Der einzige weisse Mann, dem man trauen kann, ist ein toter weisser Mann
Robert Mugabe
Es gibt den Mietvertrag. Und es gibt mündliche Absprachen. Nachtruhe ist ein von allen dehnbar ausgelegter Begriff. Im Mietvertrag steht bei den kleinen Wohnungen auch, dass sie nur für eine Person vorgesehen sind. Seit fünf Jahren sage ich aber gleich bei der Unterzeichnung dazu, dass ich kein Problem habe, wenn etwa ein Partner mal für ein paar Monate einziehen würde. Noch jeder Mieter fand das abseitig, denn man lebt doch gerne allein. Allerdings war jeder Mieter später froh um die Regelung, denn meine Heimatstadt ist übervoll. Und da kann es oft passieren, dass ein Unter-Unter-Mietverhältnis in einer WG platzt und jemand unvermittelt auf der Strasse steht. Es sind WGs, die für ein Zimmer mit zehn Quadratmetern dreihundert Euro nehmen. Weit ausserhalb des Stadtzentrums. Und es passiert den Studenten in dieser völlig überfüllten Stadt so oft, dass die letzten sechs Mieter allesamt ihren Partnern diese Option zumindest übergangsweise für ein paar Monate anbieten mussten.
Das hier ist das industrielle Herz des Landes. Meiner Heimatstadt geht es famos in allen Belangen, es herrscht Übervollbeschäftigung, und das schlägt sich auch im Lohnniveau nieder, und bei den Mieten – sofern man nicht gleich kauft. Der Wohnungsmarkt ist nur so entsetzlich wie München vor fünf Jahren, und auch wirklich schreckliche, heruntergekommene Altstadthäuser, deren Restaurierung vor der Finanzkrise noch unrentabel gewesen wäre, sind jetzt begehrte Objekte. Man kann jede Dachkammer vermieten; das einzige Problem ist die Abwehr des Ansturms derer, die nicht zum Zuge kommen. Es gibt windige Geschäftemacher, Betrüger und mit Osteuropäern überfüllte Gehöfte 20 Kilometer ausserhalb. Die Stadt ist eine bundesweit beachtete Erfolgsgeschichte. Nur an Wohnungen mangelt es. Gewaltig. Woanders sind Studenten eine hochwillkommene Auffrischung, bei uns dagegen sind sie entweder Melkkühe oder eben schnell mal auf der Strasse, wenn eine WG zugunsten eines potenten Käufers aufgelöst wird.
Der Erfolg schlägt auch auf die Steuereinnahmen durch. Bayern ist das Land mit den höchsten Steuereinnahmen in Deutschland. Und hier nun kommt der sogenannte „Königsteiner Schlüssel“ ins Spiel, der eigentlich zur Forschungsfinanzierung und deren Verteilung auf die Bundesländer erfunden wurde. Der Schlüssel setzt sich zu einem Drittel aus der Bevölkerungszahl zusammen, und zu zwei Dritteln aus den Steuereinnahmen. Wirtschaftsstarke Länder müssen überproportional viel beitragen. Oder momentan überproportional viele Flüchtlinge aufnehmen. Es ist der Königsteiner Schlüssel, der besonders viele Flüchtlinge bei uns auf eine Stadt treffen lässt, die schon für ihre eigenen Bürger kaum mehr genug Wohnraum zur Verfügung stellen kann. Selbst ich beschränke mich allein auf eine Wohnung, in der man eine vierköpfige Familie nur beengt unterbringen könnte, eine kleine Gästewohnung, einen Abstellraum, zwei Speichergeschosse und eine Dachterrasse mit nur 20m².
Mit Blick auf den Stadtpark. Bevor die Stadt ein industrielles Zentrum wurde, war sie eine Festungsstadt, in der das Königreich Bayern sein Vermögen versenkte – vergleichsweise sinnlos, solange man nicht als monopolartiger Lieferant für die Versorgung der Bauarbeiter davon profitierte, wie es meine Familie erfolgreich tat. Der Festungsgürtel wurde natürlich nie beschossen, und heute ist er ein die Altstadt umgebender Park. Durch diesen Park verlief früher, als ich noch im Westviertel am See wohnte, mein Schulweg, und wäre dort nicht ein Parkplatz am Hallenbad, wäre es sicher eine der schönsten Wohnlagen der Stadt. Ins Zentrum geht man von hier aus zwei Minuten. Zwei Minuten sind es auch zum grossen Freibad, zum schönsten Kinderspielplatz, und wer noch eine Minute weiter geht, kommt zu einem der schönsten Biergärten der Stadt. Mit dem Rad sind es genau sieben Minuten zum See, entlang des schönsten Wohnviertels der Stadt. Und zwischen den beiden besten Wohnlagen der Stadt, der Altstadt und dem Westviertel, greift die Stadt nun zum letzten ihr auf die Schnelle bleibenden Mittel, um die Folgen des Königsteiner Schlüssels zu bewältigen. Die Stadt, die ihre letzten Wohnungsreserven an Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge bereits im Frühjahr aktiviert hat, errichtet ein Lager.
Weil es der bestmögliche Kompromiss ist. Es ist mitten in der Stadt, Sanitäranlagen sind im städtischen Hallenbad vorhanden, der Parkplatz gehört der Stadt selbst, und die Anlage verspricht, in Sachen Versorgung und Funktion effektiv und flexibel zu sein. Dafür muss keine Polizei die Aufbauarbeiten begleiten, es gibt keine besorgten Bürger, nur ein paar Interessierte bleiben stehen und stellen Fragen. Wie das mit dem Essen geht – hinten steht schon der Lieferwagen eines grossen und bekannten Cateringunternehmens, das mobile Küchen installiert. Ob etwas gebraucht wird – Tafeln, Kleidersammlungen, Kirchen und Vereine sind schon gut eingespielt. Was für Materialien hier verwendet werden – Aluhallen, wie man sie auch für Messen oder Betriebsfeiern verwendet. Beheizbar, hell, mit Glastüren und Fluchtwegen. Die Fluchtwege sind wichtig, oft scheitern mögliche Unterkünfte in Bayern an ihnen, weil die Gesetze hier kaum Spielräume lassen. Die Fragen sind nicht bösartig, und niemand will wissen, wann das wieder abgebaut wird. Man schaut es sich eben an, wie man neue Projekte der Stadt begutachtet. Wer hier wohnt, der weiss, wieviel Kritik es an der Sparkasse – „Maginotlinie“ und am Studentenheim – „Westwall“ – gegeben hat. Hier wird nun der Parkplatz verkleinert, es werden Gitter aufgestellt und Verkleidungen gespannt, die die Privatsphäre der Bewohner verbessern sollen. Keiner, der vorbei schaut, beklagt sich. Niemand hat hier Unmut, dem er Luft macht. Es ist halt so. Das ist der Königsteiner Schlüssel. Und die beste Lösung. Es ist um Welten besser als die Camps in Nordafrika, besser als Lampedusa, die Lager in Sizilien, die illegalen Verstecke rund um Mailand und Verona, das überfüllte Lager in Traiskirchen, und besser als Freital und Berlin, wo man die Leute mit wertlosen Hotelgutscheinen weiterschickt. Es ist nicht nur der beste Kompromiss dieser Stadt, es ist einer der besten Kompromisse zwischen Tripolis und dem Eurotunnel.
Nicht jeder denkt so. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg etwa, ein Grüner, hat vorgeschlagen, die Flüchtlinge doch besser dort unterzubringen, wo viel Leerstand bei guter und moderner Infrastruktur ist: Im Osten Deutschlands. Dort, wo wegen des Königsteiner Schlüssels besonders wenige Flüchtlinge sind. Leider ist dort – wie auch in Berlin, wo jene Grünen Politik machen, die eine Willkommenskultur fordern – die Wahrscheinlichkeit einer Gewalttat gegen Flüchtlinge um ein mehrfaches höher als im Westen, und die Art, mit der die dortigen Ministerpräsidenten auf die strikte Einhaltung des Schlüssels und ihre geringere Belastung pochen, sagt einiges über die regionalen Unterschiede in diesem Land. Und darüber, wie viel Angst sie im Osten in der Frage vor Teilen der eigenen Bevölkerung haben. Sauber werden bei uns die Handtücher und Schlafdecken auf den Stockbetten ausgelegt, aus dem Cateringzelt ertönt das Klappern der Biertische und Bänke, darüber erheben sich alte Bäume, und das Wasser im Graben zieht träge dahin: Kein Schild sagt „Refugees Welcome“. Keines sagt „Ausländer raus“. 79.000 Menschen stellten im Juli einen Asylantrag, die müssen unterkommen, und die Stadt erfüllt den Beitrag, zu dem sie verpflichtet ist. Es gibt ein Grundrecht auf Asyl, es gibt den Königsteiner Schlüssel, und die Hoffnung, dass sich die Situation bis zur kalten Jahreszeit wieder deutlich entspannt. Es ist eine Notlösung, aber immerhin, es ist eine Lösung, und es sieht nicht so aus, als würde deshalb jemand Brandbriefe schreiben, wie in Berlin.
Eine ausgeprägte, freudig erregte Willkommenskultur ist das natürlich nicht mehr, sollte denn jemand in Berlin zwischen Bundestag und veganem Restaurant so etwas einfordern. Es ist ein Krankenwagen und ein Stand der Johanniter, es ist Security mit Westen, es sind medizinische Checks, Einweisungen und Essen aus der Grossküche. Nicht nur der Schlüssel zwingt die Stadt zu einem bestimmten Verhalten, auch der Kostenrahmen, den sie bei der Versorgung einhalten muss. Sicher, die Stadt ist reich, aber die rechtlichen Spielräume, die ihr gelassen werden, sind eng. Daran arbeitet die kommunale Verwaltung, auch wenn man deshalb vieles andere vernachlässigen, zurückstellen und verschieben muss. Derweilen gibt es in Berlin Künstler, die ihre Anhänger auffordern, auf eigene Initiative Menschen nach Deutschland zu schmuggeln, dafür einen Film gedreht haben, und für diesen Film und das Catering die Rechnung mit crowdfunden lassen. Die eine Willkomenskultur fordernde “taz” findet das gut, der Königsteiner Schlüssel verlagert dann die Folgekosten auf das flache Land. Es gibt welche, die ziehen los und buddeln Scheingräber aus Protest, und wieder andere veranstalten bedrohliche Aufmärsche. Das alles findet hier bei uns nicht statt. Hier baut die Stadt die beste aller möglichen Lösungen. Still, effektiv, nach den gesetzlichen Vorgaben. Das ist etwas anderes als Berlin, wo so viele die Willkomenskultur fordern und die Rechnungen nicht zahlen. Die Forderung nach Toleranz und Hilfsbereitschaft in den grünen und linken Millieus ist kostenlos, und was Passau mit den Jugendlichen macht, ist nicht das Problem der Leute, die “Refugees welcome” bei Twitter verbreiten.
An diesem Tag sinkt, 22 Meilen vor der libyschen Küste, ein Kutter mit mehreren hundert Menschen an Bord, weil die Schleuser dort einen Notruf abgesetzt haben, und die Flüchtlinge bei der europäischen Rettungsaktion das Boot zum Kentern brachten. In Berlin behaupten Künstler, schuld wäre das mörderische Grenzsystem der EU, die Frontex und der Westen, der das Leben in den Staaten der Opfer durch Neoliberalismus und Ausbeutung unmöglich macht – auf Klapprechnern, an deren Kupferbestandteilen möglicherweise auch afrikanisches Blut klebt. Am Rathaus ist jeden Mittwoch Abend Tango, und die Leute tanzen auf dem Platz. Es gibt dort freies WLAN, und so treffen sich auch die Flüchtlinge der Stadt, um ihren Bedürfnissen nach Kommunikation mit der Heimat nachzugehen. Ein Mann macht mit seinem iPad ein Photo von einem blitzblanken, einfahrenden und überhaupt nicht überfüllten Bus. Niemand beschwert sich, dass ein Flüchtling so ein Gerät hat.
Irgendwo in Afrika, vielleicht in friedlichen Ländern wie Senegal oder in Krisenstaaten wie Eritrea, wird das Bild des weiten, sauberen Platzes mit dem blitzblanken Bus auftauchen. Es erzählt eine andere Geschichte der Migration als jene, die ich heute und in den kommenden Tagen erzählen werde, den ganzen Weg entlang der Fluchtroute und der Lager und der kippenden Stimmung, an die offene Grenze des Landes und darüber hinaus, wo die Forderungen nach Willkommenskultur enden und die FPÖ und die Lega Nord wegen genau dieser Frage vermutlich die Macht übernehmen werden. An dieser Stelle könnte ich jetzt das Wort „rassistisch“ schreiben und mich empört von der FPÖ absetzen – das Problem bei so einer Empörung ist nur, dass sie auch nichts mehr ändert, egal wie oft Medien diesen Trick mit Hilfe von ins Berlin angeheuerten Gelegenheitsaktivisten versuchen. Das Bild auf dem iPad jedoch erzählt von einer immens reichen Gesellschaft, die am Abend auf dem Platz Tango tanzt, immer Strom hat, jedes Schlagloch sofort füllt und es auch schafft, rechtzeitig ihre Aluhallen aufzustellen und die Ankommenden zu versorgen, so wie es das Gesetz verlangt, die Verfassung gebietet und der Königssteiner Schlüssel und der menschliche Anstand diktieren. Es ist der Normalzustand in der westdeutschen Provinz. Man tut, was man tun muss. In Rosenheim wurden währenddessen 147 Flüchtlinge in einem einzigen Zug gefunden. Damit wäre so eine Notlösung schon wieder voll. Und die nächste muss her. Darauf gibt es ein Grundrecht.