Über die Donau zieht man nicht
Alte Familienweisheit
Das Donaumoss bei Ingolstadt war lange Zeit ein unbewohnbarer Sumpf. Ende des 18. Jahrhunderts entsorgte Bayern hier seine Armen, seine Randgruppen und seine kriminellen Elemente: In neu gegründeten Orten mussten sie Gräben ziehen, Bäume roden und versuchen, dem Boden etwas abzugewinnen. Das Donaumoos wurde das Armenhaus Bayerns, eine Region der Verdammten, Abgeschobenen und Unerwünschten, die hier hungerten und erkrankten. Und trotz dieser unseligen Tradition soll hier erneut weggebracht, ausgegrenzt und entrechtet werden: Zwar sterben die Menschen nicht mehr an Malaria, aber hinter Zäunen, Tafeln mit Schiessandrohung und Stacheldraht entsteht das erste Zentrum für Flüchtlinge aus dem Balkan, das Horst Seehofer angekündigt hat. Sammellager, Schnellverfahren, Schnellabschiebung. Wir waren vor Ort und können es mit schockierenden Bildern belegen. Hat Seehofer nicht aus der unseligen Geschichte des Ortes gelernt?
So könnte man einen Beitrag über die Max-Immelmann-Kaserne in Oberstimm beginnen. Dafür würde einen kein Presserat verurteilen, und in Zeiten wie diesen ohnehin nicht, da die Republik dank Lageso in Berlin und Zeltstadt in Dresden vor Augen geführt bekommt, wie menschenverachtend das Asylsystem in Deutschland erscheinen kann. Und natürlich stimmt es: Das Donaumoos wurde unter heute unvorstellbaren Menschenrechtsverletzungen dem Sumpf abgetrotzt. Bayern war damals alles andere als zimperlich bei der Kolonialisierung. Die Donaumoosbauern hatten deshalb bis ins späte letzte Jahrhundert einen schlechten Ruf als Zuchthäusler. Die Geschichte des Donaumooses ist nicht schön, selbst wenn Oberstimm – der Ort, um den es hier geht – geographisch nur am Rande des Donaumooses liegt und sehr viel älter ist. Das eigentliche Donaumoos liegt etwas weiter östlich, also dort drüben.
Und fairerweise muss man auch sagen, dass diese Region heute schon lang kein soziales Katastrophengebiet mehr ist – der Link geht zum ersten Teil der Serie. Sicher, die alten Häuser sind klein und niedrig, aber der Boom der Region hat den Süden der Donau voll erfasst. „Südlich der Donau wohnt man nicht“, sagte man früher in meiner Heimatstadt. Heute sind die Grundstückspreise südlich der Donau genauso hoch wie im Norden, und die Zeiten, da man hier eine Kaserne hätte kostengünstig bauen können, sind lang vorbei. Naturschützer hätten gern wieder mehr Moosflächen wegen der Artenvielfalt. Mittelständler haben Schilder an der Bundesstrasse, auf denen steht, wen sie einstellen. Die finstere Geschichte des Donaumooses ist Gegenstand musealer Rezeption und keinesfalls die Gegenwart. Es ist also ein wenig schräg und historisch nicht wirklich passend, eine Traditionslinie vom späten Feudalismus bis in unsere Zeit zu ziehen. Trotzdem gibt es diese Bilder an der Kaserne von Oberstimm – ich war dort und habe sie selbst gemacht.
Es ist eben eine Kaserne. Ein Relikt des Kalten Kriegs, als in meiner Heimatstadt die Raffinerien konzentriert wurden, die Pipelines Öl heranpumpten und in Manching ein grosser Luftwaffenstützpunkt lag. In Oberstimm sass die Raketen-Flugabweht, die auf mehrere hundert Kilometer jene Bomberschwärme der roten Armee hätte abfangen sollen, die dann nie kamen Ebenso wenig wie die Atombomben, gegen die die hier stationierten Raketen wirkungslos gewesen wären. Die Kaserne wurde erst vor Kurzem stillgelegt und die Einheit verschoben. Oft hört man Klagen wegen solcher Schliessungen; bei uns dagegen wird das einfach so hingenommen: Es gibt ohnehin zu wenige Arbeitnehmer. Und Grund für neue Gewerbeflächen und Wohnsiedlungen kann man immer brauchen. Weil der Standort aber gerade erst aufgegeben wurde, wird er über viele Kilometer von hohen Zäunen und Stacheldraht umzogen. Wie man sich eben so ein Lager vorstellt. Tafeln drohen bei der Benutzung einer Kamera furchtbare Strafen an.Hohe Tore und Wachhäuser versperren den Zugang. Es ist der Traum jedes Journalisten, der dem Publikum die unfassbare Herzlosigkeit des CSU-Regimes in Bayern vorstellen will.
Kommt er nicht von hier, weiss er auch nicht, dass Oberstimm früher der Traum der Kriegsdienstleistenden war. In dieser Stadt hatte man neben dem Verweigern und der Untauglichkeit drei Möglichkeiten. Wer ganz viel Pech hatte, endete direkt am Russen in der Oberpfalz. Dort sollte der Russe entweder über die Donau oder über die Fulda Gap kommen, und wer dort lag, hätte ihn aufhalten und ein Stachel in seinem Fleisch sein müssen, bis in Westdeutschland die Verteidigung stand. In der Oberpfalz war das Kanonenfutter, die Gegend hat wenig Freizeitangebote, und die Kasernen sollen albtraumhaft gewesen sein. Dann gab es noch die Pionierkaserne meiner Heimatstadt, und das inoffizielle Motto lautete: „Nicht Mensch, nicht Tier, nur Pionier.“ Das war eher was für die robusten Zeitgenossen und hatte den Ruf eines Hauptschülerbiotops. Dort wurde übel geraucht und getrunken. Die besseren Eltern der Kriegsdienstleistenden jedoch zogen auf Altötting und zündeten Kerzen an, wenn der Nachwuchs nach Manching kam: Keine gefährliche Pontonbrückenbauerei auf der Donau, keine Exzesse unter unzivilisierten Oberpfälzern, der modernen Version der Donaumoosbauern, sondern heimatnahe Unterbringung in schönen Kasernen, gute Anbindung und Infrastruktur, technisches Spielzeug und ein Schiessplatz im Urlaubsparadies Kreta. Als es nun von Seiten des Flüchtlingsrates hiess, Bayern plane da ein abschreckendes Abschiebelager, konnten sich die Menschen vor Ort nur wundern.
Es gibt gleich daneben Einkaufsmöglichkeiten und einige Seen.
Es gibt eine gute Anbindung an die Stadt, sofern man nicht radelt – es ist nicht weit, ich bin da auch mit dem Rad unterwegs. Zwanzig Minuten vielleicht.
Ausserdem ist der Zaun längst nicht mehr mit Stacheldraht bewehrt. Den hat man entfernt, und jetzt ist es die Wäscheleine.
Wegen der Flüchtlinge, die jetzt schon dort seit November des letzten Jahres untergebracht sind. Dieses bundesweit durch die Medien geisternde, bayerische Abschreckungslager für Migranten aus dem Balkan: Es war bislang eher so etwas wie die erste Wahl zur Unterbringung von Flüchtlingen. Dort leben jene, die nicht, wie jetzt bald in der Stadt, aber auch in München und vielen anderen, auch rotgrün regierten Orten, in Zelten wohnen müssen. Das ist, gemessen an der Gesamtlage, wirklich gut. Wie gesagt, da waren auch die besseren Söhne der Stadt viele Monate kaserniert.
Man kann die Geschichte dieses Lagers also so oder so erzählen. Das bildgewaltige Entsetzen, das leicht zu komponieren ist, das Unheilschwangere einer aufgelassenen Kaserne, der Stacheldraht, die leicht vermoderten Schilder, das alles lässt sich zu einer packenden Galerie verarbeiten, die dem Bildungsbürger vom Elbvorort bis nach Grünwald das ganze Grausen der Seehoferschen Radikalpolitik vor Augen führt. Möglicherweise ist das der bayerischen Landesregierung sogar ganz recht so, und sie belässt es bei einem halbherzigen Dementi: Ist es doch genau die Botschaft, die auf dem Balkan ankommen soll. Es kommt nur auf den Bildausschnitt an. Man kann Flüchtlinge hinter dem langen Zaun zeigen.
Und ohne die Wasserpfeife, mit der sie dort im Schatten sitzen. Was fraglos legitim ist, die Wasserpfeife und das, was man sich hier gern imaginieren möchte. Die Kaserne ist eine tolle Projektionsfläche, und je weniger man weiss, desto besser geht es. Trotzdem sollte die an grossen Geschichten interessierte Presse bald kommen: Dem Vernehmen nach droht hier nämlich weiterer Abbau von bildnerisch wertvollem Stacheldraht, und nicht auszuschliessen ist, dass auch das ein oder andere jetzt noch abweisende Tor des kalten Krieges dann mit einem einfachen, leicht zu öffnenden Schiebegitter zum Lager ersetzt wird, so wie bislang auch schon. Und dahinter schon wieder Basketballkörbe und Fussballtore aufgestellt werden, was natürlich nicht ins Konzept passt.
Denn, seien wir ehrlich, die dort geplante, schnelle Bearbeitung von Asylanträgen ist nun nicht wirklich nicht mehr die grosse Geschichte, nachdem inzwischen sogar jemand in der Münchner SPD sagt, nicht jeder sei willkommen. Auf dem ansonsten idyllischen und von Flüchtlingen viel beradelten Weg zur Stadt, wenn ich das noch schnell anfügen darf, findet man auch im Gebüsch neben dieser Strasse an einigen Stellen viel Müll, der als weiteres Zeugnis für die Unbarmherzigkeit des Regimes herhalten kann. Man sollte schnell kommen und Bilder machen, bevor auch dort mit der gewohnten bayerischen Gründlichkeit aufgeräumt wird. Die Neubauviertel von Manching, Oberstimm und des Gewerbeparks gleich daneben eignen sich weniger gut für die Beschreibung all der Bedrängnisse im abgelegenen Sumpfgebiet, die in dieser Debatte stets hohe Klickzahlen garantierten.
Erlauben Sie mir vielleicht noch eine persönliche Anmerkung: Sie merken vielleicht, dass ich schwanke. Auch ich hätte gern einfache Antworten. Es gibt einfache Antworten, sei es „Refugees welcome“ und „Wir brauchen sie wegen der Demographie“, sei es „Das Boot ist voll“ oder „Die Belastungen sind viel zu hoch“. Hat man so eine Antwort, wird alles, was man tut, automatisch richtig. Reinheit. Erlösung von allen Sünden. Keine Zweifel mehr. In Wirklichkeit geht es nur darum, welcher Art die unvermeidlichen Sünden und Ungerechtigkeiten sind, die wir in dieser Frage begehen werden, wie viele Fehler wir machen, und wie wir damit umgehen.