Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Satiriker in abendländischer Tradition wegsperren

Everybody has a weapon to fight you with to beat you with when you are down
Anne Clark, Our Darkness

Religiöser Extremismus hat viele Gesichter: Manchmal sind es Einzeltäter oder kleine Gruppen wie die Attentäter im Fall von Charlie Hebdo, von denen sich dann die grosse Mehrheit entsetzt abwendet. Aber manchmal sind es auch Staaten wie das angeblich prowestliche Saudi-Arabien, das am Tag, da das Drama in Paris beendet wurde, den Blogger und Aktivisten Raif Badawi auspeitschen liess. Fünfzig Schläge, die ersten von insgesamt tausend, und zehn Jahre Haft hat Badawi im angeblichen Rechtsstaat Saudi-Arabien bekommen, weil er über die Rolle des Islam in der Gesellschaft reden wollte.

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Wir empfinden so etwas als mittelalterlich und verbinden das mit den Tagen unserer eigenen schwarzen Epoche, eben, dem sprichwörtlichen finsteren Mittelalter. Aber wie so oft beruht unser Empfinden auf einem Mangel an Bildung, denn auch unser Strafgesetzbuch ziert ein Paragraph zur Gotteslästerung, wenngleich er heute kaum mehr zur Anwendung kommt, und auch niemand mehr ausgepeitscht wird. Öffentliche Körperstrafen kamen bei uns indes erst in der frühen Neuzeit in Mode und hielten sich bis weit ins 19. Jahrhundert. 1900 wurde das Züchtigungsrecht der Herrschaft gegenüber dem Gesinde abgeschafft. Sogar gewaltfreie Erziehung ist bei uns seit 2000 vorgeschrieben. Weil das aber so ist, liebe Leser, könnte man hier einmal die Frage stellen, wann eigentlich bei uns – wir lassen die wirklich finstere Zeit des Nationalsozialismus einmal aussen vor und ignorieren auch die DDR – ein Mensch wegen Lästerung einer Ideologie mittels einer kulturell hochwertigen Satire weggesperrt und ruiniert wurde. Also kein Terror, sondern mit rechtsstaatlichen Mitteln und weitgehender Akzeptanz der Bevölkerung, so wie in Saudi-Arabien.

Im Rokoko vielleicht? Während der späten Aufklärung als Gegenbewegung der Kleikalen? Im Biedermeier, während der Restauration, unter Metternich?

Das sind alles feine Vorschläge, aber es ist gar nicht so lang her. 1895 wurde der Autor Oskar Panizza zu einem Jahr Einzelhaft verurteilt. Anlass war ein Buch, das wir heute als Lappalie betrachten würden: Das in kleiner Auflage vorsorglich in der liberaleren Schweiz gedruckte Stück „Das Liebeskonzil“, das sich über Gott und die Welt, genauer, das römische Papsttum lustig macht. Geschehen ist da alles ausgerechnet in jenem München, das damals nach allgemeiner Vorstellung eine liberale Künstlerstadt gewesen sein soll. Allein, im Liebeskonzil wird nicht nur die damals bereits bekannte Neigung zu Ausschweifungen am Hof des Borgiapapstes Alexander VI. thematisiert. Dieses Benehmen führt obendrein zu einer schweren Krise im Himmel, der von einer intriganten Maria, einem schwindsüchtigen Jesus, einem alterssenilen Gott und schaurig singenden, verhungerten Tiroler Kindern entsprungenen Engeln bevölkert wird. Dort sieht man das Treiben mit Missgunst und bestellt den Teufel ein, damit er eine Strafe finde. Der Teufel zeugt daraufhin mit Salome eine Trägerin der Syphilis und lässt sie, zur Zufriedenheit des Himmels, auf die Menschen los.

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Geschmackvoll ist das nicht zwingend, aber nachdem Panizza schon früher wegen antikirchlicher Schriften aufgefallen war, statuierte man an ihm ein Exempel. Den Prozess mit einer fingierten Anklage würde man heute keinesfalls als rechtsstaatlich bezeichnen, und die Geschworenen jener guten, alten Zeit hatten auch nichts für Panizzas Verteidigungsrede übrig, in der er die Freiheit der Kunst beschwor. Sehr zur Zufriedenheit konservativer Kreise wurde Panizza dann auch verurteilt, zumal er sich als Atheist bezeichnet hatte, und keinesfalls auf – was ihn vielleicht gerettet hätte – Unzurechnungsfähigkeit plädieren wollte.

Man liest das Buch heute und, nun ja, man ist im Vorabendprogramm des TV Schlimmeres gewöhnt. Panizza konnte auch zutreffend behaupten, dass es derartige Stücke im Barock auch schon gegeben hat, und als ich das Buch vor dreissig Jahren in die Hand bekam, fühlte ich mich davon wirklich nicht zum Hass gegen das Christentum angestachelt. Es ist halt Satire und Satire darf alles. Allerdings hatte ich da die Rechnung ohne den modernen Freistaat Bayern gemacht, denn als ich vorschlug, man könnte das doch in der AG Literatur meines Gymnasiums besprechen, wurde das abgelehnt. Sicher, das Buch war erhältlich, aber dem Lehrer, einem gleichzeitig klugen und vorsichtigen Mann, war im Gegensatz zu mir klar, dass diese Lektüre an dieser Schule auch damals noch übel ausgegangen wäre.

Panizza zahlte damals im schönen, liberalen, künstlerischen München einen hohen Preis und sass die Strafe bis zum letzten Tag ab. Danach war er ein anderer Mensch und driftete zusehends in den Wahnsinn ab, um die letzten 16 Jahre seines Lebens dann im Irrenhaus zu verbringen. Sein Hauptwerk musste 1913 mit grösster Vorsicht als Privatdruck vertrieben werden, weil man den öffentlichen Verkauf nicht riskieren konnte. Noch 1962 ging die Staatsanwaltschaft wegen der Verbreitung pornographischer Schriften gegen den Versuch vor, ein Faksimile des Originals in einer Auflage von 300 Stück zu verkaufen. Noch 1985 wurde eine Verfilmung in Tirol – da wo die Kinder verhungern und zu Engel werden – verboten, und 1994 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Entscheidung bestätigt.

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Da stehen wir in diesem Europa. Wir stehen zwei Dekaden nach dem höchstrichterlichen Verbot einer Jugendstilposse eines Autors, der ein Jahr ins Gefängnis musste, weil ein paar hundert Menschen privat, ohne damit jemanden zu belästigen, ein Buch gelesen hatten, in dem eine Religion nicht schmeichelhaft dargestellt wird. Und als im Jahr 2000 von der CSU gefordert wurde, den fraglichen Paragraphen zu verschärfen, war ich auf der Pressekonferenz der Katholiken in Bayern. Natürlich waren sie dafür. Und was wäre dann mit Panizzas Liebeskonzil, habe ich gefragt. Die Antwort war nicht wirklich tolerant.

Die meisten von denen sind noch unter uns. Es ist unwahrscheinlich, dass man den Paragraphen noch verschärfen wird, aber es gibt ja auch noch den Schutz der Jugend, der Prostituierten, die Reinheit des Netzes, und Pornographie wie am Hofe von Alexander VI im Liebeskonzil ist natürlich auch keine Kunst, sondern eine Gefahr für unsere Kinder. Wir bringen dafür keinen mehr um. Wir lassen dafür niemanden mehr in Einzelhaft verschimmeln. Aber die gleichen Politiker, die sich heute auf Charlie Hebdo berufen, sind diejenigen, die morgen wieder über die Gefahren des Internets reden, mehr Überwachung fordern und nach Sperren schreien.

Das ist fraglos besser als die Taliban und der Islamische Staat, aber solange wir selbst solche Herrschaften in Parlamente schicken und uns von ihnen regieren lassen, sollten wir nicht gar so laut auf unsere christlich-abendländische Kultur verweisen. Panizza, der noch keine hundert Jahre tot ist, wurde für genau diese autoritäre Kultur ruiniert, und ob man das Liebeskonzil inzwischen in meinem alten Gymnasium in der AG Theater aufführen dürfte?

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Ich wäre also wirklich begeistert, wenn unsere besorgten und engagierten Politiker, das kann bei so einem alten Buch und so einem unfairen Justizskandal doch nicht schwer sein, erst mal Je suis Panizza sagen könnten. Oder Je suis Raif Badawi. Der ist nämlich noch nicht tot, der soll erst öffentlich totgeprügelt werden, und da könnte man vielleicht noch etwas tun. Gerade als Politiker in christlich-abendländischer Tradition. Und damit meine ich nicht den Export von Panzern nach Saudi-Arabien.