Ein Text, in dem niemand eine fade Moin, ein Grindkopf, Gschleaf, Heisalschleicha, Letschtnbene, Trietscherl oder Netzfeministin geheissen wird.
Früher, vor 100, 150 Jahren, waren reiche Menschen fortschrittlich und wollten stets die neuesten technischen Errungenschaften. Electricität. Fliessendes Wasser. Breite Strassen, Züge und Trambahnen. Deshalb befinden sich in Augsburg, einem der Zentren der industriellen Revolution, einige hübsche Villen an einer heute lauten, viel befahrenen Strasse, auf der sich auch die Tram drängelt. In einer dieser Villen lebte ein Mann, dem seine Freunde sagten, er sollte etwas für seine Gesundheit tun und mehr radeln. Er kaufte sich Anno 1982 also ein wirklich schickes Rad der italienischen Marke Somec und kreuzte nach ein paar Ausfahrten die Schienen der Strassenbahn, an deren Nähe sich der Mensch, aber nicht der Gummi des Reifens gewöhnt, wenn es feucht ist. Der Mann legte einen kapitalen Abgang hin, die tiefen Furchen im rechten Bremshebel künden noch davon, verlegte sich wieder aufs Nichtstun und starb dann letztes Jahr aus einem anderen Grund, und auch nicht unter der Strassenbahn. Ich musste das Somec, das ich von seinen Erben bekam, nach 33 Jahren nur entstauben.
Wie die Zeiten sich geändert haben, sieht man daran, dass über heutige leitende Angestellte, also Manager, solche Zeilen kaum erscheinen würden. In den 50er Jahren konnte der kugelrunde Heinz Erhardt noch glaubwürdig einen Eierlikörfabrikanten verkörpern, und nirgendwo im Film taucht die Frage nach der Herkunft der Eier auf. Heute müsste, damit ein modernes Remake in der ARD laufen dürfte, jede Menge Kritik erkennbar sein, und ein Saulus-Paulus-Erlebnis beim Betrachten glücklicher Hühner, die idealerweise für das Ziel der Volksaufklärung von einer lesbischen Schutzsuchenden aus Nigeria nach der Sharia vegan ernährt werden. Und Manager müssen schlank sein. Der rundliche Fabrikant war schon in meinen Jugendzeiten am Aussterben, Sport war nicht unüblich, aber im Westviertel der kleinen, dummen Stadt wohnen die Lenker des hiesigen Weltmarktführers – und die sind alle schlank, sportlich und tun auch etwas dafür. Einen kenne ich aus meiner Schulzeit: Der war damals dick. Heute nicke ich ihm aufmunternd zu, wenn ich ihn joggen sehe. Das System hat ihn körperlich auf Linie gebracht. Dagegen ist nichts zu sagen.
Ich bin bekanntlich eher faul und an Karriere gründlichst desinteressiert, und vorgestern nun war ich mit einem anderen Beitrag fast fertig, da schaute ich zum Fenster hinaus nach Westen, und dachte mir: Eventuell wird es da hinten zu später Stunde doch noch schön. Vielleicht klart es noch auf, im Westen, wo die Sonne untergeht, die Tage sind lang und den Beitrag kann ich auch irgendwann später fertig schreiben. Der Tag war hässlich und regnerisch genug, der Sommer in Deutschland ist nach all den sonnigen Wochen in Italien eine echte Zumutung – da muss man nehmen, was man kriegen kann.
So fuhr ich los. Denn als ich fünf Jahre alt war, wollten meine Eltern einen Gebirgsurlaub mit uns Kindern machen. Das ist eigentlich schön, aber in Südtirol klebten Regenwolken zwischen den Bergen wie Ex-Stasi-IMs zwischen SPD-Ministern, und es war grau und hässlich. Es war auch absehbar, dass es so bleiben würde. Also packten meine Eltern den silberblauen BMW mit dem 2,5-Liter-Aggregat, stopften uns Kinder auf die Rückbank, und fuhren los, weiter in den Süden. Kinder fragen dann immer, wie lange es noch dauert, und mir kam die Poebene endlos vor: “Vater, wann sind wir endlich da-ha?“ Und mein Vater antwortete: “Ich fahre, bis die Sonne scheint.“
Auf diese Art und Weise sahen wir Modena, Bologna, Florenz und gefährliche Pässe im Apennin im Regen, regenschwarze Dörfer auf dunklen Bergen, Urbino im Regen, das Meer im Regen und es war schon tiefschwarze Nacht, als endlich der Mond durch die Wolken über dem Meer erkennbar wurde. Bis unterhalb des Sporns hatte uns der hochdrehende Motor des BMW und der unerbittliche Wille meines Vaters gebracht. Nach einer abenteuerlichen Hotelsuche, die heute noch den Schatz der Familienlegenden bereichert, waren wir also am Meer. Und dann drei Wochen im Sonnenschein, während Norditalien weiter absoff.
Es gibt aus diesem Urlaub Bilder von mir mit einem orangen Plastikeimer im Sand, und ich sehe glücklich aus. Man muss eben seine Ziele im Leben haben. “Fahren, bis die Sonne scheint“ war früher so ein Ziel, und es ist auch heute noch so, wenn ich am plattgestürmten Getreide vorbei nach Westen fahre, der Sonne entgegen. Diese Freiheit musste man früher haben: Die Möglichkeit, sein Leben selbst zu bestimmen und zu fahren, bis es passte. Das war Luxus. Das war – und ist – nicht billig, aber es war möglich. Es war auch möglich, in dieser Zeit für die Firma nicht erreichbar zu sein, ohne dass die Firma damals pleite gegangen wäre. Wer etwas wollte, musste sich eben gedulden. Wir waren am Meer, ganz weit unten, nach einer Woche fühlte sich meine Mutter dann auch mal bemüssigt, die Verwandtschaft wissen zu lassen, wo wir waren. Mit Postkarten, von denen einige nicht Deutschland erreichten. So war das.
Ich habe vor diesem Beitrag nachgeschaut: Das Hotel am Meer gibt es immer noch, und heute wirbt es – wie alle – mit Wellness und einem prämierten Restaurant um wohlhabende Gäste. Ich weiss nicht, ob man dort noch um Mitternacht wie meine Eltern einmarschieren und auf die Glocke hauen kann, während draussen der glühend heisse Motor unter der raubfischartigen Karosserie knackt und die Kinder auf dem beigen Leder der Rückbank, an ihre Plüschgiraffe gekuschelt, tief und fest schlafen – man sollte aber mit winzigen Portionen auf grossen Tellern leben und dadurch abnehmen können. Damals gab es dort absurd riesige, mehrstöckige Buffets und gelbrotkarierte Tischdecken. Wir sind gefahren, bis die Sonne schien. Das war der Luxus der guten, alten Bundesrepublik Deutschland. Heute fährt man bis zum Sommelier, akkurat geschnittenen Lauchblättern und zum klimatisierten Indoor-Pool.
Check mal Deine Privilegien schallt es uns entgegen, wenn es um Fragen der sozialen Gerechtigkeit geht. Das tut man in unseren Kreisen viel zu selten, man lässt sich einfach von der Entwicklung mitziehen. Reichtum und Luxus sind heute etwas ganz anderes als früher, der damals grosse BMW wäre heute klein und schwach, dafür sind die alten Villen zu gross für moderne Kleinfamilien. Es steigen die Ansprüche an das Leben und an sich selbst, man muss sich Wissen und Kompetenzen erarbeiten, die es früher einfach nicht gab, und blättert dann in der Freizeit in der Landlust, oder bestellt eine handgeschmiedete Axt. Die Sonne scheint. Sie scheint immer, aber nie für alle und als ich dann endlich auf dem alten Rad vor ihr ankomme und absteige und einfach nur zuschaue – bin ich allein. Auf den neuen, riesigen Bildschirmen streiten sich Männer um Bälle, wie sie es 1982 in Bildern aus Spanien auf kleinen Bildschirmen auch schon getan haben, als Italien Deutschland vom Platz fegte, und davor sitzen Menschen, während draussen der Himmel rot und blau leuchtet.
Man muss sich heute bei uns seine Privilegien aussuchen, und die Fähigkeit dazu haben – aufgrund der immensen Verfügbarkeit für die meisten Menschen, die im Supermarkt vor Dutzenden von Waschmitteln der immer gleichen Grosskonzernen stehen. Der Luxus, mit dem Automobil in den Süden zu fahren, wirkt klein angesichts der günstigen Flugpauschalreise. Aber die Erde dreht sich weiter um die Sonne und die Kugeln in den Lagern eines 34 Jahre alten Rades sind nicht anders rund als jene in den Rädern, deren Pedale im Geschäft mehr als mein Somec aus dem Speicher kosten. Am Ende wird gestorben.
Das ist nun mal so. Der Sonne ist es egal, ob man sich Mühe gab, sie oft zu sehen. Es gibt genug andere Optionen, im reichen, Neuen Deutschland. Da muss man nicht von Glück reden.