La bourgeoisie est abolie. Une nouvelle ère de l’égalité entre tous a commencé.
Jean-Bedel Bokassa
Es gibt keinen einheitlichen Namen für diese Menschen. Wenn Politiker der Rechten über sie reden, benutzen sie den Begriff Clandestini, sie selbst nennen sich, wenn sie politisch organisiert sind, „Sans Papiers“. Wie viele es von ihnen in Italien gibt, weiss niemand, aber ihre Zahl dürfte in die Hunderttausende gehen. Meist sind es Menschen aus Afrika. Entweder wurden sie von der Mafia nach Italien geschmuggelt, oder sie sind dem überforderten Asylsystem entlaufen. Sie gehören nicht zu jenen über 40.000 offiziellen Flüchtlingen, die aus Italien in andere europäische Länder umverteilt werden sollen, und von denen bislang 130 tatsächlich auch verteilt wurden. Kein Mensch ist illegal, rufen Aktivisten. Legal sind sie aber auch nicht. Sie sind ausserhalb des gesetzlichen Systems, und vier von ihnen sehe ich täglich in Padua auf dem Weg zum Bäcker.
Der Weg ist kurz, nur die Strasse runter zum Eck. Das ist die Frau, die hier unter den Arkaden wartet und Passanten nicht sehr unhöflich animiert, Taschentücher im Einzelpack zu kaufen. Sie ist gleich gegenüber der Bäckerei. Um zu erfahren, was sie verlangt, gehe ich langsam auf sie zu, schniefe etwas, und lasse mir eine Packung geben, für einen Euro. Dann gehe ich in die Bäckerei, lasse mir einen Tee und ein Panini bereiten. Ich setze mich an das Fenster, schlage die Zeitung auf, und schaue mit einem Auge hin, wie sie wartend auf ihren Turnschuhen das Körpergewicht verlagert, um dann den Passanten einen Schritt entgegen zu eilen. Es ist recht kühl, die Luft ist feucht, ideales Schnupfenwetter. Nach einer Stunde hat sie drei weitere Packungen verkauft.
Sie ist mittelalt und eher übergewichtig. Wie lang kann man in diesem Alter in einer zugigen Stadt im Winter bei neun Grad stehen? Sechs Stunden? Sagen wir, sie verkauft 24 Packungen am Tag. Einkaufspreis für ein billiges No-Name-Produkt 2 Euro, bleiben 22 übrig, für einen Tag in der Kälte. Für ein eigentlich illegales Geschäft, denn natürlich fordert der Staat auch in Italien Steuern, und für Handel bräuchte man eine Lizenz. Natürlich ist es ein Geschäft, für das es keine Lizenz gibt. Und selbst wenn es eine Lizenz gäbe, würde sie ohne Aufenthaltsrecht keine bekommen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch kein Verfolgungsinteresse des Staates, für den so ein Ansinnen nur hohe Kosten und lange Verfahren zur Folge hätte. Also steht sie auch am nächsten Tag wieder hier in der Kälte, die ihr Geschäft befördert. Von der Polizei wird sie ignoriert, und auch von den meisten Menschen, die sich wegducken. Sagt man nichts, lassen die Nichtlegalen einen in Ruhe, sagt man „No grazie“, werden manche beharrlich. Man muss hier anderen Kontinenten nicht zuhören, sie äussern sich selbst deutlich.
Ein schwedischer Minister hat bei den europäischen Rechten eine Protestwelle erzeugt, als er bei einer Reise in Afrika sagte, er freue sich darauf, dass diese farbenfroh gekleideten Menschen kämen, und Europa bunt werde. Die angekommenen Afrikaner sehen alle nicht bunt aus, sie tragen vor allem Schwarz. Schwarz wärmt, schwarz macht anonym, schlecht identifizierbar, und tarnt in der Dunkelheit. Schwarz trägt der Blumenverkäufer neben dem Hotel, schwarz trägt die Bettlerin, der auf Pilger auf dem Weg zur Kirche wartet, schwarz trägt der Junge im Supermarkt, der Wechselgeld nimmt, oder alten Leuten die Treppe hinunter hilft, auch wenn sie das nicht wollen. Für den kurzen Weg ist das sehr viel Elend, aber Venedig hat dergleichen untersagt, und setzt das auch gnadenlos durch. Padua ist eine Studentenstadt, immer noch rot, und verzichtet auf ein derartiges Verbot. Das sei, erzählt der Bäcker, ein Grund, warum so viele hier sind: Flüchtlinge erst aus Afrika, dann aus Venedig. Man hat sich damit abgefunden.
Wie man mit 22 Euro pro Tag überleben kann, wenn es keinerlei staatlichen Leistungen gibt, keine Krankenversicherung, keine Behandlung? Im Frühjahr ist zwischen Padua und Venedig ein Vermieter aufgeflogen, der 20 Menschen aus Bangladesch in eine kleinen Wohnung gepfercht hat. Das klingt schlimm, aber es ist immer noch besser als das Schicksal der Plantagenarbeiter in Süditalien, die auch aus Afrika kommen und mit ihrer Arbeit dafür garantieren, dass deutsche Mütter keine finanziellen Sorgen haben, wenn sie ihren Kindern aus den sa-gen-haft billigen Orangen vom Discounter einen Saft pressen. Wer es nach Padua geschafft hat, ist schon etwas weiter oben auf der sozialen Leiter. Und wäre nicht die Krise, hätte er vielleicht sogar die Chance auf eine richtige, wenn auch nicht legale Arbeit. Unterhalb der Pakistanis. Denn die Pakistanis haben in Italien einen guten Ruf als Gastarbeiter. Sie sind zum Erhalt der Preise im Tourismus wichtig, und übernehmen in vielen Familien die Pflege alter Menschen. Vor der Krise standen die Pakistanis oft am Herd der Restaurants, und die Afrikaner spülten ab. Aber jetzt ist Krise, die Italiener besetzen die Berufe selbst und haben kein Geld für die Pflege, die Pakistanis rutschen weiter nach hinten, und verdrängen dort andere. Ganz Italien sackt durch. Vielleicht hat die Taschentuchverkäuferin früher irgendwo geputzt. Jetzt steht sie jedenfalls unter den Arkaden. Der Urlaub in Italien bleibt auch mit Pakistanis als Reinigungskräften und mit dem gesunkenen italienischen Lohnniveau günstig. Und Deutschland bekommt natürlich seine Austeritätsziele. Neben den billigen Blut-Orangen. Für die gilt kein humanitärer Imperativ.
Das hier ist die Integration nach dem Scheitern der Integration. Die Betroffenen haben es – aus welchen Gründen auch immer – nicht geschafft, einen offiziellen Status zu bekommen. Sie sind auch nicht in die klassische italienische Schattenwirtschaft gekommen. Aber sie haben ein Geschäftsmodell, mit dem sie überleben. Natürlich gäbe es ein Verfahren, um diese Menschen abzuschieben, aber die italienischen Behörden wissen auch, dass das so gut wie unmöglich ist, weil die Heimatländer nicht kooperieren. Sollte es in Italien aufwärts gehen, kommen sie wieder an Hilfsarbeiten. Dann werden ihre prekären Plätze im reicheren Padua durch andere eingenommen, die jetzt noch in weniger vermögenden Gegenden sind. Am Wochenende davor wurden 4900 Menschen vor der libyschen Küste gerettet. Viele werden weiter nach Deutschland gehen. Aber manche werden sich auch überlegen, wie sie hier an Geld kommen. Vielleicht sogar so weit in der Hierarchie aufsteigen, dass sie gefälschte Sonnenbrillen der Designermarken drüben am Prato della Valle verkaufen, wo die Studenten und jungen Touristen sind. Vielleicht finden sie auch eine wirklich billige Unterkunft weiter draussen in einem der scheinbar aufgegebenen, zerfallenden Bauernhöfe. Dann können sie trotz allem Geld heimschicken. Man fragt sich bei uns, wie man von 22 Euro am Tag leben kann. In Afrika gibt es Länder, in denen das mehr als der durchschnittliche Wochenlohn ist. Der Lohn derjenigen, die eine Arbeit haben. Die anderen haben noch weniger. Das erklärt auch, warum sie das hier tun: Die Bedingungen sind selbst jetzt nicht schlechter als in Afrika. Und es gibt die Hoffnung, dass es besser wird, und vielleicht braucht einer der Pakistanis, die sich nach oben gearbeitet und einen Falafelimbiss eingerichtet haben, doch wieder einen Handlanger. Dort ist es auch warm, und es gibt einen Stuhl. Lauter Dinge, die man erst als Privileg erkennt, wenn man eine Stunde zuschaut, wie eine nicht mehr junge Frau unter den Arkaden mit Taschentüchern winkt.
Padua entspricht wirtschaftlich in etwa dem, was jene Städte im strukturschwachen Nordwesten zu bieten haben, die neben Berlin, Frankfurt und Hamburg hauptsächlich das Ziel der Flüchtlinge und Migranten in Deutschland sind. Es sind Kommunen, die mit dem Abschieben meist überfordert sind. Sie beherbergen vermutlich schon jetzt einen Teil der dreihunderttausend Einreisenden, die nach dem Grenzübertritt spurlos verschwunden sind, und von denen viele wissen, dass sie hier weder Asyl noch Duldung bekommen werden. Wenn sie ausreisepflichtig sind, bekommen sie auch keine Unterstützung. Wir schaffen das, sagt die Kanzlerin, aber ich sehe da Hunderttausende, die in dieser Utopie gar nicht vorgesehen sind. Hunderttausende, für die man nicht mal billige Baracken bauen wird, und die ohne Versorgung in einem der reichsten Länder der Welt sind. Clandestini, Sans Papiers. Zuständig sind ein paar dann völlig überforderte Einrichtungen für jene, die durch alle Netze gefallen sind. Man nennt es hierzulande seit dieser Woche „humanitärer Imperativ“. Und auf deutschen Strassen ist noch viel Platz.
Italien hat niemanden eingeladen. Italien hat versucht, die Probleme mit einem Hotspot auf Lampedusa zu regeln, und dafür schlechte Presse bekommen. Danach hat Italien die Flüchtlinge gern nach Deutschland, zur schlechten Presse weitergeschickt. Heute ist Italien Transitland, mit einer älteren, nicht legalen Schicht unterhalb der Gesellschaft, und ein Land, auf das sich bislang vergebliche Hotspotträume der Deutschen richten. Die Verteilung der Flüchtlinge hapert, die Gründung der Sammelstellen im Süden hapert. Es ist auf eine italienische Art gerecht. An der Frau unter den Arkaden geht die Realpolitik des freundlichen Gesichts spurlos vorüber.
Aber wenn Deutschland Asylbewerber ablehnt und nicht abschiebt, und sie von der Versorgung abschneidet, wenn sie untertauchen und sich dafür die Städte heraussuchen, die ohnehin schon überfordert sind, entsteht diese Schicht zwischen widerwilliger Duldung und Repression auch in Deutschland. Es gibt sie jetzt schon im Görlitzer Park. Es sind Menschen, die sich vom deutschen Staat nichts erwarten, wie es es auch in ihren Staaten nicht tun. Für Deutsche wäre das unvorstellbar, in weiten Teilen der Welt ist das normal. Die Entlegalisierten finden sich in dieser Situation besser zurecht als jene, die betreten wegschauen. Italien findet seit Jahren keine Lösung, und ist ein Bürgermeister zu nachsichtig, wird er hier im Norden aus dem Amt gewählt. Weil die Rechten die Probleme benennen, die hier jeder sehen kann.
Manche finden das hier vielleicht zynisch, kaltländisch und dekadent, dort drüben in der Kälte die Frau, in der Wärme der Bäckerei der finanziell abgesicherte, deutsche Berichterstatter, der sich nur entscheiden muss, welches Museum er heute besucht und sich nebenbei das Elend anschaut. Recht viel grösser als hier können die sozialen Unterschiede nicht sein, wenn das voll versorgte Europa auf jene blickt, die nicht wissen, ob sie morgen nicht doch aufgegriffen und abgeschoben werden, weil irgendein Land in Afrika durch europäische „Entwicklungshilfe“, oder sollte man nicht einfach Bestechung sagen, einige Flüchtlinge zurücknimmt.
Das ändert nichts am Umstand, dass dieser krasse Unterschied zwischen Arm und Reich die deutsche Realität sein wird. Die Politik der offenen Grenzen bringt Hunderttausende nach Deutschland, die rechtlich gesehen nicht bleiben dürften und dennoch alles tun werden, um bleiben zu können. Der Unterschied zwischen mir und jenen, die heute noch Refugee Welcome und Merkel Merkel rufen ist, dass sie die Züge der Hoffnung sehen, und ich die zugigen Arkaden und die Frau, die vergeblich mit den Taschentüchern winkt. Sie ist eine Clandestina. Jemand müsste sie nach deutschen Vorstellungen aufgreifen und abschieben, damit wir das schaffen; Das ist die radikalste Form des Klassenkampfes gegen die Ärmsten und Rechtlosen. Ich kann im Cafe sitzen bleiben, ich halte die ganze Politik der offenen Grenzen für kompletten Irrsinn, wie alle Italiener, die ich kenne. Aber diejenigen, die hinter Merkels Politik stehen, werden sich früher oder später überlegen müssen, was sie mit den Hunderttausenden machen, die erst gar nicht die Möglichkeit bekommen werden, es zu schaffen und sich legal zu integrieren, und dann eben auf den Taschentuchhandel ausweichen.