Neben dem Bayern am Tegernsee und dem Bayern im Westviertel gibt es auch noch ganz viel anderes Bayern, und nicht überall steht eine S-Klasse oder ein 7er bereit, um die Menschen dorthin zu bringen. Isabella Hilger kennt die Freuden dieser Provinz und des öffentlichen Personennahverkehrs zwischen den funkelnden Mittelhochhäusern Münchens und der adretten Dörflichkeit nur zu gut – weil sie dort oft steht und beim Warten Zeit hat, sich Gastbeiträge wie diesen zu überlegen:
Der größte Unterschied ist das Warten. Nicht fünf Minuten auf den nächsten Bus oder 15 Minuten auf die nächste S-Bahn, bei dem sich zeigt, wie dünnhäutig und hektisch selbst die Speckgürtelpendler sind, dieses wohlständige, wohlanständige Doppelhaushälften-Gschwerl. Es ist das lange Warten, eine Stunde auf den nächsten Zug. Anderthalb Stunden auf den letzten Bus. Und manchmal konspirieren die Götter des öffentlichen Nahverkehrs und man weiß nicht so genau, wie man heute noch nach Hause kommt. Oder der Bahnmitarbeiter hat einen wirklich abstrusen Tag. “Taxi? Eine Übernachtung kann ich Ihnen anbieten, aber 60 km Taxi? Nein.” Dieses Warten in Zeichen des überforderten Personennahverkehrs am hinteren Rande der Provinz. Da, wo es egal ist.
Natürlich, Warten ist an und für sich keine schöne Sache, denn es kann kalt und dreckig sein, und es kostet Akkulaufzeit für die dünne Verbindung zum Internet. Es bietet aber auch eine bemerkenswerte Möglichkeit etwas zu tun, zu dem man sonst selten kommt: Denken und Beobachten. Also richtiges Denken und wirkliches, intensives Beobachten. Auch hier steckt ein gewisses Gruselpotential, keine Frage. Nachdenken, das kann ja zu Dingen führen, furchtbar. Egal, ob man nun über sich selbst oder die anderen, das Leben, das Wohin, die große Philosophie oder den nächsten Tweet grübelt. Kann alles ungut enden. Mit Erkenntnissen.
Andererseits, es ist eben auch Zeit Gedanken aus zu formulieren. Ganze innere Monologe, ach was, Dialoge über Krisen und Streitgespräche, Argumente, Forderungen können in aller Ruhe geführt werden. Wobei, Ruhe ist unter diesen besonderen Umständen so eine Sache. Es gibt schließlich Mitmenschen, die hier die Mitwartenden sind. Der aufgeregte, telefonierende Businessmensch, der seiner Sekretärin am Telefon erklärt wie ER die Bahn und überhaupt alles führen würde und warum alle außer ihm unfähig sind. Er erzählt dann auch, wie er seine Firma rechtzeitig in “trockene Tücher” gebracht hat, warum ihn die Krise nicht erreicht hat und überhaupt, man hätte sich nur früh genug auf die Asiaten einlassen müssen, jedenfalls seine Sekretärin soll doch bitte seine Frau anrufen und sagen, dass er später kommt. Die Sekretärin scheint das nicht zu verwundern, sie fragt offensichtlich gar nicht erst, warum er es nicht selbst tut.
Das geschwätzige Damentrio mit Hermestüchern, Pumps, glänzende Hochsteckfrisuren. Sie sind nicht mehr jung, aber verbringen offensichtlich viel Zeit damit, sich zu restaurieren. Eigentlich vermutet man sie um diese Uhrzeit nicht beim Warten auf einen Zug, aber nur der fährt in ihr Nest in der weiteren Nähe des Chiemsees. Vielleicht hat es finanziell für Starnberg nicht ganz gereicht, vielleicht hat der (erste) Ehemann einfach die Praxis am Ort oder sie stammen sogar selbst aus einem der noch viel kleineren Dörfer in der Nähe. Sie sprechen aber natürlich über ihren stressigen Alltag, über die Wunder, die Yoga vollbringt und mit welchen Ratschlägen sie anderen zur Seite stehen. Die Tochter von der Dings ist ja auch so eine sensible, jetzt ist sie nach Roseneck zum “Erholen”, das liegt auch alles bestimmt nur an dem schwierigen Medizinstudium. Ja, bestimmt. Keineswegs wurde die Tochter von der Dings vom eigenen Vater mit sanftem Druck zum Studium *überredet*. In der Klinik mit Spezialisierung auf Magersucht wird sie sich bestimmt *erholen*.
Die Lehrlingsburschen, jeder ein Bier in der Hand, die halb cool, halb unsicher über die nächste/letzte Party und den Hasen/die Schnitte/die Bitch reden, bei der immer was geht/man nie ran darf/Hopfen und Malz verloren ist, denn bestimmt ist sie eine Lesbe. Immerhin ist das eine Gelegenheit, sich in puncto Jugendsprache auf dem Laufenden zu halten. An dieser Stelle: Auch die teuersten In-Ear-Kopfhörer der Welt halten nicht all das draußen. Selbst wenn man Abstand hält und die Kopfhörer enger zieht, man erfährt mehr, als wann wirklich wissen wollte. Damit muss man umgehen lernen. Aber dafür ist ja Zeit, wenn man eh schon wartet. Selbst für einen Menschenfreund – und ich bin keiner – zerren all diese ungewollten Informationen an der Substanz. Jetzt gilt es durchzuhalten. Ausharren ist nichts für Zartbesaitete. Wer ein Panoptikum aus Wartenden zu schätzen lernen will, muss ein bisschen trainieren. Dann ist es allerdings sehr unterhaltsam.
Eine Folge dieses Trainings, bei dem der durchschnittliche Pendler aus der Randlage schnell dramatische Fortschritte macht, ist der erstaunliche Umstand, dass es die Sehnsucht nach den angeblich einzigartigen und besonders für junge Menschen unsagbar verführerischen Vergnüglichkeiten der Stadt ein wenig, nun, dämpft. Denn auch der extrovertierteste unter uns entwickelt durch regelmäßige Warteeinheiten eine Wertschätzung für Stille und eine überschaubare Anzahl an Menschen in direkter Nähe. Ich weiß es gibt doch auch positive Varianten von zwischenmenschlicher Interaktion, wie das Feierabendbier oder AfterWorkIrgendwas, aber auch der Enthusiasmus dafür kann gegebenenfalls leiden. Nur kann ich dazu nicht mehr Auskunft geben, denn als introvertierter Nerd aus Leidenschaft hielt sich meine Neugier dahingehend immer in Grenzen.
Stattdessen multipliziert die Warterei ein Verlangen nach dem *Zuhause*, nach dem Ankommen. So, wie die Zeit, die man wie auch immer, zwischen Büro und Heimat überbrückt, zum wenig angenehmen Ritual wird, entwickelt man geradezu ein Zeremoniell des Heimkommens. Der Kontrast zwischen dem Dorf und dem mittleren Ring ist schön, man lernt auch die Mofas der katholischen Landjugend im Vergleich zu U-Bahn-Rowdies mit Side Cut zu schätzen. Plötzlich schmeckt der selbst eingeschenkte Wein besser als der in einer Bar, weil man gleichzeitig Wollsocken tragen kann – und das sage ich als Fan von Cocktail Bars und Klaviergeklimper. Und gerade weil die Läden bereits alle geschlossen sind – zur Erinnerung: es geht um Bayern und seine Provinz – wird man zu einem Innehalten bei der eigenen Geschäftigkeit gezwungen. Was manchmal in Form einen leeren Kühlschranks nervt, aber auch hilft, weil niemand etwas gegen unproduktives Rumlungern ohne schlechtes Gewissen sagen kann. Noch so ein Punkt: Wo es einen letzten Zug zu erwischen gibt, erhalten alle Unternehmungen einen Horizont, wodurch ihr Wert steigt. Riskiere ich die letztmögliche S-Bahn zum Bahnhof? Ist es mir das wert? Statt einer Aneinanderreihung von belanglos gesprächigen Momenten werden die verbrachten Feierabendfreuden in der Stadt isoliert und destilliert, bis sie eine Erinnerung sind. Während die regelmäßigen Wartepausen und Fahrzeiten annähernd ereignis-, aber nicht immer erkenntnislos ineinander fließen, stechen bewußt außerhalb dieses Rituals verbrachte Momente heraus.
Ja, man versäumt auch. Diverses. Gerade, wer noch keine Familie sein eigen nennen kann, erlebt eine Art halbtransparenten Vorhang zwischen sich und den coolen Citykids. Sie kennen längst alle Bars, haben Karten für das Konzert am Abend und lassen sich im Zweifelsfall das Essen liefern. Die Münchner Sorte stürzt sich dann am Wochenende ins Umland und belagert Seen, Berge und Wanderwege eben jener Provinz, in die der Zug hoffentlich in der Nacht noch rattert. Sie unterbrechen Ihre Routine auch. Nur ohne warten.
Warum auch? Das Paradox ist ja: Warten nervt. Es schult keineswegs die Geduld und raubst einem kostbare Lebenszeit. Aber wenn ich von heute auf morgen nicht mehr warten müsste woher nähme ich die Zeit für das Nachdenken?