Der Ball trägt Werbung und das Spiel dauert zu lange.
Mit Fussball ist es wie mit manchen Menschen: Man hat damit zwar nichts zu tun, man wurde dem Gegenstand nicht vorgestellt, aber man redet trotzdem darüber. Im Moment zum Beispiel werde ich oft auf dieses Thema angesprochen. Ich stehe oben auf der Leiter, binde den Weinstock hoch, aus der Kirche nebenan strömen nach dem Konzert die Leute, ich entschuldige mich für mein Nichterscheinen – der Wein ist mein Schrebergarten, und er treibt dieses Jahr so stark wie das Unkraut – und dann plaudern wir etwas. Schliesslich kommen wir zum wichtigsten Punkt der elitären Abgrenzung, nämlich der Erkenntnis, dass es auf diesem schönen Erdenrund keinen besseren Ort als diesen gäbe, um ausgedehnte Besitztümer in der Stadt zu haben. Und dann sagt einer: Dieses Jahr wird es sogar noch besser! Denn es gibt keine Fanmeile und kein Public Viewing. Und alle sind erleichtert.
So gehört sich das: Einen persönlichen Gewinn aus dem Nichterscheinen und Verschwinden anderer zu ziehen. So eine Art ethnische Säuberung der Innenstadt in Sachen moralisch-geistiger Natur. Die vielen Beschwerden von Anwohnern haben gefruchtet, die Politiker fürchten einen Aufstand der anständigen Hausbesitzer, und haben gespurt. Offiziell, so wird das kommuniziert, bekommen all die Fans jede Menge Auslauf draussen vor der Stadt, in einem umzäunten Gelände, wo dann eine Leinwand steht, die ihnen das Verhalten vorgibt. Dorthin müssen sie auf eigene Kosten mit dem Auto fahren, und aussenrum ist nur Wiese. Und jede Menge Polizei und Werbung. Sie würden vermutlich lieber in die Stadt, aber das ist nun mal so. Sie wurden verbannt. In der Renaissance galt so eine Vertreibung als Schmach. Hier und heute baut man eine gigantischere Leinwand auf, da merken sie es nicht so. Ausserdem, sie sind Experten im Balltreten, und Kulturgeschichte ist nicht ihr täglich Geistesbrot: Die verstehen gar nicht, dass sie wegen Gemeingefährlichkeit in ein buntes Internierungsstadion gesteckt werden. Zumindest für eine gewisse Zeit. Die auch gerne etwas länger sein dürfte.
Das hatte in der Geschichte der Menschheit schon schreckliche Folgen, aber hier muss man sagen, dass wir, die wir die Altstädte pflegen, erhalten und schützen, in den letzten Jahren stets die Leidtragenden der Massen gewesen sind. Wenn es im Winter schneit, stehe ich um 6 Uhr Morgen auf der Strasse und räume den Schnee. Und wenn dieser Sport Zusammenrottungen nach sich zieht und die Horden in der Stadt waren, mache ich das auch. Der Schnee ist unabänderlich und eigentlich ganz hübsch, ja fast romantisch, wäre es nicht so früh, die Scherben, das Erbrochene und – ich will hier gar nicht in die Tiefe gehen – wäre vermeidbar, und ist eine ziemlich scheussliche Sache. Wenn ich hier also zu Protokoll gebe, dass ich Fussball hasse, dann ist das im Zorn verkürzt. Ich verabscheue das G’schleaf, das im Zusammenhang mit Fussball die Gelegenheit sieht, andere in Mitleidenschaft zu ziehen. Sei es negativ durch ihr miserables Benehmen, sei es versucht positiv, weil Alkoholiker mit Schnauzbart und massiven Gesundheitsproblemen meinen, mich ausgerechnet in Sachen Sport für eine Nation vereinnahmen und zum Mitjubeln auffordern zu können. Doch, auch so etwas muss man bald erdulden, man betrachte nur mal Privatradio und andere Medien.
So kriegt man sicher eine Frau mit fragwürdig farblichen Blazern aus der Uckermark auf die Tribüne, aber unter uns regt sich da eine abwehrende Haltung. Ich kenne hier einfach niemanden persönlich, der sich in Nationalfarben anmalt und biertrinkend vor einer Leinwand steht, anbuchstabiertes Halbwissen aus der Bild oder von mangelschönen, alten Männern geschrieben Fachblogs rezitierend. Das gibt es zwar, aber es ist wie alles andere, die Flaggen, die Autocorsos, die öffentlichen Besäufnisse, die Sonderaktionen für Flachbildschirme, eine Entwicklung der letzten 10 Jahre. Ich wohne seit 25 Jahren wieder in der Altstadt, ich weiss, wie es früher war, und was es wurde.
Und zwar: Zuerst viel Geplärre, und dann wurde es still. Denn das Marketingteam mit den deutschen Streifen hat es alle zwei Jahre auf dem Rasen versäumt, zum End’ zu siegen. Und weil es Deutsche sind, zählt alles andere nichts. Wer siegt, ist Sieger und wer nicht siegt, ist Anlass zur Traurigkeit. Es sind sehr unsympathische Verlierer, diese Anhänger, es muss immer eine Sensation und das Beste sein. Man merkt, dass sie nie ein klassisches Konzert besucht haben. Niemand würde bei uns jammern, wenn nicht die Weltspitze der Künstler auftritt. Keiner beschwert sich, wenn das Programm nicht vollständig zusagt, manchen erschliesst sich eine Händelarie nicht, das kann passieren, aber das ist kein Anlass für Unmutsbekundungen. In Konzerten lernt man das Ergründen und Erfassen. Gejubelt wird am Ende trotzdem. Dem Anhänger des Fussballs ist die Schönheit eines brasilianischen Spielzuges egal, Hauptsache, seine eigene Manschaft verbringt den Ball – with all means necessary – ins Tor.
Und wenn es nicht möglich ist, so wie letzthin bei dieser Niederlage in München, vor der die Stadt in weissrot gleichgeschaltet wurde, von Menschen, die zumeist gar keine Münchner sind, sondern Zugewanderte, bricht der grosse Katzenjammer aus. Menschen weinen. Sie sind entsetzt. Sie leiden. 2 Weltkriege hat Deutschland verloren, und sie sind noch immer nicht in der Lage, ein Fussballergebnis wegzustecken. Wo sie sich doch extra einen Flachbildschirm gekauft haben, ein Bierfass und Grillwaren bestellten, sich die angemessene Kleidung als dummer August, so hiess das früher im Zirkus, beschafften, für Konzerne als Werbung herumliefen, sich vielleicht auch noch für fragwürdige Sportwetten hergaben, und auch sonst für eine kleine Sonderkonjunktur der Näherinnen in Bangladesch, der Sponsoren und Mitgrölfirmen sorgten.
Und da wundern sich manche, warum das in einigen besser gestellten Bereichen der Gesellschaft ein wenig anders ist. Nun. Das ist durchaus nachvollziehbar, man muss dafür nur auf der richtigen Höhe der Einkommens – und, vielleicht noch wichtiger, Besitztaditionspyramide sein; neureiche Manager zum Beispiel gehen ja durchaus in die VIP-Salons der Stadien, wo sie ganz vorzüglich hinpassen. Die anderen stehen auf Leitern und sagen, das Haus hat die Schweden, die Protestanten, die Österreicher, die Franzosen und die amerikanischen Bomben überlebt, es wird auch diese Fans überleben. Ausserdem hat so eine Veranstaltung durchaus auch ihre schönen Seiten: Die Strassen sind, soweit sie nicht zum Internierungslager führen, sagenhaft frei, die Natur kann vor sich hinschweigen, man fühlt sich auf dem Rad wie der letzte Mensch der Welt. Das ist wirklich sehr angenehm, schöner und freier kann man sich kaum bewegen.
Natürlich gibt es dabei nichts zu gewinnen und zu bejubeln. Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Dieser ewige Zwang, das beste Ergebnis liefern zu müssen, sich mit allen Mitteln zu optimieren, das Vorankommen und das taktische Aufbauen, um nach vorne zu gelangen – das muss man schon irgendwie nötig haben, um daran Gefallen zu finden. Ich habe den leisen Eindruck, das die gestiegene Popularität dieses Marketingsports ein klein wenig auch mit der veränderten Definition von Arbeit als Dauerleistung und Performance zu tun hat. Die Massen jubeln, wenn einer das Letzte gibt, und sie sind entsetzt, wenn es zum Weltmarktführer nicht reicht. Und am Ende muss sich das für alle irgendwie rechnen.
Auf meinem Weg aus der Stadt hinaus komme ich übrigens ebenfalls seit 25 Jahren an einem Bolzplatz eines beschaulichen Dorfes vorbei. Früher war da oft etwas los, an den Wochenenden, nach der Arbeit. Heute sehe ich da niemanden mehr. Ginge es um den Sport, wäre das vermutlich anders. Aber fragen kann ich keinen. Es ist niemand hier. Und die anderen werden, wenn ich komme, hinter dem Zaun sein und unter Überwachung schreien.