Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Kinderversklavung als gesunkenes Kulturgut

Die Vergangenheit ist wie ein Teppich. Man kann auf ihm schreiten oder auf ihm ausrutschen.
John Steinbeck

Glück, ein echtes Glück an so einem Wintertag ist es, morgens über altes Parkett in die Küche zu gehen, einen mitleidigen Blick auf die Schulkinder zu werfen, die auf der Strasse durch den Schnee und die Dämmerung zur Unterwerfung marschieren – wie habe ich das gehasst – und dann, noch im Pyjama, auf dem roten Samtsessel im Antechambre in einem Buch zu blättern, bis das Wasser kocht. Die nackten Füsse ruhen auf einem alten, dicken Perserteppich, und kein Blick in das Netz hat einen schon über Terror in Pakistan und den U-Bahn-Mord in Berlin aufgeklärt. Mit den Füssen auf dem Perserteppich, mit Blick auf Bücher und Gemälde und Mitbringsel meines Onkels aus einem längst versunkenen, damals noch faszinierenden Orient ist die Welt für mich noch in Ordnung.

tepa

Andere würden den Teppich dagegen nicht benutzen, sondern gern umdrehen. Früher, in meiner Jugend, als ich sozialisiert wurde, haben wir das gemacht, um die Qualität zu bestimmen und Knoten zu zählen. Man fand es wichtig, dass Kinder nicht nur Silberstempel kennen und Pressglas von Kristall zu unterscheiden in der Lage sind, sondern auch Muster und Machart von Teppichen einschätzen können. Der hier ist, Kundige werden es erkennen, von mittlerer Qualität. Ein guter, robuster Gebrauchsteppich, dick, warm, und er wurde, wie viele nach der Revolution im Iran, vor etwa dreissig Jahren in Pakistan hergestellt. Und weil er doch etwas älter ist, hat er nicht das, was andere an ihm suchen würden: Einen Aufkleber, dass der Millefioriteppich fair und ohne Kinderarbeit hergestellt wurde. Denn das war der grosse Skandal der frühen 90er Jahre, das wurde angeprangert, deshalb empörten sich die Gazetten: Man hatte Anstoss am Umstand genommen, dass Kinder nicht zur Schule gingen, sondern als billige Arbeitskräfte diese Luxuswaren produzierten. Von der moralischen Verwerflichkeit her belegte der Perserteppich aus Kinderhand damals Platz 2 nach dem Babyrobbenpelzmantel.

Importeure versuchten, mit Siegeln, Abkommen und Bildern von glücklich lernenden Kindern dagegen zu halten. Man baute Schulen und argumentierte nicht ganz unzutreffend, dass die Arbeit am Teppich den Menschen seit jeher den Unterhalt garantiere und Kinder, wenn sie das Handwerk früh lernten, später fähige Künstler seien. Ausserdem sei das die Tradition und… es half alles nichts. Handgeknüpfte Teppiche sind in Deutschland nie mehr das Stigma losgeworden, sie seien das Produkt von brutalster Kinderversklavung, an jedem Knoten klebte Blut und die Schuhe der besseren Kreise wateten im Fluch verpfuschter Kinderseelen. Auf diese Weise wurde ein Luxus, der Menschen des Okzidents viele Jahrhunderte in Entzücken versetze, in wenigen Jahren von einer keifenden – und seien wir ehrlich, finanziell zum Kauf solcher Preziosen oft nicht befähigten – Gruppe von Moralgesäuerten umgedeutet zu einem Verbrechen an Kindern. Kimder gehen bekanntlich immer, solange keine Kölner Domplatte dazwischen kommt, und die Beteuerungen der Händler hatten dagegen keine Chance.

tepb

Kulturhistorisch betrachtet kann man sich da nur wundern. Kinderarbeit war durch alle Epochen normal, und auf dem Land bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts vollkommen akzeptiert: Dass Bayern mit den grossen Ferien zuletzt beginnt, liegt einfach daran, dass die Kinder im früheren Agrarstaat bei der Ernte helfen mussten. Wer sich über Kinderarbeit beschwert, könnte sich in meiner Wohnung dauerempören. Der Malgrund meiner Gemälde musste glatt sein, und dessen Aufbringung war das erste, was Kinder lernten, wenn die der Gilde des heiligen Lukas beitreten wollten. Bei der Leinwand dürfte es noch übler sein: Wir wissen aus Grabfunden des frühen Mittelalters, dass kleine Kinder, Jungen und Mädchen, sehr früh lernten, mit Spinnwirteln umzugehen. Und zwar aus guten Gründen: Kinder erfassen das enorm schnell, während Ältere mit der Koordination der Tätigkeiten zu Beginn grosse Probleme haben.

Missbrauch gab es natürlich auch. Ich will hier nicht zu tief in die Materie der Gerberei von Leder einsteigen, aber es gibt gute Gründe, warum man das Gewerbe am Ende der Stadt ansiedelte, und Kinder von Gerbern ungefähr das Sozialprestige der Grünen Jugend Berlin hatten. Wenn sich heute noch Menschen über Perserteppiche aufregen, haben sie nicht die geringste Ahnung von menschlichen Elend, das in den im Rokoko so beliebten Goldledertapeten steckte: Das ist wirklicher Luxus, damit waren Kosten verbunden, die unsere heutigen Vorstellungen von Raumgestaltung sprengen – aber die Kinder, die das Grundmaterial mit allerlei Gift weich, glatt und geschmeidig machten, hatten alles andere als eine gute Jugend. Schafwolle und Seide für Teppiche sind schöne Materialen, es geht um die Erschaffung von Kunst – Urinmischungen für Gerbung dagegen können wirklich töten wie moderne Sweatshop in Fernasien, aus denen heute die Mehrheit unserer Bevölkerung und vermutlich auch der Empörten ihre Kleider beziehen.

tepc

Als Vermögender hat man heute zwischen all den Artefakten alter Ausbeutung und Kinderarbeit das Privileg, dass man sich nichts mehr gefallen lassen muss: Die Kinder, die wegen alter Brutalität starben, sind schon lange tot, und das Elend ist verjährt. Wir tun so etwas praktisch kaum mehr. Zumindest nicht mehr, als andere es auch machen. Natürlich bekommen wir von den Unterschichten keinen Respekt, wenn wir unsere Schuhe von Handwerkern in Italien aus toskanischem Büffelleder nähen lassen, statt sie aus China mit viel Plastik in modischen Farben zu beziehen, ohne zu wissen, wer dafür ausgebeutet wurde. Aber wir sind mittlerweile, was Kinderarbeit angeht, weitgehend unangreifbar. Und sollten wir doch, wie es Amnesty jetzt in den Medien weit verbreitet bemängelt, unter widerlichen Bedingungen abgebauten Kobalt im Akku haben – nun. Mein Rechner ist mittlerweile sechs Jahre alt. Das Plebs Normale sind die, die jedes neue iPhone, darin jeden neuen Akku und anteilig neue Kinderleichen in den Minen des Kongo verlangen.

Denn Kinderarbeit ist nicht mehr der feine Seidenteppich, der hierzulande politisch korrekt ausgerottet wurde. Sie ist nicht mehr ein Handwerk, das wenigen Reichen zugute kommt. Sie ist so normal, so alltäglich, so verbreitet, dass sie allen zugute kommt. Sie steckt in Rohstoffen und simpelsten Dingen. Der Seidenteppich mag noch eine direkte Verbindung zwischen hungrigen Pakistanerkindern und den hochmütigen Absätzen der Opernbesucherin sein. Aber wo steckt in einem alltäglichen Akku das Kobalt? Es ist eine Zutat unter vielen, und viele brauchen das. Es ist zigfach in jedem westlichen Haushalt vorhanden. Wer immer sich darüber beschweren wollte, findet keinen Schuldigen, der reich, rechts und verdorben ist, und vom Elend profitiert. Er findet nur ganz normale, normal unschuldige Menschen, deren iPhones immer dann kaputt gehen, wenn das neue Modell erscheint. Menschen, die auf diesen iPhones so viel Gutes tun und hundertfachen sexuellen Missbrauch in Köln historisch beim Oktoberfest einordnen. Menschen, die Facebook frei halten von schädlichen Meinungen. Menschen, die damit beauftragt werden und über ihr Mobilgerät die Welt wissen lassen, dass sie letztes Jahr zum ersten mal seit langem ohne Depressionen geblieben sind. Das sind keine fiesen Reichen, das sind Aktivisten. Nochabgeordnete, die jungen Müttern sagen, was sie zu tun haben. Alle Flüchtlinge brauchen solche Mobiltelefone und Akkus und Apps, um sich hier zurecht zu finden, etwa den Weg zu grossen Kirchen und ihren Kunstschätzen.

tepd

Da kann man doch nicht mit Kleinigkeiten wie Kobaltkindern im Kongo kommen. Das wäre ja fast so übel wie Hinweise auf die Problematik überfischter Meere durch das Sushi, das sich heute jeder gern kommen lässt. So etwas macht wirklich nur Spass, wenn ein grosses Unrecht einer kleinen Gruppe zugewiesen werden kann. Das hat Amnesty wohl nicht verstanden: Würden sie sich auf etwas konzentrieren, das nur unsereins träfe – etwa die Ausbeutung von Kindern, die sich in Auktionshäusern an Gemälden krumm schleppen – da wären dann alle dabei. Wenn meine von deutschen Akustikern handgefertigten Tonmöbel aus einer formaldehydverseuchten Fabrik wie ihre 99-Euro-Sofas kämen – das wäre super. Da wären alle sofort bereit, ihre grenzenlosen Empörung in das Mobilgerät zu schreiben.

Aber ein Akku? Vom Kongo weiss man doch nur, dass er irgendwo in Afrika liegt. Ausserdem hat man doch schon heute etwas für die Menschen dort getan und gegen Politiker getwittert, die gegen ihre Einreise sind. Die Kobaltkinder müssen nur hierher kommen. Dann wird man sie begeistert empfangen und im Internet darauf verweisen, dass unsere böse Überflussgesellschaft erst ihre Flucht begründet – solange der Akku das eben mitmacht. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich gerne morgens auf dem Plüschsessel sitze, die Füsse auf den Perserteppich lege und ohne Netz auf den Tee in der Silberkanne warte: Es dient meinem inneren Frieden, meiner Gelassenheit und der Vermeidung der grossen Unhöflichkeit zu fragen, ob manche Zeitgenossen im Jauchetrog alter Gerbereien nicht doch ganz passabel aufgehoben wären. Nicht jeder soziale Fortschritt ist immer begrüssenswert.