Abyssus abyssum invocat
In den 60er Jahren sah der Wohntraum der Bewohner meiner Heimatstadt so aus: Raus aus den alten, verschachtelten, bitterkalten, feuchten und modrigen Häusern der Altstadt, und hinüber auf die andee Seite des Stadtparks, wo ein Block nach dem anderen errichtet wurde. Dort waren die Wände gerade, die Leitungen befanden sich in den Mauern, keine Diele knirschte, und die Einrichtung kaufte man, so man genügend Geld hatte, im Einrichtungshaus aus Glasbeton, ganz im Sinne der klassischen Moderne. Einmal komplett Schleiflack. Weg mit dem alten Plunder. Zurück blieben die Faulen, die Armen und die Nostalgiker, die nicht einfach das Haus verlassen wollten, in dem die letzten 5 Generationen lebten und starben.
Dieses Einrichtungsgeschäft schliesst gerade, denn die Bewohner der Blocks bevorzugen heute riesige Möbelmärkte. Der Aufstieg der Stadt zum Industriezentrum sorgt dafür, dass auch in den Blocks genug arbeitende Menschen wohnen, damit das Areal nicht zum Slum verkommt. Wer die Stadt nicht kennt, wird sich das anschauen, und auch nicht schlechter als gute Wohnlagen in Hamburg einschätzen. Alles ist sauber, gut gepflegt und von jener Grosszügigkeit, mit der man in den 60er Jahren noch Vorstädte anlegen konnte. Trotzdem ist da ein kleines Sozialproblem: Hier wohnt heute, wer sich die doppelten Preise auf der anderen Seite des Parks nicht leisten kann. In einigen reichen Städten des Südens zahlt man heute in Neubauten durchschnittlich so viel Miete wie im Altbau vor 1905. Das ist dann die Innenstadtlage, und wer nie gegangen ist, wird jetzt belohnt.
Und das, obwohl die Faulen und Umbeweglichen nicht recht hatten, wenn man die Sache formal betrachtet: Die ganzen Probleme sind immer noch da, die Wände sind feucht, die Decken sind oft niedrig, die Zimmer sind windschief, und die Raumaufteilung von 1720 erzwingt Anpassung. Die ganze Situation führt zum Paradox, dass man sehr wohl am Tegernsee mit so einem Brocken von Familienerbstück überzeugen könnte – man mache sich nichts vor, so etwas ist einfach attraktiver als eine Mietwohnung – dann aber die Eroberung bisweilen nicht gleich ausnutzen kann. Ich war gerade zwei Wochen am Tegernsee. Und danach hat es volle zwei Tage gedauert, bis meine Altstadtwohnung daheim wieder erträglich warm war. Die dicken Mauern, die verfüllten Decken, das alles braucht lang, bis es warm wird. Die erste Nacht in so einer Wohnung verbringt man erst vor einem Heizstrahler und dann angezogen im Bett. Manche lassen dabei auch den Mantel an. So kalt ist es in alten Mauern im Winter. Etwaige Eroberungen sollten erst zwei Tage später nachgeholt werden.
Nun kennt man, weil die Familie nun schon seit Generationen hier lebt, noch ganz andere Geschichten. Etwa, dass im Winter der ganze Clan in einem Raum schlief, was mit moderner Vorstellung von Privatsphäre kaum in Einklang zu bringen ist. Trotzdem bildete sich innen an der Aussenwand durch die Luftfeuchtigkeit eine Eisschicht. Nicht ohne Grund also linsten jüngere Menschen in den 60er Jahren nach Penthäusern, in denen man einfach die Heizung hochdrehte. Man musste dort nicht den Ofen im Bad erst mit Kohle oder Holz befeuern, und hatte auch kein Ungeziefer, das mit dem ausserhalb gelagerten Brennmaterial zwangsläufig ins Bad kam. Das Leben im Altbau war damals, man muss es wohl so sagen, noch rustikal und der Vergangenheit verhaftet. Es blieben nur die Störrischen, die Gestrigen und diejenigen, die sich „Liebhaber” nannten und „Spinner” genannt wurden.
Nun sind die Zyklen der Erneuerung, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, stets Erscheinungen gewesen, die auch die besseren Kreise – und die wurden früher durch den Besitz solcher Altstadthäuser definiert – mitmachen mussten; sonst drohte der Fortschritt über die hinweg zu walzen. Das betrifft etwa die Anlagestrategien, die für Privatkunden heute so komplex sind, dass sie professionelle Verwaltung benötigen, denn jede Oma hat heute schon Aktien von Pxelpark Lehman-Zertifikate Hypo-Real-Anteile ökologische Solarfonds Gold. In den Zeiten, als sich die ganze Familie zusammensetzte, um bei den Tafelpapieren noch Coupons abzuschneiden, mag noch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit enstanden sein, wenn das Oberhaupt erzählte, wie man diese Einnahmen verschweigt. Aber heute macht das alles die Bank.
Der Zwang zum Fortschritt betrifft die Karrieren der Kinder, die man am besten schon gleich nach der Geburt plant, und er betrifft die äussere Erscheinung, die einen dicken Kommerzienrat einfach nicht mehr vorsieht: Wer reich ist, ist nicht dick und lebt gesund. Man redet gern in meinen Kreisen von Tradition: Das ist eine Illusion. Wenn heute die CDU mit einem Beschluss gegen die Ehevorteile für alle Menschen jenseits ihrer sexuellen Orientierung stimmt, dann mag das manchmal noch durchscheinen. Aber meine Grossmutter hat an Schauspieler mit einem gewissen Ruf vermietet. Das war damals in den Zeiten der Penthäuser noch ein richtiger Skandal. Was man heute an Kreuz.net verachtet, war vor 50 Jahren gelebter Konsens der Gesamtgesellschaft, wie all die Jahrhunderte davor. Bei der Diskriminierung anderer klammert es sich dennoch leichter an Traditionen, als bei Entwicklungen, von denen man profitieren möchte, und je höher der Anreiz, desto schneller wird man flexibel: Man findet Scheidungen nur so lange für vollkommen unerträglich, bis sich das eigene Kind von der Person trennt, von der man noch nie viel gehalten hat.
In so einem durch den Fleischwolf des Fortschritts gedrehten Klassenkörper ist es nicht weniger als ein Treppenwitz der Geschichte, wenn jetzt ausgerechnet die ultrareaktionärste Haltung von allen – der Besitz eines Stammhauses in der Altstadt, das seit jeher dem Clan gehörte – nun wieder lukrativ wird. Sofort würde man darin investieren, denn mittelfristig werden bei uns die Einkünfte aus solchen Gebäuden auch die Neubauten überholen. Aber das geht nicht. Man kann keine Geschichte zurückkaufen. Man kann nicht das Penthaus auf einem Block voller inzwischen gar nicht mehr so sonderlich guter Bewohner zurücktauschen. Man steht auf der Dachterrasse und schaut hinüber zum aufgelassenen Einrichtungshaus, wo es einmal USM und Sitzlandschaften gab, in der Hand vielleicht auch noch die Nebenkostenabrechnung, und ahnt, dass man energetisch wird nachrüsten müssen, soll das alles überhaupt seinen Wert behalten, 50 Jahre nach der Erbauung. Auf der anderen Seite stehen die Mauern seit Jahrhunderten, und vieles lässt sich durch Denkmalschutz steuerlich geltend machen. Dazwischen ist der Park, eine grüne Linie, es ist zwar nicht Beirut, aber sie trennt: Die ehemalig Fortschrittlichen von denen, die nichts taten, sich nicht rührten, stur so weiter machten und jetzt besser dastehen. Die allerletzten verfallenen Ecken in den ehemaligen Arbeiterecken der Altstadt werden gerade luxussaniert. Niemand würde das bei einem Penthaus im schlechten Viertel tun.
Allerdings habe ich meine Zweifel, ob ich deshalb als Gewinner der Entwicklung gelten kann. Global betrachtet haben all diese Umwälzungen Länder verarmt und Werte vernichtet, sie haben einen räuberischen Bankensektor geschaffen und den Clan mit seiner Geschichte durch die Kleinfamilie ersetzt, die sich auch auflöst, sobald das begabte Kind ein landesweit agierender Berater ist und seine Eltern im bestmöglichen Altersheim einsam vermodern lässt. Natürlich stehen noch die Häuser, und wer dazu gestanden ist, gilt heute nicht mehr als altmodisch oder blöd, sondern als gewitzt und auf profitable Art traditionsbewusst. Solche Geschichten liest man dann in den Land- und Einrichtungsmagazinen. Man könnte fast glauben, da hätte sich etwas erhalten.
Mauern. Parkett. Die Rostflecke am Fallrohr und die Angst, dass im Winter das Eis die Leitungen im Anbau zerreisst. Das Knarzen auf der 9. Stufe, das man vermeidet, wenn man ganz aussen geht. Das alles ist noch wie früher, und die Umwälzung hält sich hier gerade auf, rülpst zufrieden nach dem grossen Fressen der Verlierer, und findet das niedlich und begehrenswert und teuer, also gut und vermarktbar. Ungeachtet dessen lässt diese Umwälzung auch Sofas in China zusammentackern und hofft weiterhin, dass Sie nächstes Jahr beim Betrachten des Ikeakataloges den Wunsch nach einer neuen Sitzlandschaft verspüren, und der Vermieter sollte doch bitte die alten Wände noch einmal schlitzen lassen, und im Bestand neue Steckdosen setzen: Das neue Ebook muss geladen werden, damit das, was einst die Bibliothek war, immer verfügbar ist. Gerne würde ich die Umwälzung vor die Tür des 18. Jahrhunderts setzen und ihr dann noch einen Tritt geben, denn was ich an Umwälzung brauche, mache ich mir selbst – aber ich fürchte, die Umwälzung wird meinesgleichen einfach als privilegiertes Beispiel in seine Werbebotschaften integrieren. Gewinner sehen anders aus.
Sie können dem Autor hier folgen und auch Tortenbilder sowie Biedermeierportraits anschauen.