Katastrophen verbinden, Wohlstand trennt.
Parole in der DDR vor der Eroberung der BRD
Diese Parole kam zu einer ganz bestimmten Zeit, im Winter. Wenn es die DDR mal wieder dank der Nähe zu Sibirien richtig romantisch bis über den Stacheldraht eingeschneit hatte, und sogar die lebensnotwendige Braunkohle eingefroren war. Erzählungen zufolge wurden dann die jungen Leute, die heute als Boheme gelten, in die Tagebaue und zu den Kraftwerken geschickt, um dort das System und den Sozialismus vor dem Zusammenbruch zu bewahren, und auch mal die Helden der Arbeit in der Provinz kennenzulernen. In der Ostalgie klingt das dann wie Landpartie mit Eis und Kohlenstaub, und es soll schon lustig gewesen sein, mit fast so viel Wodka wie eine Opernpause in Berlin heute, und man war auch so leger gekleidet. Heute jedoch fallen bei uns in den angeschlossenen Westgebieten 20 Zentimeter Neuschnee, und die Katastrophe nimmt ihren trennenden Lauf. Denn ich wäre gern getrennt.
Also, pflege ich normalerweise zu sagen und über den Kuchen nach draussen zu schauen. Draussen stehen manchmal Kühe auf der nach Bergkräutern duftenden Weide, oder, wie jetzt, ein adretter Schneesturm führt die romantische Gewalt der Natur vor, und nicht nur Matsch und Kälte, was man mit einem Tee und Zentralheizung wirklich geniessen kann. Also, ich kann mir beim besten Willen nicht mehr vorstellen, in München zu leben und zu arbeiten. Vor drei Jahren, als dieses Blog gerade richtig gut lief, da wollte mich ein Münchner Verlagshaus quasi mit Blankoscheck bei der FAZ herauskaufen, und letztes Jahr kam da diese Agentur und wollte, dass ich zu ihnen wechsle, München sei doch viel näher als Frankfurt, aber, ganz ehrlich, also (Riesengeste auf die idyllische Alpenlandschaft draussen): Nein. Wirklich. Frankfurt, München, Wladiwostik oder wo auch immer, ich würde da nicht wollen. Und selbst München: Ich kann überhaupt nicht begreifen, was die da alle tun und warum die dort alle hausen, wenn man doch genauso gut hier leben könnte.
Meistens schiebe ich an dieser Stelle formschöne Ideen aus der Zeit nach 1945 ein, als man Berlin vier ahnungslosen Nationen aufhalste und überlegte, das zerstörte München am Starnberger See wieder aufzubauen, dass es aus der Ferne wie ein neues Lausanne oder Zürich, aber leider mit Frankfurter Baukultur ausgesehen hätte. Jedenfalls, ich verstehe das überhaupt nicht. Denn München ist ja nicht weit weg, da kann man hinfahren, wenn man will, die Strassen sind gut ausgebaut. Hin und wieder mache ich das sogar, bis es mir nach zwei Stunden zu viel wird, und ich wieder an den See fahre. Ich verstehe es einfach nicht, wie man in dieser Stadt dauerhaft leben kann. Feinstaub, Raser, Lärm, keine Sterne am Himmel und kein Hofladen, und die Konditoren, nun ja, Diätsachen, dort stirbt niemand am Zuckerschock. So also spreche ich, der ich das Schicksal der 20.000 am See teile.
Nun ist es aber so, dass ich momentan leider auch öfters das Schicksal all der Millionen teile, für die der Weg zur Arbeit etwas weiter ist als meiner, der im Bett beginnt, sich über Wiesen und vorbei an Panoramen zum Konditor am See hinunter schwingt und dann zurück auf die Terrasse führt, wo der Rechner steht. Im schönen München sind – teilweise die Grundlage für diese angenehmen Tätigkeiten bildend – Räumlichkeiten, in denen etwas getan werden muss, und das erfordert meine Anwesenheit. Und weil Handwerker das haben, was man in Unkenntnis des angenehmen Daseins als geregelten Tagesablauf bezeichnet, lerne ich die an einem Sommernachmittag sehr hübsche Cabriostrecke zum See nun aus der Perspektive derer kennen, die sie täglich befahren müssen. Um 7 Uhr in der Früh. Ich sehe die Welt aus dem Leid der Massen, die sich durch den Stau in die Innenstadt quälen. Und was soll ich sagen: Meine Seelenruhe leidet. Ich sitze am Steuer eines Autos und bin schlecht gelaunt.
Immerhin, ich bin angekommen. Man sieht unterwegs meistens den ein oder anderen Unfall, wenn es geschneit hat, oder auch mal vier oder oder sieben. Manche betrachten das, als sei es eine Sensation und gaffen; für mich sieht das eher aus wie etwas, das jeder Mensch von Geist meiden sollte. Man kann schon schick verunfallen. Aber im Gegensatz zu einer in der Begeisterung überschnell angegangenen Serpentine in den Bergen sind solche Auffahrereien aus sich heraus distanzlos, unhöflich und lediglich Ausweis von Frust und Drängelei. Plötzlich versteht man hier das Konzept der Mittlebenskrise: Wer Mitte 40 ist und jeden Tag in seinem geleasten 3-er Kombi in so einem Umfallstau steht, mit der Aussicht, das nochmal 20 Jahre lang zu machen, und all die PS unter der Motorhaube bringen hier auf der Strasse so wenig wie das Zeitzubringen im klimatisierten Büro, der sieht sein weiteres Dasein natürlich kritisch. Und sicher ein wenig kritischer als sein Altersgenosse, der am See zwar auch nicht weiterkommt, sich aber damit abgefunden hat, weil am Ende des Steges das Wasser kommt, und momentan zu kalt zum Baden ist.
Pendeln nach München, das hat da etwas von Hängen, am Hals, im Wind des Schicksals und hin und her, aber am Ende bleibt doch alles beim Alten, nur die Schlaglöcher werden immer tiefer und der Benzinpreis wird höher. Ich habe das jetzt zehnmal gemacht und stelle mir schon schwere Fragen nach dem Sinn des Daseins, und ich ertappe mich dabei, Mietern abzuraten, eine Wohnung zu nehmen, wenn sie weit zur Arbeit fahren müssen: Diese Mobilität kann einem wirklich den Tag verderben, wenn man weiss, dass droben auf der Neureuth schon wieder die Sonne scheint. Und in meinem Dasein ist es nun mal so, dass es genug Leute gibt, die einen am Abend empfangen: „Na, waren Sie wieder in München? Wir haben am Mittag geläutet, weil wir einen Tisch beim Xxxxx bestellt haben, aber Sie waren nicht da, wirklich schade, das war heute noch einmal wie Frühling.” Und man selbst weiss nur von Matsch, Unfällen und Warten im Stau zu berichten, und all den verbissenen Gesichtern, die darauf warten, dass ein Lämpchen die Weiterfahrt erlaubt, und ein anderes Lämpchen dazu mahnt, Ölkonzernbosse noch etwas zu bereichern. Mehr hat man von diesen 800 gefahrenen Kilometern nicht zu berichten. 800 Kilometer. So weit ist es von hier auch nach Rom und zum Glück nicht mehr zurück.
Das ist traurig, aber was sollte man auch sonst berichten. Vielleicht, dass in München Stockwerk für Stockwerk voll mit Menschen ist, die ebenfalls so eine Anreise hinter sich haben und entsprechend gereizt sind. In diesen Kaminen des Systems ist der einzige Ausweg nach Oben, also nehmen sie die schlechte Laune und setzen sie in Intrigen, Druck und Leistung um. Nur manchmal ahnen sie, dass es auch anders sein kann; die Kollegen der SZ entdecken mitunter beim Blick aus ihrem Büroungetüm die Berge und twittern dann, ergriffen und menschlich, Bilder vom Panorama. Wenn ich auf der Neureuth oder dem Hirschberg bin, mache ich ab und zu Bilder in die Gegenrichtung und denke mir: Hic sunt dracones unter den gelben Inversionswetterlagen. Und ich bin dann überhaupt nicht ergriffen, sondern lediglich froh, nicht dort zu sein. Denn hier verbindet die Menschen der Wohlstand auch im Schnee, während der Matsch beim Pendeln alle zu Einzelkämpfern und getrennt streitenden Risiken macht. Sollte es einst wirklich so gewesen sein, dass der Ostdeutsche im Kampf an der winterlichen Kohlenfront, beim Schienenaufhacken und Waggonwärmen seine Gemeinschaft fand, dann ist davon heute im Stau nichts mehr zu spüren. Alle wollen weiter kommen. Um vielleicht mal in einem der Türme zu hausen, die entlang der Verkehrskatastrophe gebaut werden.
Hier wird natürlich keine Kohle geschippt, sondern Geld geschöpft, erfrieren wird niemand und wenn das System zusammenbricht, liegt es nicht am Wetter, sondern am Vergessen der Währungsrisiken und der Inflation durch die Gelddruckerei. Aber auch das wird nicht einen, selbst wenn die Verantwortlichen dann, aus ihren Banken und Fonds entlassen, sich wieder bei den anderen einreihen. Ich sehe die abgekämpften Gesichter der Unfallverursacher und sage mir: Eure Katastrophe trennt Euch von den im Wohlstand Geeinten. Nett ist das natürlich nicht.
Aber was hätte die Welt davon, wenn dereinst ein frustrierter Manager mit seinem geleasten 3-er Kombi in mein Heck kracht? Nicht mal eine gute Geschichte. Daher nehme ich diese 800 Kilometer und vier Jahre aus der Ferne bei der FAZ als Lektion, dass unter dem Inversionswetter nichts, kein Job, keine Agentur, kein Medienhaus und kein Leben ist, das mir zusagen könnte, und bleibe, wo ich bin. Getrennt, aber ich glaube nicht, dass man in München ein Auto mehr auf den Strassen wirklich vermissen würde.