Waren an der Müritz ist ne echte Chilloutzone
So sollte das aussehen. Ein türkisfarbener See, ein halbschattiger Platz unter Bäumen, ein wenig Grünfläche, immer schön kurz gehalten, ganz feiner Kies am Strand, und kristallklares Wasser. Oh, es ist nicht Monaco und nicht Thailand, es gibt kein Meeresrauschen und auch keine Infrastruktur ausser einem Weg, aber der führt zur Brücke, in den Ort und dann hoch, und da ist dann alles, was man braucht, wenn man hier wohnt. Aber es wohnen ja wirklich alle hier, die ich hier kenne. Nach einer Woche ist man fast überrascht zu hören, dass manche nicht hier leben. Ein wenig überprivilegiert vielleicht, aber das passt schon.
Wie auch immer: Die natürliche Grundausstattung mit den alten Eichen und Erlen, dem im Frühjahr ausgeholzten Strand, dem Wasser und dem Zugang, wenn man früh genug da ist, bevor die Münchner kommen, das alles ist, wie soll ich sagen, halt einfach so vorhanden. Man erwartet das so, es ist nicht viel, aber insgesamt doch so, wie es sein soll. Nichts besonderes, aber angenehm. Noch nie bin ich hier an den See gegangen, habe eine ganze Bucht mit 4 Quadratmetern Badetüchern für mich allein in Beschlag genommen, und davor überlegt, ob hier vielleicht Hundekot sein könnte. Oder Glasscherben. Oder Müll vom Vortag. Oder benutzte Kondome. Oder gar Reste Grillereiunsitten, die hier natürlich verboten sind. Da käme ich gar nicht auf die Idee. Das ist hier nicht so. Allein schon, weil die, die heute die Buchten erobern, sie auch morgen wieder beschlagnahmen. Was denn, wie denn, allgemeiner Zugang zum See, steht in der Verfassung, blabla, mit Eurer Verfassung, liebe Unterschicht aus München, da könnt ihr daheim bleiben. Mein Handtuch, Eure Todeszone. Mein Rennrad – wir sind sehr ökologisch hier – ist so angekettet, dass jeder Versuch des Eindringens unmöglich ist. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.
Das haben sich vermutlich auch die Anwohner der Isar in München gedacht, als vor ein paar Jahren bis hoch zum Deutschen Museum Bäume gefällt wurden. In einem finanziellen Kraftakt wurde die kanalisierte Isar aus ihrem engen Bett befreit, und eine Art sommerlicher Badestrand für alle eingerichtet. Es gab einigen Protest wegen der Bäume, aber die allgemeine Haltung war: Die Isar wird schöner, die Anwohner müssen nur über die Strasse, um am Wasser zu liegen, und wenn sich das etabliert hat, wird es vielleicht wie die Promenade des Anglais von München. Mit einem weiteren Standortvorteil für die Anwohner, was sich natürlich auch auf die Preise der Immobilien auswirkt. Das schadet hier keinem, hier gibt es so gut wie keine Mieter. Und ist nicht die Isar mit dem Wasser aus dem Sylvensteinspeicher gleich neben dem Tegernsee auch klar, natürlich und rein?
Das war die Idee: Eine weitere Aufwertung einer Region, die nur den Glücklichen vorbehalten war. Der Strand vor der Haustür, das Naherholungsgebiet über der Strasse. Es kam allerdings anders: Denn München ist eine grosse und obendrein kompakte Stadt. Und es gibt dort wirklich schreckliche Viertel, die gar nicht weit entfernt sind. Und zu allem Überfluss ist justament in der Region auch ein strategisch wichtiger Spätverkaufskiosk. Wer am Nachmittag noch nicht weiss, wie betrunken er am Abend sein will, ist hier goldrichtig. Womit diese Region zum strategischen Ziel von Leuten wurde, die kein Stadtplaner und kein Anwohner je vorhergesehen hat, nennen wir sie die Minimale Moralia. Leute, deren Entfernung Aufwertungspotenzial verheisst. Leute, die die hohen Mieten nun durch billige Badefreuden mit billigem Essen kompensierten. Sicher, man wollte die Münchner mit der Isar vermählen. Aber nicht Millionen für eine Renaturierung ausgeben, die jedes Wochenende in eine laute Müllkippe verwandelt wurde. Nicht Promenade des Anglais war das Ergebnis, eher so das, wie sich unsereins Bulgarien, die Müritz oder Mallorca vorstellt.
Von den in München heiß umkämpften Parkplätzen muss man hier gar nicht mehr reden. Jede bessere Grosstante hätte sagen können, dass die Einladung von allen Klassen in die beste Stube der Stadt nicht würde gut gehen können. Mal eben in der Mittagspause hinüber geht man auch nicht: Wer dort lebt, kann nicht eine Stunde damit zubringen, einen Platz ohne Proleten, Säufer, Stinkegriller, Musikhandyplärrer und was es da sonst noch gibt zu suchen. Das ist kein Seebad des 19. Jahrhunderts, das ist kein züchtiges Arbeitslosencamp der zwanziger Jahre und auch kein Kurbadbetrieb der Adenauerzeit. Das ist der Zusammenprall der Kulturen. Die einen kommen zuerst, aber die anderen mahlen allein durch ihre schiere Menge, ihren Mangel an Rücksicht und einer renitenten Okkupationsstrategie, gegen die sich mein Handtuch, mein Porzellan und meine Kanne kaum würden behaupten können. Das Rennrad würde man nicht übersteigen, man würde es einfach klauen. Niemand mag an eine positive Entwicklung glauben, 40 Kilometer von hier, im Nordwesten, in der ehemals besten Lage, bevor man auf die Idee verfallen ist, alle und jeden einzuladen. Das hier ist übrigens der Blick von meiner Bucht hinüber zum Yachtclub, nach Gmund und Seeglas (v.l.n.r) am Mittag. Klicken macht gross. Sie werden auf einer halben Stunde Fussweg viele Leute, ungezogene Kinder und sogar Touristen mit Funktionskleidung auf Pedelecs, aber exakt 0 Grillrauchfahnen sehen.
Ja. Natürlich werden sich nun einige Soziologen hinstellen und davon reden, dass wir hier am Tegernsee so eine Art durchgentrifizierte Sicherheitszone erschaffen haben, wo wir die Mehreren sind, die Preise und die Anreise prohibitiv wirken, und niemand aus der Reihe tanzt, weil zu wenige da sind, die im Danebenbenehmen ein schlechtes Vorbild abgeben. Wer hier seinen Wegwerfgrill aufbauen würde, wird zwar noch nicht darauf geröstet, aber die Exekutive agiert hier auch nicht mit Fähnchen, Parolen und netten Bitten. Kein Grill, kein verbranntes Fleisch, keine halbe Kiste Bier zum Mundauswaschen, kein Besäufnis, keine Scherben im Wasser, keine Sorge am nächsten Morgen. So einfach ist das. In München dagegen wissen die Machthaber, dass sie mit einem machtvollen Einsatz „Operation Westbank” ihr eigenes Klientel wegputzen würde. Deshalb macht man dort nette Aktionen, und gibt nicht zu, dass ein Gitter vorn und hinten und ein kleiner Obulus von bitte etwas weniger als der Fahrkartenpreis zum Tegernsee die einzige Art wäre, dem Problem Herr zu werden. Anwohnern könnte man natürlich freien Eintritt zu ihrem Isarabschnitt gewähren, wie im Parklizenzbereich mit den Parkplätzen. Aber das würde die Leute verbittern. Man hat ihnen den Ort überlassen, würde man ihn aufgrund der Folgelasten wieder schliessen, käme es zum Aufstand: Das Ganze ist das Unwahre.
Vorgestern bin ich hierher gefahren, in einer Perlenschnur von offenen Autos hinter mir auf der Staatsstrasse. Ich vornedran, dann zwei ältere Damen in einem Mercedes, ein Porsche, ein BMW und ein neuer Käfer. Ausser mir hatten alle Münchner Kennzeichen. Und alle fuhren wir im Konvoi an den See. Und nicht an den Isarstrand. Das ist auch Gentrifizierung, keine Frage, aber aber auch Negative Dialektik, und die Gegenfrage ist, wie Soziologen dann die Geschehnisse in München umschreiben würden. Zu gerne würde man Adorno fragen, wie er die neuen, spaltenden Verblendungszusammenhänge von bürgerlicher und antibürgerlichen Gesellschaften betrachtet. Vermutlich, das ist meine These, gewöhnt sich der Mensch leichter an vorbeiflanierende Damen mit der Klage, ihre Kinder könnten nun nicht mehr zum Essen nach Paris fliegen, als an Scherben in den Füssen. Oder auch nur Essensabfälle am Strand. Die einen sind schon hier, weil sie das wissen. Die unmittelbar Betroffenen begreifen das Problem und handeln, entweder mit Rückzug oder Angriff. Das ist dann die private Übernahme des öffentlichen Raumes, von der man so viel liest. Sicher, Gentrifizierung ist böse und unfair, aber wer einen Notwehrvorwand provoziert, sollte sich nicht wundern, wenn die die besseren Anwälte bezahlen können.
Aber nicht hier, natürlich. Hier sucht sich jeder seinen Platz, die Eltern am Spielplatz, die Skater am Paraplue, die Jungen in der Sonne und die Älteren auf einer Parkbank zwischen den Blumenbeeten, und ich in der Bucht, die allen gehört, wie es in der Verfassung steht, wenn sie vor mir da sind. Alle sind zufrieden, man lässt genug Platz, und man belästigt sich nicht gegenseitig. Es ist deshalb noch lang nicht tot oder abgeschottet, alles ist frei und offen, solange man sich an ein paar kleine, dezente Regeln hält. Wer das anders sieht, kann gern „oligarchische Ordnungszelle” sagen. Das macht nichts, solange er dafür auch in die Scherben tritt, die einem hier erspart bleiben. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Wie das Wasser, der blaue Himmel und der Umstand, dass die Zwetschgendatschizeit begonnen hat. So schön, so einfach, so normal. Alles andere – bitte, ich bin kein Unmensch, natürlich denke ich auch gern um. Sobald der Isarstrand von den Gästen so sauber wie meine Bucht hinterlassen wird.