Warum sollen wir uns nicht rächen?
Shylock
Langsam treiben die Gondeln durch das brackige Wasser des kleinen Kanals. Auf dem goldarbenen Thron räkeln sich Japanerinnen in lasziven Posen, als wären sie die wiedergeborenen Kurtisanen der Lagunenstadt, und machen Bilder von sich. Nebenan steht eine recht bekannte Kirche mit byzantinisch anmutenden Kuppeln, aber sie achten nicht darauf. Sie achten auf ihre Haltung, auf den muskulösen Gondoliere und den romantischen Hintergrund des morbiden Verfalls. Sie sind so zivilisiert, dass sie nicht jenes V-Zeichen in die Kamera halten, das Novizen der asiatischen Reisekunst ausweist. Wenn sie am Markusplatz oder am Canal Grande die Gondel bestiegen haben, sind sie inzwischen schon länger unterwegs. Sie können sich das leisten. Später werden irgendwo in Tokio oder Singapur Mobiltelephone piepsen und die Besitzer eine kleine Ahnung der Wünsche fühlen lassen, die Casanova hier beim Anblick der Venezianerinnen empfand.
Venedig, diese Sündenmeile des alten Rokoko-Europas, wo Damen aus aller Herren Ländern denselben alle Dienste anboten, ist sogar im grauen November noch eine sehr sinnliche Stadt. Leise gluckst das Wasser unter den Planken, überzogen mit glänzendem Klavierlack, eine Möwe frisst den Flügel einer verendeten Taube, die Mädchen auf dem goldenen Thron machen noch ein Bild, diesmal mit Lolitablick durch die Streberbrille, ein drahtiger Taschenverkaufer hastet mit Fälschungen vorbei, kurz, es ist sehr romantisch und lebensfroh, und selbst, wenn es das nicht ist, ist es immer noch besser als nördlich der Alpen. Dort steht ein Video auf Youtube und macht Menschen nicht glücklich wie erotische Grüße aus der Lagune, sondern wütend. Es singt da einer nämlich: Ich owne Polizei, denn ich zahl Höchststeuersatz.
In diesem Video geht es um eine angemessene Beschreibung der Realität polizeilicher Schutzmassnahmen: Je besser die Wohnlage, desto besser auch die Sicherheit dank der Staatsorgane, die natürlich genau wissen, wem dieser Staat wiederum gehört. Ein simpler Blick in die Vermögensverteilung deutscher Wohnlagen zeigt, dass Stechereien mit zerschlagenen Bierflaschen für Regionen stehen, in denen das Land nicht den Bewohnern gehört. Da kann das schon mal vorkommen, aber bei uns… also bitte. Hin und wieder, wenn es in der Altstadt Randale gibt, rufe ich selbst die Polizei. Gemeinhin ist sie wirklich flott. Ich finde das gut. Die Polizei schützt das Umfeld meines Stadtpalastes. Andere jedoch beschweren sich, das Lied und der Text sei Klassismus und würde nur jene verhöhnen, die eben nicht Polizei ownen, Drogenhändler im Görli, sozial Abgehängte, Randgruppen. Und nie den Spitzensteuersatz zahlen. Gut, das tut dank Steuerberater auch bei uns niemand – wo kämen wir denn da hin – aber der Umstand, dass in Deutschland sich gerade niemand räkelt und viele sehr wütend wegen der Ungleichheit sind, wirft natürlich die Frage auf, ob man offen über die realen Verhältnisse sprechen sollte.
Eigentlich – nein. Eigentlich sollte man wissen, wie es wirklich ist, und schweigen. Und mehr noch: Das, was offensichtlich ist, sollte man kleinreden. Etwa so einen Palazzo: Da bietet es sich an zu sagen „Also, ein grässliches Ding, das meine Vorfahren da gekauft haben. Das ist ja gar nichts mehr wert, und die Reparaturkosten, das ruiniert mich. Dieses Haus ist der Fluch meines Lebens. Ich würde es sofort verkaufen, aber…“ und dann folgt eine Begründung, die weder die famosen steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten mit Denkmal-AFA erwähnt, noch die Summen, die dank Mieten jeden Monat wie aus dem Nichts auf dem Konto erscheinen. Das ist international so, und ich habe keinen Zweifel, dass man von der Rialtobrücke bis zum Dogenpalast genau auf diese Art die Paläste nicht „owned“, sondern sich zum Opfer der Umstände stilisiert.
Ich kann darüber nur lächeln, falle aber ins gleiche, ausgesprochen feige Schema. Sie werden vielleicht gemerkt haben, dass ich Japanerinnen nicht ohne Interesse betrachtete – Bewunderung der Schönheit kommt auch bei Thomas Mann vor, wodurch es kulturell legitimiert ist. Warum etwa winke ich nicht einen Gondoliere heran, sage ihm „Folgen Sie dieser Gondel und reservieren Sie schon mal ein paar Plätze in einem rotsamtenen Boudoir, wo man etwas Philosophie betreiben kann“? So lebte das alte, von mir geschätzte Europa, so entstand Casanovas Werk – aber natürlich mache ich das nicht und fahre später mit dem Wasserbus zurück, in dem Chinesinnen mit dem V-Zeichen noch einiges über angemessenes Räkeln lernen müssen. Es ist nicht der Geiz, es ist die Erziehung. Man versucht nicht mehr, etwas in dieser früher sehr gängigen, auffälligen Form zu erownen. Es bleibt vielleicht ein geheimer Wunsch, der Sie eigentlich gar nichts angeht.
Der Wunsch, Herrn Böhmermann wegen seiner zur Schau gestellten Privilegien mit Polizistin auf dem Motorrad absetzen zu lassen, wird dagegen in Deutschland sehr offen formuliert, man ist ja noch warmgelaufen von Xavier Naidoo. Das ist nicht die Welt, in der man über das Vergnügen reden kann, zwischen Statuen von lichttragenden Mohren einen venezianischen Leuchter für daheim auszusuchen. Das Duckmäusertum ist ein anerzogener Reflex. Natürlich haben Gangsterrapper den nicht und zeigen das. Aber wehe, jemand tut das, der sein Vermögen anderen auf legalem und von der Polizei geschützten Weg abgenommen hat: Rechtes Gut gedeihet im Ansehen der Mehrheitsgesellschaft nicht. Wir leben das alles daheim im Kämmerchen aus, und lassen die Mehrheitsgesellschaft allenfalls ahnen, wie das Leben unter Stuck und Kronleuchtern so sein mag. Je weniger sie wissen, desto besser ist es. Wir lassen nicht wissen, wir lassen keine Tür offen, wir lassen allenfalls ahnen – und streiten, wenn wir dann wegen der Privilegien beschuldigt werden, alles ab. Während ich dies schreibe, fordert eine nach Berlin gezogene Tocher eines guten bayerischen Hauses Enteignungen für Flüchtlinge – nicht mal unter Beobachtung durch Dutzende von Rokokoportraits würde ich bei mir daheim über dieses Verlangen, andere in meinem Goldbrokatbett schlafen zu lassen, mokant lächeln.
Eigentum verzichtet. Wobei. Die gleichen Leute, die der Meinung sind, man sollte mal seine Privilegien checken und still sein, wenn sie Flüchtlingen eine Wohnung und gesellschaftlichen Rang ertwittern, stehen am Ende auch vor diesen Säulen und machen ein Bild.
Säulen sind in Italien nicht gerade selten, und speziell Venedig konnte auf dem Festland auf viele römische Spolien zugreifen. Die hier – vermutlich die meistphotographierten Säulen der Welt – stammen zwar wie die Flüchtlinge und der Nikolaus aus der Türkei. Sie wurden allerdings unter durchaus fragwürdigen Umständen hierher verbracht. 1204 war das, damals eroberte der vierte Kreuzzug mit Hilfe der Venezianer Konstantinopel, und weil die französischen Ritter ohnehin keine Verwendung für das Schöne hatten, reservierte sich Venedig die Kunstschätze. Das sorgte kurzfristig für eine Exkommunikation durch den Papst, aber langfristig für eine sehr eindrucksvolle Domfassade von San Marco – eines Evangelisten, dessen Reliquien die Venezianer übrigens auch in der Türkei gestohlen hatten: Sie ownen Säule, sie ownen San Marco, Venezianer zeichnen Scheck stets blanko. Nein, im Ernst, der geneigte Reisende sieht hier doch recht schön, dass man auch heute noch mit Privilegien international Bewunderung erreichen kann. Irgendwann will auch die Refugee-Aktivistin so ein modisches Kind, Traumhochzeiten sind wieder begehrt – vielleicht steht sie dann auch hier und erfreut sich an den goldschimmernden Mosaiken und geraubten Steinen, an denen natürlich Blut klebt. Die Verbrecherstadt Venedig besuchen ist gesellschaftlich immer noch legitimiert.
Und erstaunlicherweise wollen hier alle den Canal Grande sehen, die Kirchen, die Paläste und die üppigen Museen. Niemand fährt nach Mestre zur Instandsetzung der Boote oder zu den Fischfabriken, obwohl man dort bestens soziale Unterschiede sehen und öffentlich beklagen könnte. Venedig hat einen neuen Bürgermeister und mit ihm eine migrationsfeindliche Sicherheitspolitik, die noch erheblich restriktiver vorgeht, als es das Video des Polizistensohns zeigt. Die Venezianer haben sich im Juni bei der Wahl denokratisch dazu entschieden, neben den Säulen auch wieder Polizei zu ownen, und sich von den Weltproblemen loszusagen. Das ist sicher nicht sonderlich menschenfreundlich. Man muss diesen Kurs der Abschottung nicht mögen, wenn der Bürgermeister selbst sagt, Venedig würde keinen einzigen Flüchtling aufnehmen. Aber den Reisenden ist das wohl so wenig bewusst wie die Brutalität des Säulenraubes, und so hat Venedig weiterhin den Ruf der Grandezza, die man gesehen haben muss. Selbst die Wissenden wie ich nehmen das in Kauf. Venedig gönnt sich das Privileg, sich aus einer europäischen Krise zu verabschieden, Venedig setzt sich ohne Rücksichten durch und wie man sieht: Es fällt kein Schwefel vom Himmel, das Meer tut sich nicht auf, um die Stadt zu verschlucken, es ist halt so. Die Touristen kommen weiterhin und kaufen Seidentücher und Lampen. Insgeheim sind sie vielleicht sogar froh, wenn sie hier die Pracht sehen können, ohne das Elend bedenken zu müssen. Das ist ein kleines Privileg.
Sie sind privilegiert. Und deshalb finde ich, dass die Amateure der Privilegien vielleicht etwas mehr Mitgefühl für uns Profis haben sollten, und verstehen, warum wir lächeln, wenn in einem Video endlich die letzten Reste der alten Weltordnung so beschrieben werden, wie wir das gern haben.