allzu häufig findet. Apfelsaft beispielsweise, sortenrein ausgebaut, ist selten. Auch andere eher nicht allzu häufig anzutreffenden Früchte wandern in die Flasche, der Saft der Konstantinopler Apfelquitte beispielsweise. Er schmeckt ausgezeichnet und ich hätte kein Problem, dem Don ein Glas als Weinersatz anzubieten. Bei mir aber wandert eine Flasche Sternrenette in den Einkaufsorb.
Es ist einer meiner Lieblingsäpfel, nicht zuletzt, weil meine Großmutter einige Bäume in ihrem Obstgarten stehen hatte und diesen Apfel dann als Weihnachts- oder Winterapfel eingelagert hatte. Wenn wir sie besuchten, durften wir in den Keller gehen und uns eine Renette aus dem Holzregal nehmen. In dem Regal standen ferner Weckgläser mit Eingemachtem: Pfirsiche, Schnibbelbohnen, Pflaumen. Wenn ich heute in eine Sternrenette beisse, tauchen diese Bilder in Proust’scher Manier wieder vor meinem geistigen Auge auf und ebenso die Gerüche. Doch all dies ist lediglich in Gedanken konserviert. Die Weckgläser sind längst verschwunden, und der Garten wurde ebenso wie die alte Streuobstwiese mit Doppelhaushälften bebaut.
Der Sternrenettensaft symbolisiert für mich bereits eine reiche Ernte in flüssiger Form, doch ich möchte noch mehr. Was ich suche, ist die Essenz, und da ich mich, was die Ernte angeht, viel häufiger mit Wein beschäftige als mit anderen Lebens- oder Genussmitteln, stehe ich unterhalb des Drachenfels, früher bevorzugtes Ausflugsziel des Flachländers, nicht selten als Hollands höchste Erhebung bezeichnet, und ich befinde mich dort, wo der deutsche Weinbau beginnt. In Wahrheit beginnt er in einem anderen Ortsteil Königswinters, nämlich in Oberdollendorf, und ist ursprünglich von Mönchen und Lakaien der Abtei Heisterbach angelegt worden, einer Abtei, deren Kirchenschiff als perfekte romantische Ruine einem Bild von Caspar David Friedrich entsprungen sein könnte. Der Weinberg mit Blick auf Bonn jedenfalls ist heutzutage der nördlichste Ausläufer des Weinbaugebietes Mittelrhein, welches früher bis in die Vorgärten Kölns reichte, wobei ich nicht wissen möchte, wie sauer dieser Wein gewesen sein muss und wie stark er nachgezuckert wurde – möglicherweise mit dem oben erwähntem rheinländischen Rübenzucker.
Auch wenn der sichtbare Teil des Weinbergs bereits abgeerntet ist, wird die Lese zumindest für jene Trauben, aus denen später der bessere Wein entstehen soll, erst in den nächsten Tagen beginnen. Die Trauben, die für die Spätlesen oder Auslesen vorgesehen sind, kommen häufig erst im November in die Kelter, wenn sie so reif und so süß sind, dass man sie in großen Mengen vom Rebstock klauben und direkt verspeisen möchte, und es einem als viel zu schade vorkommt, als eine Verschwendung gar, sie zu pressen und zu vergären.
Natürlich, es muss keine Rhöndorfer oder Königswinterer Spätlese sein, das gebe ich zu, auch wenn die Qualität dieser wie die der meisten anderen deutschen Weine in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Um jedoch einen Wein zu finden, den ich den Lesern kredenzen würde, ist es hier in Königswinter noch zu kalt, da muss ich einige Kilometer weiter den Rhein hoch fahren nach Spay. Dort befinde ich mich dann zwar immer noch im gleichen Weinbaugebiet, nämlich dem des Mittelrheins, aber die Weine wachsen an einem der wärmsten Gebiete Deutschlands. Das wissen die Winzer genauso wie die Niederrheiner und die Holländer, die hier am Ufer des Flusses schon vor Jahrzehnten in Scharen eingefallen sind und nun ihre Campingwagen dort parken. In diesem engen Tal, das zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, ist das ein Kontrast, an den man sich nicht gewöhnen kann. Geschichte gibt es zur Genüge: eine große Zahl von Burgruinen wie auch die einzige nie zerstörte Burg am Mittelrhein, die Marksburg, gegenüber von Spay, meinem Ziel.
In diesem engen Rheintal drängen sich Ort, Eisenbahn, Schnellstraße und Campingplatz -und gerade die Camper haben sich gezielt die schönsten Plätze ausgesucht. Heute wären die Gemeinden die Campingplätze gerne wieder los, es gäbe lukrativere Möglichkeiten, die Standorte zu vermarkten, und auch die Hochglanzprospekte sähen wohl netter aus ohne diese Ansammlung an fahrbaren Schrankwänden. Doch damit müssen sie erst einmal weiterleben und ich will ja eigentlich auch hoch in die Hänge.
Die Geschichte des Weinbaus reicht hier so weit zurück wie die erste urkundliche Erwähnung der Stadt Boppard – zehn Kilometer südlich von Spay – aus dem Jahr 643. Der Hang, dessen Name Hamm sich vom lateinischen hamus, dt. Haken, ableitet und mit sieben Kilometern den längsten Bogen zwischen Quelle und Mündung des Flusses zieht, bietet alle Voraussetzungen für guten Wein. Weit erstreckt er sich in Südlage, geschützt vor allzu starken Nord- und Westwinden, mit speziell für Riesling geeigneten Böden verschiedener schiefriger Verwitterungsgesteine. Früher in kleinteilige Terrassen zerlegt wurde der Hamm, wie viele andere Lagen in den Siebzigern auch, flurbereinigt und somit seiner Geschichte beraubt. Lediglich der nach Spay hin gelegene Teil, Engelstein genannt, der den Winzern aus Spay und nicht jenen aus Boppard gehörte, wurde belassen. Heute sind es vor allem genau diese Winzer, die die besten Weine machen und die Klasse dieser Lagen wieder unter Beweis stellen.
Wer durch den Hang streift, sieht direkt, wie viel Arbeit hier hinter einer Flasche Wein steht. Arbeit, die nicht von Maschinen geleistet werden kann. Bodenbearbeitung, Laubpflege, Ausdünnung, Pflanzenschutz und Ernte, das meiste wird von Hand erledigt. Vieles hier ist also Manufaktur. Das ist noch etwa so, wie ich mir die Entstehung einer Flasche Wein vorstelle. Es ist zugegebenermaßen ein romantisches Idealbild in dieser ebenso romantischen Landschaft – wären da nicht Bahn, Autostraße, Campingwagen.
An dem Tag, als ich den Winzer treffe, dessen Wein ich suche, um ihn den Lesern dieses Artikels quasi unter die Nase zu halten, werden gerade die letzten Stöcke abgelesen. Gute zwei Wochen früher als sonst wandern die von Botrytis rosinierten Beeren in den Korb, und bilden die diesjährige konzentrierte Qualität des Rieslings aus dem Bopparder Hamm. Sollte der Wein so gut werden wie im letzten Jahr, dann könnte ein Kritiker ihn als groß bezeichnen und von getrocknet-kräutrigem Duft sprechen, voll kandiertem und eingewecktem Steinobst und deutlicher Mineralik, von sehr süßer, saftiger Frucht wäre die Rede und von präsenter, lebhafter Säure mit langem Nachhall. Doch so weit ist es noch nicht. Zunächst wird noch gelesen, und wenn bei Kabinettweinen und Spätlese je nach Wetter bei den aus dem Ort stammenden Erntehelfern noch Eile geboten war, ist es hier viel wichtiger, die Qualität der verschrumpelten Beeren noch am Rebstock zu erkennen und die Richtigen zu pflücken. Dafür bedarf es einiger Erfahrung und das Aussortieren der schlechten Beeren ist entscheidend; denn – so steht es schon in alten Weinfachbüchern – „es ist leichter, mit wenigen schlechten Beeren guten Wein zu verschandeln als mit vielen guten Beeren einen schlechten Wein zu verbessern”.
Es dauert im Zweifel einen halben Vormittag, um das Drittel einer Kiste mit passendem Traubengut zu füllen. Es bedarf dann noch der Erfahrung und der Leidenschaft eines guten Winzers, um daraus einen ungewöhnlichen Wein zu machen. Im Mittelrheintal – und das ist der Grund, warum ich es ausgesucht habe – kann ich mir eine solche Flasche großen Weines noch leisten. An fast allen anderen Orten liegen große, süße Weine in kleinen Flaschen in preislichen Sphären, die für den normalen Weinkonsumenten kaum noch erreichbar sind. Das merkt man schon, wenn man weiter flussaufwärts in den Rheingau gelangt. Hier in Spay jedoch bleibt der Winzer, auch wenn er einer der Besten im Land ist, noch bewusst bodenständig, auch wenn es ihm manchmal seltsam vorkommt, bei Wettbewerben mit seinen günstigen Weinen als Preisträger zwischen die großen Namen zu geraten „wie ein guter Handwerker aus der Provinz mit seiner fein gearbeiteten Ledertasche zwischen die Exponate von Hermès oder Louis Vuitton.” Seine Haltung finde ich in bestem Sinne menschenfreundlich und bewundernswert. Die Preisgestaltung ist seine freie Entscheidung. Er ist zufrieden damit und ich auch; denn ich kann am Ergebnis seiner Arbeit teilhaben, ohne mich verbiegen zu müssen.
Was sich in seiner Trockenbeerenauslese offenbart, ist der gesamte Verlauf eines Sommers bis in den Herbst hinein. Dazu muss man den Wein nicht einmal probieren – auch wenn es eine echte Schande ist, dies nicht zu tun – denn die ganze konzentrierte Frucht, die Kräuter, der Boden, die Süße und Lebendigkeit könnte man ebenso inhalieren. Das ist die Essenz der Ernte. Sie strahlt das aus, was ich suche: das Glück, dass die Natur es gut mit einem gemeint hat – reifes, gesundes Erntegut, für das die Arbeiter im Weinberg das ganze Jahr über den Rücken gekrümmt haben, und die Erfahrung und die Leidenschaft des Winzers. Mehr ist nicht nötig, aber auch keineswegs weniger.