Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Nackt und tot vor der Geschichtsforschung

Sie kennen keine Rücksicht und kein Erbarmen: Historiker werden Stehtische und Brausewerbung nicht als Sieg der Aufklärung sehen, sondern als Versagen an den Möglichkeiten unseres Reichtums.

Tischlein deck Dich!

Sterben hat einen unverdient schlechten Ruf. Als Historiker weiss man, dass der Vorgang an sich auch viel Ärger erspart: Die wenig charmante Herablassung, die man früher selbst für Fehler und Probleme vergangener Epochen übrig hatte, wird den eigenen Lebensumständen zuteil, und das merkt man als Toter nicht mehr. Und ich meine nicht einmal die grossen Idiotien unserer Epoche von der Ukraine über den Südsudan und Venezuela bis Fracking, Atomkraft und genderneutrale Kinderkleidung, für die man zur Not auch andere verantwortlich machen könnte – nein, Kulturgeschichtler werden schon bei der Betrachtung unseres Alltags erschaudern. Ich zeige Ihnen mal was – das hier ist eine Szene am Business Campus in Garching bei München.

Da war ich gestern. Und das ist der Business Campus Döner. Natürlich ist erst einmal nichts gegen einen Döner oder Falafel draussen bei schönem Wetter einzuwenden, selbst wenn nicht jeder Kollege ein inniger Freund von Knoblauchgeruch ist. Aber hier, vor den Toren von München, arbeitet die Elite der nächsten Generation. Hier werden die technischen Grundlagen für die nächsten Jahrzehnte und das Deutsche Imperium in Europa gelegt, hier sind die Besten der Besten der Besten, habe ich mir sagen lassen, und die Anlage ist teilweise so neu, dass sie gar nicht mehr an das Platzen der New Economy Blase vor 12 Jahren erinnert. Hier tragen sie Walther-Pistolen in den Hosenbünden, um sich gegen die Sklavenjäger der Technologiefirmen zu wehren, die es wagen, weniger als 200.000 Euro Jahresgehalt zu zahlen, so berichten es mir wohlunterrichtete Kreise. So weit sind wir also gekommen, das ist die neue Führungsschicht, die für Wohlstand, Lebensglück und Wachstum sorgen wird.

Das ist auf den ersten Blick gar nicht schlecht, denn vor 300 Jahren sassen ihre Vorfahren vielleicht noch in Holzhütten neben den Bauernhöfen, hüteten Schweine und stopften, was sie hatten, an einem derben Holztisch in sich hinein. Wenn sie Glück hatten, war es mal Fleisch, wenn sie Pech hatten, war es ein Brei aus Körnern oder als Fleisch getarnte Schlachtabfälle. Auf ihren derben Holztischen wurden keine zuckerhaltigen Getränke beworben, aber Zahnausfall bekamen sie auch so. Und wenn sie da so sassen und vielleicht auch schon so klug waren, wie ihre hochbegabten Nachfahren, dann werden sie sich gesagt haben: Wieso hat der Herr im Schloss eigentlich eine Tischdecke aus Damast, auf der er speist, einen Teppich zu Füssen und Porzellan aus dem fernen Reich der Mandschu? Und wieso habe ich nur einen derben Holztisch, Stroh und einen angeschlagenen Topf? Die einen erfanden dann Märchen vom Tischleindeckdich, die anderen erfanden die Aufklärung, machten eine Revolution, Bildung, Fortschritt, sorgten für ihre Kinder und die stehen jetzt also an diesen Tischen da und essen Fleisch im Stehen, um danach vielleicht gleich wieder die Community zu managen, was mitunter auch etwas an das Hüten der Schweine erinnert, oder nach Bugs suchen, als wären es die altbekannten Wanzen, und andere erzählen, was Wunderbares alles hinter Clouds – den früheren Wolken – kommt. Heute würde ich das so keinesfalls sagen, ich möchte keinem zu nahe treten, aber in hundert Jahren?

Ganz ehrlich, ich kenne das fiese Gehirn der vergleichenden Geschichtsschreibung, die zwar unzulässig ist – man muss die Schweinehirten im jeweiligen historischen Kontext beurteilen – aber es ist in etwa so unzulässig wie Falschparken oder Rasenbetreten, und deshalb werden zukünftige Generationen der Wissenschaft in ihrer herzlosen Art genau solche Dinge über uns schreiben. Dass die Aufklärung einen Ursprung, einen Höhepunkt und ein Ergebnis hatte. Wir sind dann alle tot, und wenn sie sich über unsere neu erwachte Liebe zu veganer Kost, vergessenen Getreidesorten und rohen Holztischen aus dem Antikhandel lustig machen, deren stolze Bilder sie auf den Festplatten von Pinterest entdecken, bekommen wir das zum Glück nicht mehr mit.

Diese Welt an den Brausetischen ist, wenn man es – hoffentlich – von Ihrer Villa in München/Grünwald aus betrachtet, fast genau auf der anderen Seite vom Tegernsee, wo die Holztische der Bauern recht lang in Gebrauch waren, und man sich auch ohne Aufklärung und unter erdrückenden CSU-Mehrheiten laut Gregorianischem Kalender in die gleiche Moderne gekämpft hat. Man kann ja viel schlechtes über die Region sagen – letzte Woche etwa fing eine S-Klasse einfach so Feuer und ich finde, die Gemeinde hätte im Blumenbeet an der Strasse vor meinem Haus mehr Tulpen pflanzen können – aber hier war es dennoch so, dass man den Kindern, wenn möglich, eine Aussteuer mitgab. Und wie es so ist, gehört deshalb das Tischtuch, in seiner von den Adelszeiten an gefallenen, handgestickten Version, einfach dazu. Man würde nie den Osterzopf mit dem dicken Zuckerguss einfach so auf de Tisch hauen, man tut eine Tischdecke darunter und ein Pfund Silber und es passt.

Sollte nun ein Meteorit einschlagen, was ich natürlich nicht hoffe, und uns auslöschen – das wäre ein fantastischer Befund für die Ausgräber. Natürlich würden sie falsche Schlüsse ziehen, aber mit dem Wissen um den Fortschritt des Menschen zum Besseren würden sie zum Ergebnis kommen, dass es bei uns am See tatsächlich gelungen ist, den Reichtum der Epoche in ein Leben umzusetzen, das sich vor 300 Jahren allenfalls die Mächtigsten leisten konnten. Und in Garching wäre all der immense Reichtum der Menschen den Weg zum Brausetisch gegangen, zu einer Art effektiven Scheunenhaltung der Menschen auf vielen Ebenen, und ausserdem wurde – wie bei der Schweine- und Geflügelzucht – reglementiert, was einem jeden in diesen Arbeitsställen zustand. Schreibtisch statt Rosenholztisch aus China, Steingutbecher statt Porzellan, pflegeleichter Fussboden statt Parkett und Perser. Uns erscheint es natürlich völlig logisch, dass die schrulligen Bewohner des Tegernseer Tales ein wenig abgeschnitten von den Zwängen der realen Welt sind, mit Erwerbsleben und öffentlichem Nahverkehr (mit Ausnahme unserer strahlend weissblauen Schiffflotte auf dem See natürlich), und in Garching die Zukunft gemacht wird.

Aber die gesamte Geschichtsforschung besteht leider darin, Quellen anzuzweifeln, ideologiekritisch zu denken und zu erkennen, welche Fehler die Menschen früher gemacht haben. Geschichtsforscher werden in so einem roten Brausetisch die Werbung erkennen und sie mit den explodierenden Kosten des Gesundheitssystems in Verbindung bringen, sie werden den Segen der Rechner sehen und ihren Fluch, und sie werden auch vielleicht die Unterlagen der Banken kennen, die damit ihre Gewinne schöpften. Ausserdem haben Geschichtsforscher selten BWL studiert und gehen wohl lieber zu schöngeistigen Zeitungen denn zu raffgierigen Banken. Sie ahnen es vielleicht: Kaiserschmarrn ist ein Arme-Leute-Essen mit zu viel Zucker, aber auf einer Tischdecke und mit einem Rokokoteller stimmt er als Befund den Historiker weitaus glücklicher, als der Inhalt einer Business Camp Restmülltonne.

Fragen Sie sich selbst, was Sie lieber in einer Ausstellung sehen wollten. Insofern würde ich raten, noch einmal an unser aller Vorfahren zu denken, die sicher nichts Schlechtes darin sahen, die Schweine zu hüten: Sie wollten mehr und sie haben es bei uns auch geschafft. Wir sind historisch betrachtet ein abnorm reiches Land, an der absoluten Spitze der menschlichen Entwicklung, selbst den Ärmsten hier geht es allein wegen der medizinischen Versorgung, der Solidargemeinschaft und anderen Triumphen der Bürgerlichen über die Adelsgesellschaft weitaus besser als den Reichen des Rokoko. Keiner muss mehr wegen einer kleinen Wunde, Syphilis oder Erfrieren im Winter sterben. Wir sind weit, sehr weit gekommen, und wäre es da nicht schön, wenn wir auch den Damast des Adels, sein Silber und seine Tischmanieren so behalten, wie wir seine anderen Rechte der Freiheit ebenfalls in Anspruch nehmen?

Heute schützt Sie noch das Persönlichkeitsrecht vor allzu scharfer Ablehnung der Stehtisch- und Alupapierkultur von Garching bis zum Münchner Filmfest. In hundert Jahren sind Sie tot und schutzlos gegen die Wissenschaft, und ihrem Hang zu bösartigen Übertreibungen der realen Zustände. An mir liegt es nicht, ich habe Sie vor Meinesgleichen gewarnt.

HINWEIS:

Der gleiche Beitrag wird wie immer auch im Kommentarblog serviert.