Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Moralische Empörung als neuer Extremsport im TV

Der Beitrag „Richtig sitzen mit Spinaltrauma, Wärmflasche und Ibuprofen“ muss aufgrund der Wahrung des Heldenanscheins für den Autor leider entfallen.

Das ist hübsch. Es ist schon als Bild hübsch, aber in Wirklichkeit, wenn man den Rosmarin riecht, die Sonne mild die Haut erwärmt und die Wölkchen behäbig ziehen, und aus der Ferne ertönt das Glöckchen einer kleinen Abtei, da drüben auf dem Hügel – das ist schon erhebend.

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Es ist allerdings nicht jedem vergönnt, hier zu sein. Es reicht nicht, die Buchmesse schwänzen zu können und noch eine Woche im Palazzo dranzuhängen, um die Gegend zu erkunden und diesen Ort zu finden. Der Ort ist gut zwei Stunden mit dem Rad vom Palazzo entfernt, dazwischen liegen einige Berge, und mit dem Rad oder den eigenen Beinen sollte man auch unterwegs sein: Nur so erreicht man nämlich diesen Punkt, der für motorisierten Verkehr unzugänglich ist. Es ist erhebend. Aber man sollte dafür etwas leisten. Und man darf mit seinen Privilegien nicht geizen. Es mag nur eine Aussicht sein, aber der Aufwand, in diesen Genuss zu kommen, ist nicht ganz gering.

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Es ist Kultur, es ist gutes Essen – auf dem Weg hierher ist ein phantastischer Hofladen mit jungem Pecorino so weich wie die Lippen einer schönen Frau – es ist ein elitäres Vergnügen, und es ist Sport. Sport im Sinne der alteuropäischen Tradition, als Beitrag des eigenen Körpers zum besonderen Moment. So ritt man im Morgennebel aus, so erstieg man Berge, so überquert man die Alpen und wenn man weiter geht, kommt man auch auf dem Weg nach Rom hierher, und ist isoliert und überwältigt. Ich weiss, vor ein paar Tagen schrieb ich noch über das Vergnügen, sich mit 7000 anderen im Matsch zu suhlen, aber die Wahrheit ist, dass man dabei auch für sich alleine zu bestehen hat. Ausserdem verteilt sich das Fahrerfeld in dieser wunderbaren Landschaft, so dass auch ein Soziopath wie ich teilnehmen kann. In dieser Form ist es meistens schön und mitunter überwältigend. Ich kann absteigen und mir das stundenlang anschauen.

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Was ich nicht kann, ist mich mit Tausend anderen in eine Arena sperren lassen, um dort Fahnen zu schwenken. Ich habe es nicht so mit Fahnen, ich leiste mir den Luxus, selbst zu denken. Und wenn ich so denke, dann möchte ich auch keine Schlachtgesänge anstimmen. Das Erstere hilft normalerweise, das andere zu überwinden, was fein für unsere Zivilgesellschaft ist. Mich interessiert nicht der Ort, an dem das Auto des Schiedsrichters steht, und die damit angedeutete Drohung empfinde ich als unwürdig. Bedaure das sagen zu müssen, aber ich bin in dieser Hinsicht anders und zu gut erzogen worden, und lege Wert darauf, die entsprechende Distanz zu Fussball zu halten. Das ist inzwischen vergleichsweise einfach und liegt am sog. Sommermärchen, das momentan auch unter dem Namen „Schwarze Kassen“ der Bevölkerung erinnerlich gemacht wird. Das ist jetzt fast zehn Jahre her, aber bei uns daheim gab es neben dem Public Viewing so viel Public Rioting, dass man das Gschleaf zum Viewing heute ins Stadion sperrt, und das ist weit draussen vor der Stadt.

Ich habe das alles wirklich nicht als Märchen erlebt. Neben den enttäuschten Fans, die ihre Weinflschen am frisch renovierten gotischen Portal unseres Münsters zerschlugen, musste ich auch die Hinterlassenschaften des Märchens vor dem Haus wegräumen. Das war zu keinem Zeitpunkt angenehm und seitdem bin ich der Meinung, dass die anderen gern viewen dürfen, wenn die hausbesitzenden Bürger kostenlos Stacheldraht gestellt bekommen. Im Reichshauptslum Berlin machten Frauen, die heute als Feministinnen gelten wollen, eine Fussballlesung mit anzüglichem Titel in einer von einem Brausehersteller gemieteten WG, um eine Brücke von den Arbeitern der Beine zu den Arbeiterinnen am Text zu schlagen. Wer wissen will, wie im ersten Weltkriege die Legende der das Deutschlandlied singenden Soldaten im Kugelhagel bei Langemarck entstehen konnte: So, wie sich gleichschaltende Medien im Hurrapatriotismus damals das Sommermärchen erkennen wollten.

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Und jetzt soll da in sehr peinlicher Manier eine schwarze Kasse gewesen sein – wer hätte das im Land von Kohls Versprechen je denken können. Der damals Verantwortliche will nur wenig dazu öffentlich sagen, und die bisher bekannten Erklärungen der Herren Netzer, Zwanziger, Beckenbauer und Niersbach klingen nicht sehr schlüssig. Wurde eigentlich schon gefragt, was die Politik wusste? Wie auch immer, die schnöde monetäre Seite dessen, was landläufig auf Sofas mit Chips oder Fahnen schwenkend als Sport gilt, zeichnet sich unschön mit immer neuen Fragen ab. Als Freund des Radsports, der von seiner gedopten, professionellen Abart in Misskredit gebracht wurde, und als Kenner der dortigen Skandalkaskade, die Sportler, Funktionäre und Verbände gleichermassen umfasste, würde ich auch die Behauptung so eines einzigen, millionenschweren Einzelfalls nicht vorbehaltlos glauben. Es ist ein Milliardengeschäft, und warum es nur im Weltverband schmutzig zugegangen sein soll, und andere brav und gesetzestreu waren, bei ihren besten Beziehungen zur Politik, das mag mir nicht wirklich überzeugend erscheinen.

Und würde ich das alles nicht mit bezahlen, wäre es mir auch egal. Leider jedoch bin ich mit der Rundfunkszwangsabgabe dabei, und folglich bei den Kosten für die Übertragungsrechte und der Schleichwerbung, die mit den ausgestrahlten Spielen nach meiner bescheidenen Meinung gemacht wird. Seit Tennis nicht mehr oft im TV gebracht wird, ist der Sport auch weitgehend in Vergessenheit geraten, die Radsportbegeisterung hat nach den EPO-Skandalen zu begrenzter Berichterstattung geführt, ohne dass es das Leben der Gebührenzahler verschlechtert hätte. Formel Eins zieht auch nicht mehr. Ausserdem gibt es heute genug Sender, die nichts ausser Sport bringen. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen und vielleicht in der Folge noch mehr bekannt werden, könnte man doch darüber nachdenken, ob man die Zeit im öffentlich-rechtlichen Programm nicht anderweitig füllt. Für mehr Federico Fellini und Eric Rohmer könnte ich mich beispielsweise durchaus begeistern. Am Tegernsee darf man, im Gegensatz zur Toskana, praktisch überall fahren, es tauchen dort auch immer wieder Fussballspieler mit nicht angemessenen Fahrzeugen und Spielerfrauen auf: Umverteilte Mittel könnten auch meine Heimat schöner machen.

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Auch spricht nichts dagegen, sportliche Grossereignisse für uns weniger korrupt zu gestalten, indem man sie von Anfang an den vermögenden Schurkenstaaten und Diktatoren überlässt. Man muss dann gar nicht mehr ethisch in den Schlamm nachziehen. Man kann sich weiterhin gefahrlos moralisch empören, was im deutschen Journalismus neben Sport, Reise und Auto ebenfalls ein lukratives Betätigungsfeld ist. Selbst der Nationalchauvinismus des Sports kann dortselbst gute Dienste leisten: Den Weltmeistertitel in ethisch richtiger Empörung haben wir doch spätestens seit der Grenzöffnung, mit der wir den Schurken Orban global blamierten, und die paar Milliarden für Erdogan, damit er sich um die Flüchtlinge kümmert, zahlen wir mindestens mit so gutem Gewissen wie der DFB für das kulturelle Begleitprogramm des Sommermärchens.

Kurz, ich würde es sehr begrüssen, wenn man den Sport in dieser globalisierten Welt wirklich dem freien Spiel der Märkte vom TV-Besitzer Berlusconi über den russischen Oligarchen bis zu Herrn Blatter überlässt: Die wissen, was sie tun, und wie man es richtig macht. Wir konzentrieren uns ganz auf die moralischen Ansprüche im Sport, und stellen sie sehr plakativ heraus. Die anderen haben dann vielleicht ihr staatlich verordnetes Sommermärchen, aber wir haben ethisch reine Ganzjahresfeiern des richtigen deutschen Wesens. Man muss nun mal Prioritäten setzen, wenn man aus Angst vor Enthüllungen nicht alles haben kann.