Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der Tod ist kein Schweizer für Deutschland

Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod kann jederzeit in der Schweiz in Erfüllung gehen. Geblieben sind zum Glück die gesellschaftlichen Komplikationen, die man den Nachfahren nicht antun kann.

Um 2 Uhr fuhr er fort, um 3 Uhr war er dort.

Das Thema ist schwierig, weil: Niemand stirbt gern. Ausser ziemlich viele. Es kommt halt auf die Umstände an.

„Wenn ich nur sterben könnte“ ist ein Spruch, den man zu seinen Lebzeiten in meinem Umfeld immer wieder mal hören kann, namentlich von eher fatalistisch eingestellten und zumeist weiblichen Angehörigen meiner Kreise. Die nettere Version, weniger als Klage denn als leicht Unzufriedenheit formuliert, klingt so: „Bei der Gelegenheit hätte ich doch so schön sterben können!“ In beiden Fällen lag der Verdacht nah, dass hier von Seiten des Zuhörers nun ein „Um Himmels Willen, da muss man sich ja Sünden fürchten, wo denkst Du hin, ja nie nicht., ich bin ja da und geh gleich zum Listl und den Eierlikör schmuggle ich auch rein“ erschallen sollte. Es gibt in der Jugend den Selbstmordversuch, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Im Alter ist das Verlangen immer noch da, und aufgrund der Einsamkeit auch stärker, aber: Man weiss es nicht genau, was es nun ist. Ernst? Oder nur Unzufriedenheit mit dem Dasein?

 

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Es könnte ja doch sein, dass jemand wirklich sterben will. Und Frauen können nichts dafür, dass sie sich diese Frage oft allein stellen müssen; Männer sind da halt so, wie sie nun eben sind, sie reden da nicht lange rum, sie leben und dann sterben sie, und haben oft genug kein Testament gemacht, weil so viel Arbeit im Anwesen zu verrichten war. Frauen dagegen haben Zeit, und ab einem gewissen Alter ist das Interesse an der Art und Gestaltung des Abtritts von der Lebensbühne  eine wichtige Fragestellung. Und weil uns nun mal die moderne Medizin neben den Zahnschmerztabletten und der Medikamentenabhängigkeit – man glaubt gar nicht, was an Schlafmitteln in so eine alte Tante folgenlos hineingeht – auch das lange Siechtum und mitunter wenig mondäne Reha-Kliniken in Ostbayern eingebracht hat, wo der Tegernsee fern und die Torten zuckerarm sind, ist der Weg zum Tod lang und nicht mehr süss. Da will man nicht leben und natürlich auch nicht sterben. Stellt sich also die Frage: Wie denn sonst?

Und die Antwort darauf lautet, wie immer in einem Umfeld, in dem das Anschaffen und Befehlen und das Nichts von Anderen Brauchen die gesellschaftliche Norm sind: Frei und selbstbestimmt. Wer eigenverantwortlich und selbstbestimmt mit der S-Klasse des Mannes den Golf der Anderen im Kreisverkehr an den Laternenpfahl nietet, wer nachher sagt, der hätte halt schneller fahren müssen –  solche Leute lassen sich auch den Tod nur ungern vom Abschalten der Maschinen vorschreiben. Natürlich missfällt ihnen die Debatte, wie lange noch künstliche Hüftgelenke eingebaut werden sollen. Denn sie haben im Gegensatz zu den Anderen auf ihren Körper geachtet, da ist es kein Wunder, wenn die Gelenke erst dann aussetzen, wenn sie unter hohen Beitragszahlungen ein gesegnetes Alter erreicht haben. Selbstbestimmung ist auch, sich so etwas nicht zugunsten anderer und rücksichtslos Jüngerer vorenthalten zu lassen. Anschaffen bedeutet, die Ersatzteile zu bekommen, wann und an welchem oberbayerischen See man will. Aber beim Tod ist das eine andere Sache, den kann man nicht wie einen Arzt unter Druck setzen, weil dessen Chefarzt der Neffe zweiten Grades von der reichen Berta ist. Und angeblich Schulden hat. Und auf die Berta hört.

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Ausser natürlich, man bringt sich um. Aber das ist gar nicht so leicht, auch wenn die Optionen weitläufig besprochen werden. Autounfall: Ist in diesen Zeiten schwer geworden, damals mit dem Golf war ja nicht mal ein Kratzer im Lack. Ins Wasser gehen: Das kann man den Rettungskräften nicht zumuten, das ist ja scheusslich! Medikamentenvergiftung: Nach Jahrzehnten der Gewöhnung ist die Wirkung nicht mehr garantiert, ausserdem haben die Pharmakonzerne ja die Wirkstoffe reduziert. Aufhängen: Entsetzlich, wenn einen so die Putzfrau findet, die bekommt einen Schlag! Gasvergiftung: Geht nicht in der Niedrigenergievilla mit Ölheizung und Solaranlage. Stromschlag: Fliegt nur die Sicherung heraus. Das Blut bei den Pulsadern verbietet sich bei der ordentlichen Hausfrau. Die Flinte vom Opa würde nur juristische Scherereien für die Nachkommen machen. Es ist gar nicht mehr so leicht, einfach so aus dem Leben zu scheiden. Gift, das wie ein dezentes Schlagerl aussieht, das wäre fein, aber das bekommt man nicht einfach so. Bleibt also nur die Hoffnung, dass der Tod einen dereinst nicht lange zappeln lässt.

Das war der Stand der Dinge seit Jahrzehnten, so lernte man es von den Vorfahren, und alle nickten dazu, seufzten, fanden die Lage unbefriedigend und lebten halt ächzend weiter.  Aber jetzt hat die Schweiz, deren Geschäftsmodell der Steuerhinterziehung nur noch so mittelgut läuft, die Türen für den Sterbetourismus weit aufgestossen: Fuhr man früher in die Eidgenossenschaften, um das Erbe der Kinder vor dem Fiskus zu retten, kann man jetzt den Bodensee als neuen Jordan überqueren, um den Kindern die exorbitanten Kosten der Pflege bei schwerer Krankheit und Seniorenabschiebung zu ersparen – und seien wir ehrlich, jeder fühlt sich in diesem Alter immer irgendwo sterbenskrank, das geht fast schon mir so. Es ist eigentlich ganz einfach. Ganze Kaffeekränzchen könnten sich mit einem Schlag das gewünschte Ende verschaffen. Es ist nichts mehr dabei, und man könnte ja sagen, dass sie trotz eines Klinikaufenthaltes leider in der Schweiz von uns gegangen ist, ja, das ging ganz schnell und unerwartet. Tot wie das Schweizer Nachtleben. Ja, der Schweizer, früher verdiente er als mordender Söldner sein Geld, aber heute geht das auch ohne Kanonenkugeln.

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Das hat Bewegung in die Debatte gebracht. Das ist zu berücksichtigen, das ist eine echte Option, und darauf gibt es auch schon umfassende Reaktionen: Ja, sicher, das ist zuerst mal prinzipiell eine Möglichkeit, danke für den Hinweis. Ja, die Adressen hat man sich vom Enkel aus dem Internet schon geben lassen, und im Reiseatlas des Mannes nachgeschaut, wie man da fahren muss. Also, wenn es einmal nötig wird, aber natürlich nicht jetzt vor Ostern, die armen Enkel, für die muss man noch schnell die Hunderter ganz klein falten, damit sie in die Schokoladeneier passen. Das macht man aber sicher. Nur, da stellt sich natürlich schon auch die Frage: Was werden die Leute sagen?  Gerade wegen der Kinder und Enkel.

Ist es nicht so, dass man, wenn es zu viele tun, das Gerede bekommt, wenn alle Tanten nur noch in der Schweiz sterben? Kommt da kein Verdacht auf? Wird den Nachkommen nicht hintenrum nachschallen, dass sie die Tante so vernachlässigt haben, und nie mit nach Lugano nahmen, dass ihr ausser dem nun wirklich scheusslichen Basel nichts geblieben ist? Da bleibt fraglos etwas hängen, das wird die Runde machen, und so richtig gut für den Nachruhm ist es nicht, selbst wenn die Kinder nicht ganz unschuldig daran sind: Denn es ist ja auch eine Aussage über die eigene Erziehung, dass die Kinder es letztlich zugelassen haben. Ja, sicher, es ist ein Ausweg und besser, sehr viel besser als alle anderen Optionen. Aber die gesellschaftliche Schmach, schlimmer als der Tod, und das Gerede, das kann einem doch auch nicht egal sein. Schliesslich, wie ist das, wenn alle tuscheln, der Enkel da, der hat seine Grosstante achselzuckend in die Schweiz… der bekommt dann doch bestenfalls nur noch So eine als Frau, oder eine aus Berlin oder eine, die es auf das Vermögen abgesehen hat, denn keine anständigen Leute würden das haben wollen: Einen indirekten Tantenmörder durch Unterlassung, der es, man weiss es ja nicht, hingenommen hat, weil er an das Erbe dachte. Kann man das als treusorgende Angehörige dem Ruf der Familie antun? Je länger man spricht, je mehr man nachdenkt, desto sicherer ist man unter Sterbenwollenden: Es mag gehen, aber das kann man nicht machen. Allein schon wegen der Verwandten.

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Es ist ganz erstaunlich, wie sich die Einstellung zu einem Schweizer Angebot geändert hat, seitdem es auf dem Markt ist: Niemand hat es bislang probiert, es gibt keinerlei Erfahrungen damit, man weiss nichts über Aussicht und Modalitäten, so genau hat man sich damit noch nicht beschäftigt und der Gärtner musste noch zwei Birken herausmachen, es ist gut, das im Auge zu behalten, für den Fall, dass es irgendwann eine gesellschaftlich akzeptable Lösung gibt: Aber jetzt ist Frühling und wo die Birken standen, ist ein scheussliches Loch: Das muss weg. Erst zum Gärtner, dann in die Schweiz. Vielleicht.

Der Tod wird wohl weiter keinen seltsamen Schweizer Dialekt sprechen, sondern eher auf dem Beifahrersitz der S-Klasse verweilen. Er wird noch einen Eierlikör einschenken, bevor es auf diesen neumodischen Kreisel geht, wo die Golfe? Gölfe? Na, diese kleinen Dinger da –  einem gemeinerweise hineinfahren, ohne die Spur zu wechseln, und nach dem Zusammenstoss an die Laternen wirbeln, wo ihnen das Licht ausgeht. Sage einer, der Tod habe keinen Humor. Aber ein jeder muss einmal sterben, der eine früher und der andere sieht es dennoch nicht ein, den Führerschein abzugeben, denn in einer S-Klasse kann nichts passieren.