RAL 6032
Findest Du nicht, dass es mein gesellschaftlicher Tod wäre, fragt sie.
Das Kleid ist grün. Grün ist bekanntlich auch die Hoffnung, aber wäre die Hoffnung je so grün wie das Kleid, dann wäre sie eher eine absolute Gewissheit, nämlich die Gewissheit, dass die Trägerin geschieden ist und um jeden Preis auffallen möchte, auch um den Preis eines gesellschaftlichen Todes. Vermutlich würde man sich hier in der Provinz das Maul zerreissen und sogar von einem gesellschaftlichen Selbstmord sprechen, wobei jene, die ihr selbst die Verantwortung gäben, die ersten wären, die ihr den Dolch der Missgunst in jenes Fleisch treiben wollten, von dem viel, sehr viel zu sehen ist, wenn kein Grün es abdeckt.
Es gibt auf solche Fragen keine richtige Antwort, ich versuche es daher lieber mit der unverfänglichen Standardformel der guten Hausfrau: “Aber nein, ich denke nur, es wird nicht ganz leicht, etwas zu finden, was dazu passt – das wäre beim Pastellfarbenen sicher anders”.
Das Pastellfarbene ist zwar auch nicht gerade ein Ausbund an Körperverhüllung, aber es geht schliesslich um ernste Angelegenheiten (Konzert am übernächsten Wochenende, und Mitte Mai eine Verlobung), die grösseres Publikum mit sich bringen, und da ist so ein signalgrüner Kleiderpfeil auf die restliche Haut nicht eben dezent. Früher, in den 70er Jahren, hat Porsche einen 911er in so einem Signalgrün ausgeliefert. Für Rennzwecke. Im Theater ist dagegen das Parkett bekanntermassen marode, letzthin wäre eine Pianistin beim Abgang von der Bühne sogar beinahe hingefallen. Frauen von hier mit hohen Schuhen wissen um die Risiken und gehen deshalb ganz langsam – es gibt also wirklich gute Gründe, nicht wie ein GT-Rennwagen zu erscheinen. Zumal der gesellschaftliche Tod auch sehr viel früher einsetzen kann.
Man muss zu diesem Zwecke nur vor dem Konzertverein in die Tiefgarage fahren und zuschauen, wie sie aus den Automobilen steigen. Wie der Blick der Frauen immer auf den Männern liegt. Dieser “Sitzt die Krawatte richtig”-Blick. Diese “Sind da doch keine Fussel auf dem Sakko”-Inquisition. Diese peinliche “Ein Einstecktuch wäre gut gewesen”-Befragung. Und natürlich das manchmal namenlose, später mit dem Alter zunehmend resignierte “Hoffentlich schaut niemand auf seine Schuhe”-Grauen. Während die Frauen meistens im Wagen ihre Schuhe wechseln, neigen Männer bislang zur modischen Todsünde, in eben jenen Schuhen, mit denen sie durch den Schnee stapfen, auch durch das Foyer zu trampeln. Das sieht nicht gut aus, der Eindruck ist eher bescheiden, aber jeder hier weiss, dass diese bequemen Schuhe als Zugeständnis an die Tücken des Daseins und die Gebrechen des Alters gegen die Gattin hart erkämpft sind. Gattinnen, die selbst lieber drei Tage danach noch über ihre überlasteten Knochenfehlstellungen humpeln, als einen Abend auf hohe Absätze zu verzichten. Und eigentlich mag ich das.
Ich mag das, weil ich oft erlebe, dass ohne diese Abschreckung des immer drohenden, aber nie wirklich eintretenden gesellschaftlichen Abmurksens vieles daneben geht. Aus völlig unerklärlichen Gründen gefällt es etwa den Medien nun schon seit Jahren, Frauen als Ideal hinzustellen, die viel auffälliger als ein signalgrüner Porsche sind. Mal ein paar Namen, die es auch in seriöse Blätter schafften: Keili Minaog, Madonna, Paris Hilton, Carla Bruni-Sarkozy, Lady Gaga, später dann Pussy Riot und inzwischen auch Femen. Sie alle sind Garanten für unkritisch abgedruckte Geschichten, egal ob sie nun im Gefängnis, auf Entzug, in einem illegal verbreiteten Porno oder in x-ter Ehe sind, oder bei der Vorstellung eines Parfüms oder ihrer Oktoberfestkollektion oder was ihren PR-Agenturen sonst noch einfallt. Es gibt immer so eine, die gerade modern und der Liebling der Presse ist, und mein Verdacht ist, dass sie zum passenden Zeitgeist ausgetauscht werden. Kaum gibt es eine Debatte um Frauenquoten, verschwindet Frau Hilton, und Pussy Riot dürfen demonstrieren. Es gibt immer eine, die öffentlich aufzeigen darf, wie man sich besser öffentlich nicht verhält – und dieses Bündel an sozial unangepasstem Verhalten bekommt dann die volle Aufmerksamkeit.
Sicher, irgendwann kommt dann die für sie schlimmste aller Todesarten: Der Tod durch gesellschaftliches Vergessen. Irgendwann ziehen sie nicht mehr, irgendwann erträgt sie das Publikum, das es dafür wohl geben muss, diese Promis nicht mehr, irgendwann kommt eine daher, die das Ritual der signalgrünen Andersartigkeit besser beherrscht und bereit ist, dafür mehr zu tun – und dann macht ihre Vorgängerin die bittere Erfahrung, dass nur genug Platz für eine dieser Sorte da ist. Es sei denn, es passiert etwas ganz Schreckliches. Dann kommt es zu einem Wiedersehen, und ich habe den Eindruck, dass es auch gern “in Schande”, “in Trunkenheit” oder sonstwie peinlich sein kann, damit diese Öffentlichkeit auch mit dem richtigen Schütteln Abschied von Monaten guter, antibürgerlicher Unterhaltung nehmen kann. Dieser kollektiv begangene, gesellschaftliche Mord sorgt für gesellschaftliche Untote, die sicher einmal ihre “Was macht eigentlich”-Geschichte erhalten. Und dann haben sie dafür ein signalgrünes Kleid im Schrank.
Warum dafür stets Frauen verwendet werden, ist mir nicht wirklich klar. Männer müssen wirklich umfassend gegen Konventionen verstossen, um wie Edathy oder Hoeness kollektiv abgeurteilt zu werden. Vielleicht geht es bei der Medieninszenierung um den erhofften Schockeffekt, dass ausgerechnet Frauen etwas tun, das der Spiessbürger vom zarten Geschlecht nicht erwarten würde – und ganz so, als wüssten Eltern und Altersgenossen nicht längst, wo die RCDS-Aktivistin die Aufputscher fürs Repetitorium holt. Dass sich manche Stimme in den Medien obendrein darin gefällt, herkömmliche Lebensentwürfe abzukanzeln, sei es, dass sie zu spiessig oder zu wenig klassenkämpferisch sind, ändert aber auch nichts am bestehenden Wertesystem: Angekeift und brüskiert werden die besseren Kreise und ihre Ideale schon etwas länger, und diesmal wird es von uns im Wissen ignoriert, dass die Wortführer unserer Epoche nicht mehr genug beseite schaffen, um später in der Toskana von den Tagen zu träumen, da sie es den Normalen richtig gezeigt haben. Was dem Alt-68-er die Toskana, ist dem Bürgerfeind von heute die Altersarmut.
Und die ist ja auch eine Art gesellschaftlicher Selbstmord. Es ist nun mal so, dass gute, schön gekleidete Töchter und Söhne des Bürgertums leichter Eingang finden, wenn sie im Konzertverein einen guten Eindruck hinterlassen. Die Suche nach einer sicheren Immobilie in jungen Jahren mag manchen Kreativen als Unterordnung erscheinen, aber es kann sich nicht jedes Kind erfolgloser Schauspielerei in Berlin hingeben in der Hoffnung, dass dereinst ein Paparazzo öffentlich wirksame Bilder vom Kokainmissbrauch macht. Und solange die Konventionen nicht mehr als die Kaufentscheidung zwischen zwei Kleidern mit der Eltern Scheckkarte verlangen, ist die Vermeidung des öffentlichen Todes kein wirklich grässliches Schicksal.
Natürlich ist die Darstellung dieser Konflikte meidenden Normalität keine Sensation, die man in den Medien ausschlachten könnte. Keine frühe Suche nach einer Immobilie für das Alter ist eine Nachricht, keine Scheidung unter Beibehaltung der Form wird je Erwähnung finden. Diese Normalität ist nicht das, was dem grossen Publikum gefällt, aber das kleine Publikum, die Gesellschaft, ist froh, wenn sich alles findet und Menschen, wie meine Grossmutter so schön sagte, aufgeräumt sind. Und wenn es doch einmal das signalgrüne Kleid sein muss: Bald sind auch wieder die Barocktage in der Nachbarstadt, in einer Bibliothek des Rokoko. Da fällt das gar nicht mehr besonders auf, und ausserdem lebt in dieser Stadt sowieso keiner, den man kennen würde.
HINWEIS:
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