Ich fühl mich einsam, wenn ich allein durch die Wüste gehen muss
Ich stell mir vor, die Sphinx gibt mir einen Zungenkuss
Die Ärzte, Gehen wie ein Egypter
Zu neuen deutschen Leitkultur des öffentlichen Moralherzeigens gehören drei urdeutsche Merkmale: Erstens das Verbot einer Leitkultur, vorgetragen etwa vom Tagesspiegel (“Darf es nicht geben”). Zweitens eine innerdeutsche Ablehnung anderer Minderheiten (“Wir sind nicht Lederhose” der Grünen Jugend in der Welt). Drittens das Bekenntnis zum neuen, besseren, durch Zuwanderung veredelten Volkskörper, der auf gar keinen Fall die Ideologie des vorhergehenden, inzwischen hinweggefegten, biodeutschen Systems der 50er Jahre benötige. Da zittern die morschen Knochen der “alten, weissen Männer”! Deutschland hat sich verändert. Mal wieder.
Normalerweise würde ich nun erklären, warum die Grünen nächstes Jahr aus dem bayerischen Lederhosenlandtag fliegen und Mitarbeiter des Tagesspiegels nicht ganz zufällig in einem Slum hausen, und auf dem Weg zur Arbeit mit der S-Bahn durch einen Cordon der nochnichtsolangehierseienden Drogenkultur geleitet werden. Aber ich bin in Italien. Italien ist das schönste Land der Welt, es ist unendlich freundlich zu mir, und das Wetter ist auch sommerlich. Ich plumpse in Italien wie eine fette Hummel in den Honigtopf, und ich passe mich hier so perfekt an, dass mich alle für einen der ihren halten. Wenn ich sprachlich an eine Grenze komme, bewundere ich das Land und alles ist gut.
Wobei der Deutsche in mir sehr genau registriert, dass er mit vielem, was er hier sieht, überhaupt nicht einverstanden ist. Wer hier länger lebt, erkennt auch die – aus deutscher Sicht – Schattenseiten des italienischen Systems. Mit jemandem, der beim Begriff “deutsche Leitkultur” echt preussische Pickelhaubenpickel bekommt, war ich auch hier, und der hiesige entspannte Schlendrian, der an den Umgang Berliner Bürgerämter mit den Leibeigenen, nur in freundlich, erinnert, warf ihn aus der Bahn. Es fehlte ihm einfach die urdeutsche Hingabe an die Pflichterfüllung. Die ist so deutsch, dass Deutsche sie erst erkennen, wenn andere ihr nicht entsprechen. Daheim ist das so normal wie Atmen, aber in Italien ist nichts normal.
Es gibt hier vieles, das man ganz einfach anders und besser machen könnte. Aber man müsste es anders machen und umdenken, und alle müssten mitmachen. Das klappt manchmal wie beim Rauchverbot und manchmal nicht, wie bei den Steuern und Abgaben, Öffnungszeiten von Museen und beim Bau von Rennrädern, wo man immer erst die Gewinde in deutscher Präzision nachschneiden sollte und nie weiss, ob sich unter dem Columbus-SLX-Aufkleber nicht ganz anderes Rohr verbirgt. Ich kenne hier einen Rahmenbauer, der die wüstesten Geschichten über Marken mit bestem Ruf erzählt: Wenn Stahlkünstler A einen Exportengpass hatte, gravierten Stahlkünstler B, C und D seinen Namen in unbrauchbare Reste, lackierten sie neu und verschickten sie nach Amerika.
In Deutschland wäre das Betrug, in Italien ist es kreative Problemlösung. Aber was soll ich sagen: Ich bin auf der L’Eroica-Rennserie in der Toskana und sehe Amerikaner, die mit Tränen in den Augen, von der Emotion überwältigt, diese teuer erworbenen Schrottkisten wie eine Monstranz zum Start tragen. Es hat also funktioniert. Warten Sie, ich zeige Ihnen das an meinem neuen Capodivento-Rahmen mit der italienischen Flagge.
In den 70er Jahren wurde es schick, das Tretlager mit Bohrungen zu versehen, um den Rahmen leichter zu machen. Das brachte vielleicht 10 Gramm und wäre sinnlos gewesen, weil man mindestens 20 Gramm Rostschutzlackierung im Rahmen hätte aufbringen müssen. Das ist aufgrund der Enge der Rohre schwierig, also umging man das Problem durch schiere Nichtlösung, und so kommt einem an dieser Stelle der Rost entgegen. “Produkthaftung” ist nicht ohne Grund das unitalienischste Wort der Welt – aber dafür kauft man auch nicht italienisch.
Man sieht diese unterschiedliche Auffassung auch beim Rennen selbst. Als ich hier zum ersten Mal startete, dachte ich, es sei eine kostümierte Rundfahrt, die sich einfach einen harten Anschein gibt. Ich baute ein ganz normales Rennrad, mit dem ich daheim jeden Berg hoch komme, und erlebte eine der schlimmsten Niederlagen meines Lebens. Solche Anstiege kann man sich auch in wüsten Träumen nicht vorstellen, es ging an meine ´Substanz, und danach sagte ich mir das, was man sich oft sagt: Nie wieder! In der Erinnerung ist es aber doch ganz schön, die Schmerzen werden vergessen und die Begeisterung kommt zurück, und man erinnert sich genau an den Hügel, als die Italiener alle schon ganz unten abstiegen, aber der Deutsche, der ging aus dem Sattel, der drosch das Rad nach oben, bis es wirklich nicht mehr ging! Gut, danach war der Deutsche auch wirklich platt und bekam einen Asthmaanfall, während die Italiener plaudernd an ihm vorbei liefen, aber so ist der Deutsche nun mal: Lieber sterben als versagen.
Und wenn man doch versagt hat, wenn man den Italienern hinterher laufen muss, setzt beim Deutschen die Problemlösungskompetenz ein. Mein erstes Rad für die Toskana war ein herkömmliches Colnago, mein zweites Rad dagegen ein Spezialprojekt, in das alle meine Erfahrungen geflossen sind. Es hatte optimierte, unzerstörbare Reifen. Es hatte einen hohen Lenker. Es war deutlich länger gebaut und hatte flachere Winkel. Es war weicher für all die Erschütterungen durch die Schotterpisten, und es hatte ein drittes, kleines Kettenblatt vorne und einen riesigen Zahnkranz hinten. Die Italiener stiegen ab, ich schaltete runter und blieb auf dem Sattel. Gut, es gibt auch alte Männer hier, die aussehen, als bräuchten sie einen Stock, und dennoch mit riesigen Kettenblättern die Berge hoch und an mir vorbei drückten. Aber immerhin musste ich fast nicht mehr absteigen. Die Suche nach einer technischen Lösung ist sehr deutsch, und beim Start in Buonconvento am Sonntag war ich auch zuversichtlich, gegen all die diesmal erlaubten, neuen Räder zu bestehen.
Ehrensache! Hatten sich doch eher kleine Italiener, fast so kurz wie der deutsche Zensurminister, auf riesige, ultramoderne 29er gequetscht, um mit breiten Reifen unheldenhaft über jenen Schotter zu rollen, auf dem unsereins heldenhaft Haut und Knochen riskiert. Früher glaubten manche, 7 Löcher im Tretlager machten sie schneller, heute glauben sie, dickere, schwerere Reifen und Vollfederung machten sie schneller. Auf 20 Minuten unpünktlich erfolgte der Start, und zwischen all den Rennrädern wurden die 29er ganz schnell nach hinten an das Ende des Feldes durchgereicht.
Ansonsten ist es hier eben so, wie es ist. Man fährt zusammen, schaut sich in der Landschaft um und sieht irgendwo eine steile, weisse Schotterpiste im Grün der Crete Sienesi, und denkt sich: Wer baut solche Strassen und wer soll da bitte hoch kommen? An der Schotterpiste biegt man ab und erfährt, dass einem die Éhre zuteil wird, hier Beinmuskeln und Lungenvolumen gegen den Berg zu werfen. Alle schalten hektisch hinunter, und dann trennt sich schnell die Spreu vom Weizen: Die einen legen ihr ganzes Gewicht in die Pedale und ziehen hinauf, die anderen steigen plaudernd ab und schieben. Der Deutsche jedoch zündet seine technische Geheimwaffe und kurbelt hochfrequent und mit Untersetzung den Berg hinauf. Es ist kaum schneller als das Laufen, aber es sieht aus, als könnte man hier wirklich bestehen.
Von Betrug reden, wäre verfehlt, denn ich komme aus Deutschland, und da sagt die Kanzlerin, Saudi-Arabien würde etwas gegen den Terror unternehmen und in Zeitungen steht geschrieben, Migranten würden zukünftig die Rente bezahlen, was bedeutet, dass Sie und ich nicht befürchten müssen, als Flaschensammler zu enden. Das ist die deutsche, eherne Leitkultur der Wahrheit, da ist so ein kleines, verstecktes, französisches Kettenblatt unter all den schönen, aber riesigen Kurbeln der Italiener allenfalls das, was man als Alternative Fakten bezeichnet. Deutsche betrügen nicht, Deutsche gleichen mangelndes Training im Winter durch geistige Höchstleistungen aus. So sehe ich das, und die ersten Bergsiege geben mir recht.
Und so halte ich mit und komme auch voran. Sicher, ich bin am Berg nicht schnell, aber bergab lasse ich die Bremsen einfach los und fliege todesmutig in Abgründe, während meine Begleiter die Bremsen betätigen. Sie tun das, weil der Italiener als ein solcher das Überleben dem deutschen Heldentod vorzieht, so, wie er auch lieber die Grenzen zieht, als dass er edel, hilfreich und alternativlos im Strassengraben sagt: Jetzt bin ich aber nun mal da. So ist er, der Italiener, und insgesamt strample ich mit und komme gut voran, in einer Landschaft, die Seelen erblühen lässt.
20 Kilometer vom Start entfernt kommt noch ein Hügel, und wie gewohnt keuchen die Gefährten und ich schalte auf mein kleines, französisches Kettenblatt, kurble eine halbe Umdrehung munter weiter, und dann blockiert die Kette, während mich der Schwung der eigenen Beine fast über den Lenker zieht und ich schlingernd zum Halt komme. Möglicherweise ist ein Kettenglied steif, denke ich mir, und lobe mich für die deutsche Gründlichkeit, einen Kettennietdrücker – was für ein herrliches urdeutsches Wort, fast so schön wie Netzdurchsetzungsgesetz – mitzuführen. Ich wehre Hilfsangebote ab, drehe das Rad um und suche das widerborstige Glied. Statt dessen finde ich ein vom heftigen Schalten offensichtlich verbogenes, kleines Kettenrad. Meine Geheimwaffe ist kaputt. Und schlimmer noch, Ersatz wird seit 30 Jahren nicht mehr gebaut, und das französische Spezialwerkzeug, das ich nun bräuchte, ist in Deutschland.
Es sind nur zwei Zähne, aber man kommt nicht an sie ran. Ich versuche alles, mit Fingerspitzengefühl, mit Gewalt, mit Fluchen, mit brutaler Gewalt, mit bayerisch Fluchen, jozefixkruzinesenbianbamundhollaschtaudnhundsvarecksbladlhalleluia, es wird besser, es geht drei, vier Umdrehungen, dann klemmt es wieder. Ich habe noch 52 von 72 Kilometern und 1200 von 1500 Höhenmetern vor mir, und de facto ein Rad wie ein Italiener: Das kleinste Kettenblatt mit 42 statt 26 Zähnen und das grüsste Ritzel mit 28 Zähnen. Damit fahre ich vielleicht Hügel mit 8% hoch. Aber nicht das, was am Ende des Berges auf der anderen Seite des Tales sichtbar wird: Den mörderischen Anstieg hoch zum höchsten Punkt von San Quirico d’Orcia. Dort oben ist eine grandiose Festung des Mittelalters, die heilige Katharina von Siena lebte und schrieb dort – ich, das ist absehbar, werde schieben.
Immerhin schiebt man hier in der schönsten Landschaft der Welt. Es könnte schlimmer sein. Und so schön sehen die Gesichter derjenigen, die sich mit letzter Kraft an einem vorbei drücken und den Körper in die Pedale stemmen, auch nicht aus. Es dauert etwas länger, aber man hat mehr Zeit, sich umzuschauen. Man will ja eigentlich gar nicht so schnell sein, denn wo immer man später ankommen wird, wird es kaum schöner sein. Manche Italiener hier halten schon nach 5 Kilometern an und setzen sich in ein Cafe und sehen dabei auch nicht schlecht aus. Es ist eben immer eine Frage der Zielsetzung: Will man Bergsiege erreichen oder ein schönes Leben?
Nach einer Weile kommen die anderen nicht nur von hinten, sondern auch von vorne. Das bedeutet, dass dort oben die erste Raststation ist, und also gar nicht mehr weit weg sein kann. Manchmal, wenn es geht, fahre ich, manchmal schiebe ich, meine Beine melden sich schon, wenn es nicht mehr geht, und irgendwann ganz weit oben steht ein Mann am Strassenrand und winkt mir zu. Nach links, bitteschön, da ist die Verpflegungsstelle, und da sind auch die anderen, die etwas langsamer sind, und zeigen nicht das geringste Anzeichen von Scham, dass das Hauptfeld längst über die nächsten Hügel entschwunden ist.
Eigentlich ist es gar nicht so schlecht, denn ich war hier noch nie, und der Ort ist wirklich hübsch. Weil es ohnehin zu spät ist, die anderen noch zu erreichen, verweile ich etwas und schaue mir die verwinkelten Häuser an, statt hier einfach sinnlos vorbei und in die Tiefe zu stürzen.
Weiter hinten schiebe ich hoch zum nächsten Castello und bleibe einfach eine viertel Stunde sitzen, um die Landschaft zu geniessen. Da vorne ist Montalcino und dahinter wieder Buonconvento. Der sorgenfreie Italiener in mir vergessen, sich die Route im Internet anzuschauen, aber ich gehe mit italienischer Gelassenheit davon aus, dass es nun zurück zum Start geht.
Wieder unten im Tal freut sich der Deutsche in mir, dass die 29er gerade erst am Fusse des Berges angekommen sind, den ich gerade hinunter gerast bin – trotz meiner Schieberei habe ich fast eine Stunde Vorsprung. Gleichwohl muss der Deutsche in mir die Entdeckung machen, dass es nach links zurück nach Montalcino gehen würde, und der Pfeil des Weges unerbittlich nach rechts zeigt. Oder, wie es hier üblich ist, in Richtung der nächsten staubigen Piste, die ich mit dem kleinen Kettenblatt bezwingen würde. Jetzt ist es halt so, dass ich fahre, bis ich absteigen muss. Aber je länger die Strecke wird, je weiter ich komme, je mehr Berge sich in meinen Weg stellen, desto öfters merke ich: So schlimm ist das gar nicht. Ich gehe aus dem Sattel, ich drücke mich hoch, es tut zwar etwas weh, aber andere kämpfen auch, manchmal steigen wir dann ab und manchmal kommen wir zusammen oben an.
Es folgt eine neue Abzweigung nach links zurück nach Buonconvento und ein neuer Pfeil nach rechts zur nächsten Rampe. Eigentlich bin ich schon deutlich am Ende meiner Kräfte, und vielleicht habe ich auch schon einen Hitzschlag, der das Gehirn außer Kraft setzt und mich deshalb nur vegetativ den Berg hochfahren liess, aber ich ergebe mich, man kann es eh nicht ändern und que sera, sera. Und wie ich dann so radle, merke ich, dass der Schotter gar nicht mehr so hart über den Sattel ins Gesäss geleitet wird. Der Schotter wird angenehmer, weicher, der Hinterreifen bügelt ich immer besser weg, je weiter ich komme, das ist prima, und nach ein paar hundert Meter stelle ich mit wissenschaftlicher Präzision fest, dass ich hinten massiv Luft verliere. Es ist dies meine 7. L’Eroica, noch nie habe ich hier einen Platten gefahren. Jetzt ist es so weit. Aber ich habe deutsche Ersatzschläuche und eine deutsche Pumpe dabei, und das alles ist doch alles kein Problem.
Ich wechsle den Schlauch und pumpe. Der Schlauch wird voll, ich pumpe weiter, der Schlauch wird voller, das Pumpen wird schwerer, und dann macht es leise krks, wie eine Grille, und das Pumpen wird ganz leicht. Ich pumpe weiter und sage mir, es kann doch nicht sein, dass eine deutsche Qualitätspumpe so versagt, wie ein deutscher Technikspezialist an einem französischem Kettenblatt, ich pumpe und pumpe und langsam verliert der Reifen auch wieder Druck. 20 Kilometer vor dem Ziel habe ich ein ruiniertes Kettenblatt, einen platten Reifen und eine gebrochene Pumpe, und obendrein schon längst kein Wasser mehr in der Flasche. In der schönsten Landschaft der Welt und einer der regenärmsten Regionen Europas. Da sage ich mir mit dem Innersten meines Deutschtums: Und wenn es das Letzte ist, was ich tue – ich komme mit diesem Rad in Buonconvento an. Blutige, verantwortungslose Schwüre ohne substanzielle Berechtigung, das können wir Deutsche gut. Wir haben ja nicht umsonst eine Regierungschefin, die sagt, wir schaffen das.
Aber es kommt anders, es kommt italienisch und es kommt mit einem Geländewagen, der anhält, und ein grosser, bärtiger Italiener steigt aus und fragt, gerade als der Reifen wieder ganz leer ist, ob er helfen kann. Ich erkläre mein Problem, und er holt eine steinalte italienische Silca Standpumpe aus dem Kofferraum, und knallt Luft in den Reifen. Bene, fragt er, und ich sage naja, denn beim Pumpen habe ich auch gemerkt, dass das Hinterrad einen Achter hat, und der wiederum eine Ursache: Éine gebrochene Speiche, eine deutsche, alte und eigentlich unverwüstliche Prym-Speiche. Aber da kann man eben auf die Schnelle nichts machen.
Natürlich könnte ich jetzt in den Wagen steigen, das wäre auch noch eine Option, aber sie ist weder deutsch noch italienisch, sondern nur dann erlaubt, wenn wirklich keine Alternative bleibt. Ich öffne die Bremse hinten, denn ich bremse ohnehin kaum mehr, stelle erfreut fest, dass das Rad noch in den Rahmen passt, und fahre weiter. Eigentlich bin ich wirklich am Ende, aber auch in jenem tranceartigen Zustand, in dem einem alles egal ist, so wie einem italienischen Beamten die Frage, ob der Antrag eines anderen heute noch bewilligt wird. Es gibt nur noch mich, ein Ziel und eine Strecke, die zu überwinden ist, mit welchen Mitteln auch immer.
Und weil ich so fertig bin, schreite ich nicht mehr wie ein arischer Recke durch die Landschaft, ich wanke ein wenig, wie die Italiener das auch tun, wische mir den Schweiß aus dem Gesicht und denke mir überhaupt nichts mehr dabei. Ich steige viel seltener ab, als ich dachte, aber wenn ich es tue, mache ich es mit der Würde des Einsichtigen in die eigene Begrenztheit. Innen treibt der Deutsche weiter, von aussen nehme ich es mit Gelassenheit. Ich ertrage Schweres mit Würde. Sprezzatura nennen Italiener das, was ich nun zeige, bis zur letzten Abfahrt, an der ich mir die Frage stellen sollte, ob es wirklich weise ist, mit Tempo 90 und einer gebrochenen Speiche diesen Steilhang hinunter nach Buonconvento zu jagen.
Aber so sind wir Deutsche und Italiener halt alle, vielleicht ist es auch nur männlich und die, die es überleben, sind dann voreingenommen und sagen, ach was, Tempo 90, das hält mit der gebrochenen Speiche schon, das hat schon immer funktioniert, keine Angst. Die Angst und alle Befürchtungen, sie enden hier bei der letzten wilden Jagd mit der Schwerkraft, die einen aus allen Strapazen entlässt und eine kleine Träne der Rührung mit dem Fahrtwind waagrecht nach hinten wandern lässt. Männer weinen nicht. Männer kennen keinen Schmerz. Männer kommen an, wenn sie nicht sterben, egal ob Geröll, Kettenblätter, Steigungen, Pumpen, Hitze, Speichen, Durst oder Schläuche dagegen sprechen. Und wenn es sein muss, auch nur auf dem letzten verbliebenen Kettenblatt, weil 10 km vor dem Ziel auch noch der Umwerfer streikte.
Am Ziel reissen mir begeisterte andere alte Italiener das alte, geschundene und staubverschmierte Rennrad aus den Händen und lassen sich damit ablichten. Ich bekomme den letzten Stempel mit einer sehr späten Uhrzeit, aber ich habe es überstanden. Man hängt mir eine Medaille mit rotweissgrünem Band um den Hals. Etliche haben es nicht geschafft, manche mussten aufgeben, aber ich bin hier, aus eigener Kraft und mit dem eigenen Rad, und es war offensichtlich noch nicht das Letzte, was ich getan habe.
Statt dessen schiebe ich italienisch locker hinüber zum Markt, um das zu tun, was wir Italiener immer tun, wenn wir etwas vollbracht haben: Wir belohnen uns. Deshalb gibt es bei uns in Italien auch überall diese Inschriften, auf denen steht, wer von uns hier wann was gebaut hat und warum das ein Grund ist, stolz zu sein. So sind wir halt, so bin ich auch, und auf dem Markt treffe ich den Mechaniker mit der Pumpe wieder. You made it, sagt er, und wir reichen uns die Hand. Meine ist sonnenverbrannt, verschwielt und an den Spitzen dreckig wie wie eine Schmutzkampagne von Correctiv, aber so muss das in Italien eben sein
Und dann schreite ich leicht federnd durch Buonconvento, die gebrochene Speiche klimpert das Lied vom Überleben, die Sonne scheint, und wie ich da so als zufriedener, braun gewordener alter Mann von allen Mühen und Zielen befreit durch den Ort gehe, falle ich nicht mehr auf, und bin mehr als nur angekommen. Ich kam als Deutrscher und gehe aus Buonvonvento wie ein Italiener.