Ich glaube immer an das Gute.
Leo Kirch
Am Mittwoch kamen die neuen Tonträger: Arien von Roberta Invermizzi, Ensemble Lorenzo da Ponte, neapolitanische Sonaten für Violoncello. Seit dem Beginn meines Studiums verfüge ich über keinen Zugang zu einem TV-Gerät mehr, und deshalb weicht meine Vorstellung von Unterhaltung deutlich vom passenden Unterdurchschnitt in diesem Lande ab: Wenn andere Fenster blau erleuchtet sind, funkeln bei mir die Kronleuchter, oder die Röhren des Verstärkers glimmen mit dem rotblauen Schimmer der fliessenden Elektronen vor sich hin. TV erfahre ich immer nur aus zweiter Hand, aus Besprechungen etwa, die ich lieber Alter Musik vorbehalten sehen würde, aber mir ist natürlich bewusst, dass Masse zählt. Ausserdem möchte ich nicht, dass Viola da Gamba und Theorbe so populär wie Mittelaltermärkte werden. Es freut mich, wenn die automatische Fehlererkennung im Schreibprogramm das Wort Theorbe gar nicht kennt. Es darf schon alles so bleiben, wie es ist.
Besonders brauche ich die Tonträger dann, wenn das Netz wie eine Kloake überläuft von Geschrei und Hass. Mir ist aus meiner Jugend bekannt, dass manche Menschen erstaunlicherweise das TV-Gerät anschreien, wenn dort etwas verkündet wird, das ihnen nicht behagt, obwohl das doch gänzlich sinnlos ist – man hört es auf der anderen Seite des Gerätes nicht. Das wird im Netz weiter gemacht, und vielleicht hoffen sie ja, dass auf der anderen Seite jemand sitzt, der das alles niederschreibt, eine dicke Akte macht und die dann am nächsten Morgen dem Senderchef vorlegt, der dann sagt: „Pardautz. Ja aber Hallo. Das ist doch die Höhe. Ja, wenn Frau K. aus Reamaring und Herr P. aus Berlin a. d. Spree unisono getwittert haben, man sollte unseren Moderator därmen und seine Eingeweide den Hunden vorwerfen, dann machen wir das.“ Übrigens ist es ein Zeichen für die Ambivalenz des ethischen Fortschritts, wenn die Worterkennung nicht nur bei „Theorbe“, sondern auch beim „därmen“ versagt. Falls Sie das noch nie gesehen haben: Da wurde den Opfern bei lebendigem Leib der Bauch aufgeschnitten und der Darm herausgewickelt.
Allerdings ist auf der anderen Seite des TV-Geräts nur eine Frau Krause, und Senderchefs schauen allenfalls auf die Einschaltquote, schnaufen und lassen sich einen Kaffee bringen. Der Chef ist so indolent wie ein Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung beim Verbreiten falscher Zahlen über CSU und Frontex. Das muss man sich mehr so wie einen Regenten in seinem Palast vorstellen, das Unmutsgeheule seiner Untertanen ist am Ende seines Reiches, acht Reiterposttage entfernt, und ich weiss auch gar nicht, ob ich das schlecht finde. Denn Därmen ist eine unerfreuliche Sache und ich bin schon erfreut, dass man den Ungarn, die die Todesstrafe fordern, deutlich nahebringt, wie wenig das auf diesem Kontinent einen Platz bekommen sollte.
Es ist also nicht zu erwarten, dass demnächst bei uns Todesstrafen über Abstimmungen in sozialen Medien veranstaltet werden, aber auf den Jubel, den so etwas auslösen würde, durfte ich letzte Woche einen Blick erhaschen: Als nämlich Sepp Blatter und Günther Jauch von ihren jeweiligen Posten zurücktraten. Der eine als Chef des TV-Zulieferers FIFA und der andere als Moderator einer Sprechsendung in der ARD. Zusammen übernehmen sie, wenn ich das zutreffend beobachte, einen grösseren Teil der modernen Abendgestaltung als beispielsweise Sexualität, und das Schnauben und Erregen, das ich so mitbekomme, spricht nicht gerade für ein dezentes Engagement der Zuschauer: Da werden Mannschaften verteufelt und der Jauch gleich mit, wenn er es wagt, Gäste einzuladen und reden zu lassen, die mit der Unverschämtheit einer anderen Meinung vorstellig werden. Eine andere Meinung ist in etwa die 4:0-Führung einer gegnerischen Mannschaft. Aber jetzt ist das alles ja vorbei und der Weg offen für Alternativen. Nicht nur im TV und an der Spitze der FIFA.
Sondern beim hauseigenen Gesprächskreis, den es nun einzurichten gilt. Oder beim Web-TV. Oder beim heimischen Fussballklub. Oder beim Federball im Park. Es muss ja nicht immer Fussball sein, die Sommerabende sind lang und warm, man könnte also aktiv denen da oben zeigen, dass man sie gar nicht braucht. Ein allseits verhasster Ken FM macht seine Videoshow mit schrägen Figuren – all die aufgeklärten Menschen, die aus ethischen Gründen dem Jauch die Pest an den Hals wünschen, sollten da doch formvollendet und mit erheblich tiefsinnigeren Gästen dagegen halten können. Es kann doch wirklich nicht so schwer sein, und die Mittel, die man dafür braucht, kosten heute nicht mehr sonderlich viel. Youtube wartet. Frisbee macht auch Spass. Gebrauchte Rennräder sind gar nicht so teuer. Die Waffen der Massenmobilisierung gegen die Monopole sind längst da, es gibt gar keinen Grund mehr, sich schräge Gäste von Jauch oder unsägliche Sendezeiten von Blatters früherem Verein aufzwingen zu lassen.
Ich meine das nicht nur theoretisch – ich schreibe im Netz und habe es nicht nötig, mich an Jauch zu orientieren. Meine Lieblingssportart wird professionell von rollenden Apotheken beherrscht, die angeblich so sauber sein wollen wie die deutsche Bewerbung für die Fussball-WM: Sie werden hier dennoch nie aktuelle Berichte über den Giro dItalia lesen. Der kam vor drei Wochen bei mir vorbei: Ich ging nicht hin. Und wenn sogar ich alter, nicht wirklich weisser, heterosexueller Mann in der Lage bin, den feministischen Diskurs zu formen und meinen schlaffen Körper 2000 Höhenmeter durch die Toskana zu schleppen, dann sollte bei anderen doch wenigstens ein politischer Strick- und Skatabend mit Eierlikör möglich sein. Mit Verweigerung ist es möglich, Einfluss zu nehmen, und wenn es alle tun, wird es sicher auch besser und schöner, weil der Jauch, so sagt er der Konsens, wird nie eine anständige Sprechsendung schaffen. Hasse nicht die Medien, sei die Medien, sage nicht nur ich, sondern auch der von mir beklaute Jello Biafra von den Dead Kennedys. Aber es wird noch nicht einmal versucht.
Mir ist gestern bei der Wahl in der Türkei die Erklärung dafür eingefallen: Weil wir in einer postfeudalen Aufmerksamkeitsoligarchie leben. Manchmal vergesse ich das, aber dan twittert wieder ein sozial bewegter Mensch über den Umstand, dass die vom schwarz arbeitenden Rumänen gebrachte Lieferpizza so teuer ist, und dann fällt mir das Problem mit unseren Klassen wieder ein. Als die Türkei noch das Osmanische Reich war, gab es einen Sultan, und wenn das Volk wütend wurde, liess er einen Wesir mit einer Seidenschnur erdrosseln. Das war damals so üblich, für den Wesir Berufsrisiko und für Sultan und Volk ein erbauliches Schauspiel. Jeder wusste genau, woran er war, und so war das System stabil und bedurfte nur bei grösseren Exzessen der Bereicherung einer regulativen Massnahme an der Gurgel eines Menschen. Im theokratischen Gottesstaat bestimmte der Sultan, wer umzubringen sein. Wir sind gesellschaftlich weiter und überlassen die Benennung der gewünschten Opfer der Allgemeinheit. Treten dann die besagten Leute zurück, ist der Jubel gross, und die Wortführer überlegen, wen sie als nächstes Ziel herausheben können.
Man hat dieses Geschäft, das für den Sultan wahrlich kein Schönes gewesen ist, an die eigentlichen Nutzniesser ausgelagert. Im Wissen natürlich, dass es für sie sehr viel einfacher ist, sich auf der Wohnlandschaft mit Bier und Lieferpizza unterhalten zu lassen und hin und wieder einen abgetrennten Schädel serviert zu bekommen, als ihre eigenen geistigen Möglichkeiten zu nutzen. Es passt einfach besser zur Zivilisationsstufe, die wir in der menschlichen Entwicklung auf dem holprigen Weg zu Aufklärung gerade erreicht haben. Dass die neuen Leibeigenen mit exakt jenen Mitteln über das Schafott jubeln, mit dem sie etwas für ihre eigene Herzensbildung und kluge Debatten tun könnten, ist da vermutlich weniger ein Systemfehler als schlichtweg althergebrachte Tradition.
Natürlich will ich Herrn Blatter nicht verteidigen oder gar darauf hinweisen, dass ich an sauberen deutschen Sport so wie an saubere Giftgase glaube. Ob jetzt die Deutsche Bank oder die FIFA mit halbseidenen Methoden Gewinne optimiert, spielt bei der moralischen Beurteilung keine Rolle. Ich will nur sagen, dass in der letzten Woche ein wenig zu viel mit der Seidenschnur agiert wurde, und man da vielleicht bei den Selbstentprivilegierten eine falsche Erwartungshaltung erzeugt, das könnte jetzt dauernd so weiter gehen. Auch zweit- und drittklassige Chargen, die als Opfer taugen, wachsen nicht auf Bäumen, und man sollte das Publikum schon im Glauben lassen, dass es sich beim Heben der verbalen Mistgabeln wirklich angestrengt und den Sieg nun endlich, endlich verdient hat. Dann sinkt es zurück in sein Sofa, wählt eine Talkshow aus, und bei mir erklingt unter dem Kronleuchter die wunderschöne Stimme von Roberta Invernizzi.
Oder ich fahre mit dem Rad. Eigentlich mag ich freie Strassen und bin froh, niemanden zu sehen, der dort seine niedrigen Aggressionen auslebt. Die sollen mal schön vor dem TV-Gerät bleiben. Es ist schon gut, wie es ist, und über Aufklärung reden – na, da kommen noch genug andere, besser geeignete Jahrhunderte entlang der Seidenschnur unserer Geschichte.