Und dann lebten sie glücklich und zufrieden und wenn sie nicht gestorben sind, dann
Hin und wieder hört man öffentliche Klagen, die Reichen, die besseren Kreise, die Vermögenden würden sich abkapseln und nur noch untereinander heiraten: Der Arzt die Ärztin, die Richterin den Anwalt, der Unternehmer die Unternehmerin, der Apotheker die Pharmalobbyistin. Was dann auch zur Folge hat, dass auch untere Klassen unter sich bleiben. Der Bandarbeiter heirate die Verkäuferin, und der Politiker habe mit der Journalistin was laufen. Die Klassen vermischen sich also nicht mehr, Dünkel und Defizite werden direkt in den Familien weiter gegeben. Das ist nach meiner Beobachtung wahr und auch nicht; vor allem aber ist das Kernproblem da, den Nachwuchs überhaupt so weit zu bringen, sich längerfristig zu binden.
Denn für viele ist das freie, ungebundene Dasein einer der wichtigsten Vorteile, die das Leben auf der Sonnenseite der Gesellschaft mit sich bringt. Heirat und Familie sind oft Ausdruck von Sicherheit und Schutzbedürfnis, eine Zweckgemeinschaft auf Gegenseitigkeit, und wenn diese Bündnispolitik aufgrund der besonderen Situation nicht nötig ist, sind die Nachteile so einer Bindung schwerwiegender. So eine Beziehung ist ja immer eine Abwägungssache, Liebe allein kann es nicht sein und überhaupt, mit dem modernen Scheidungsrecht und der Dauerhaftigkeit der Beziehungen kommen weitere negative Punkte dazu. Das Aufwand-Nutzen-Verhältnis ist einfach nicht mehr so wie früher, also gibt es viele Singles oder lockere Paare, die für das Hochheiraten nur in der Form falscher Hoffnungen taugen.
Das macht man sich übrigens nur selten bewusst; in meinem Umfeld sind durchaus einige Exemplare, die man früher als begehrenswerte Junggesellen oder Damen bezeichnet hätte, und die überhaupt keine Neigung zeigen, sich ernsthaft einer Beziehung zu verschreiben. Fragt man nach, bekommt man oft als Antwort, das sei halt so gekommen, Gründe wüsste man auch nicht und nie, wirklich nie habe es gepasst – das sagen gleichlautend übrigens auch manche, die es schon miteinander versuchten und somit in allen Belangen durchaus passen könnten, bei der Liebe und bei der Herkunft. Es ist in Deutschland also keineswegs so wie in Italien, wo Ehen ausbleiben, weil den Partnern das Wohneigentum fehlt.
Aber warum dann, fragte mich gestern eine italienische Bekannte, die das einfach nicht verstehen kann. Wenn alles an Vermögen da ist, was man benötigt, wenn das Risiko überschaubar ist und die Gesellschaft vergleichsweise liberal an Ausschweifungen erduldet, was früher in Ehen unvorstellbar war, wenn die Ehe nicht das Ende der Freiheit bedeutet und die Vermischung der Schichten kein Problem von Stolz und Vorurteil ist, ganz im Gegensatz zu Italien – warum dann es nicht einfach mal versuchen? Oder gibt es zu viele andere schlechte Beispiele, dass man Angst haben müsste? Nun, sagte ich, das ist einfach so ein diffuses Gefühl, so eine Vorahnung, dass es mittelfristig Schwierigkeiten geben könnte, auch wenn vieles andere unabhängig von der Herkunft stimmt: Man kann vermögend sein und ungebildet wie ein Bildzeitungsleser, und unser Schulsystem verspricht umgekehrt allen Zugang zu wirklich famosen Wissenswelten. Selbst wenn es also geistig passt, ist da was… und dann wechselte ich das Thema, weil ich das „was“ auch nicht weiter ausführen konnte.
Unsere Wege trennten sich, ich radelte nach Hause, vergass das Thema wie alles Unangenehme – Verdrängung ist schliesslich eine Kerntugend derer, die sie sich leisten können – und hätte auch keinen Gedanken mehr daran verschwendet, wäre ich im Internet nicht über eine Erklärung für dieses obskure „was“ gestolpert. Das „was“ ist unsere eigene Trägheit, die sich nach draussen, gegenüber anderen, in dieser für heutige Zeiten schon fast pervers guten Laune manifestiert. Die ganze Zukunftsangst der Optimierer, die Befürchtung, der Lebenslauf passe nicht in die Anforderungen der Welt, die Befürchtung, das System sei stärker und würde einem keinen Raum für die Entwicklung geben, wie hier beschrieben – das alles fehlt uns. Und zwar deutlich. Sicher, die Existenzkrise ist dem Westviertel auch nicht fremd, aber das, was viele an kleinen Nöten und Sorgen umtreibt, die den Tagesablauf und die Lebensentwicklung bestimmen, das ist ziemlich weit weg von der Lebensrealität der Vollversicherung durch die Familie.
Auf dieses Niveau hochzuheiraten ist der Traum all der Leserinnen von Courts-Mahler und Jane Austen gewesen. Das war es, was möglich gewesen ist. Die Spitze der Gesellschaft war nicht so arg hoch, als Gesellschaft noch ein regionaler Begriff war. Es ging um einen Aufstieg, der mit der Heirat abgeschlossen war, danach lebten sie glücklich und zufrieden, er lobte stets ihr Essen, und sie züchteten Rosen in einem bewundernswerten Garten und hatten für jeden Tag der Woche eine andere Silberkanne. Die Frau heiratete nach oben und blieb dort. Der Mann war schon oben und blieb auch dort. Sie war zufrieden, und er wusste, dass sich überzogener Ehrgeiz in einer kleinen, lokalen Oberschicht nicht auszahlt: Die Gewinne im Kampf um Mehr vertrugen sich nicht mit den Aufwendungen. Das Ziel des Lebens war das Dasein als Privatier, nicht der Umzug in die nächste Stadt und das Aufmischen der nächsten Gipfelgesellschaft. Die begrenzte Mobilität und die Verankerung in festen Strukturen entschleunigten gründlich, und die Gesellschaft war auch so freundlich, diesem saturierten Lebensstil tugendsame Eigenschaften zu unterstellen.
Das ist ein wenig die Haltung, mit der wir auch noch aufgewachsen sind, denn der Bankdirektor, der Apotheker und der Manager konnten sich nichts Schöneres vorstellen, als hier zu bleiben und das Leben zu geniessen, während unter ihnen die Stadt aufblühte, und sie ohne ihr Zutun nach oben purzelten. In diesem Bewusstsein habe ich gestern Nacht aber auch noch anderes gelesen; namentlich von einer Person, die es für ihre mediokren Voraussetzungen recht weit brachte, weil sie ein System offensichtlich mit ihrem Einfluss optimal für sich selbst genutzt hat. Dieses gesellschaftliche Garnichts hat nun also einen bestimmten Ruf und einigen Einfluss, und während es früher glücklich gewesen wäre, wenn es jemand im Taxi mitgenommen hätte, ist heute Jammer und Unzufriedenheit das miussmutige Leitmotiv. Wie kann es die Bahn wagen, zu lange zu brauchen! Was hat der Stau da im Lebensweg verloren, merkt er nicht, dass er behindert? Dieser Stress, wenn der – ausgesprochen gut bezahlte – Beruf wieder mal Unpässlichkeiten mit sich bringt, wie bei jedem Bandarbeiter auch! Welch Dreistigkeit, etwas zu präsntieren, was schon einmal deutlich kritisiert wurde! Dieser Termin in jenem Hotel eine Frechheit, wie konnte man nur so ein Zimmer anbieten! Das Fehlen jeglicher Bevorzugung angesichts der Bedeutung ist unerhört! Mitunter ertappt sich auch unsereins solcher hysterischer Gedankengänge, errötet nach innen und nimmt sich vor, demütiger zu werden. Das Garnichts schreibt das ungefiltert ins Internet und findet, dass die Gesellschaft endlich etwas tun sollte, damit diese Ungerechtigkeiten ein Ende haben. Woanders hört man über das Garnichts, es sei „überempfindlich“, was eine sehr nette Umschreibung des Sachverhalts ist.
Das Garnichts ist, das weiss ich aus guter Quelle, auf dem freien Markt der Beziehungen zu haben findet aber keinen Abnehmer auf der Ebene, die es schätzt. Ich weiss auch genau, warum das so ist: Das Garnichts ist nach oben gekommen und hat dabei nicht nur unten jede Bodenhaftung verloren. Es hat auch dort, wo es dank seines Berufes angekommen sein will, keinerlei Bodenhaftung gefunden. Das Garnichts ist einen Weg gegangen und sucht einen Partner, um weiter voran zu kommen: Es hat gar nicht vor, die besseren Kreise mit Gemütlichkeit, Waschkünsten oder Kochhimmel zu erfreuen, es will eine Wäscherei und das neueste Luxushotel und 5-Sterne-Küche und zwar immer und jederzeit. Es rauscht genau in jenen Verdrängungswettbewerb, in dem auf einen Sieger 10 Verlierer kommen, und wo der Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Entweder ein teuer Sieg oder eine schwere Niederlage, etwas anderes ist nicht zu erwarten.
Anders gesagt: Wir haben es nicht mehr mit einer schönen Situation zu tun, in der es einen Weg von unten nach oben mit einem Ziel gibt, das für immer mit dem Hochheiraten erreicht ist. Wir haben eine Situation von zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten, der eine steht mehr oder weniger fest, und der andere rast vorbei. Für einen Moment mag man tatsächlich gleichauf sein, die Bedürfnisse und Wünsche scheinen gleich zu sein, aber das ist nur ein Augenblick. Die Auflösung der alten Klassen durch globale Massstäbe und Eliten machen aus dem Endpunkt einen Zwischenhalt in einem Provinzbahnhof des Lebens, und so etwas wie Zufriedenheit wird es da sicher nicht geben: Immer wird die Frage sein, was da noch an besseren Möglichkeiten kommen wird. Und das ist dieses obskure „was“, das einen so umtreibt bei den Aufsteigern: Die dunkle Ahnung, dass man damit die eigene Existenz überhaupt nicht bereichert, sondern im Gegenteil jemandem überlässt, der sie nur als Zwischenstand im Leben begreift. Wer dabei bleiben will, muss sich anpassen – etwas, das unsereins so unendlich schwer fällt.
Zum Glück haben sie nicht nur gelernt, andere schlecht zu behandeln, sondern auch, das als moralisch gerechtfertigt zu kommunizieren. Davon lässt man dann lieber die Finger und greift, wenn es denn sein muss, besser zur Tochter des Apothekers. Bitte, das hat mit Klassendünkeln überhaupt nichts zu tun. Nur mit Selbstschutz. Und dem Wunsch, beim Betrachten des Absturzes nicht auf dem Beifahrersitz zu sein, sondern in der Loge.