Facelifting? Nein, dann würde ich ja alle diese großartigen Falten zerstören
Clint Eastwood
Über Jahrhunderte hinweg war das wichtigste Werk Giovanni Boccaccios – nein, nicht das Decamerone, sondern die Lebensgeschichten berühmter Männer und Frauen. Im Decamerone erlebt man den Autor in der Figur des Dioneo als jungen, adretten und anzüglich agierenden Mann, der sich nicht an die Regeln hielt; so, wie Boccaccio selbst dem Kaufmannsberuf entfloh und Schriftsteller wurde. Danach hatte er jedoch, je nach Standpunkt, eine Bekehrung oder eine persönliche Krise, und wandte sich ernsten Themen zu. Seine Sammlung der Schicksale berühmter Menschen sollte den Lesenden erklären, wie man mit Krisen fertig wird, und welche Methoden angemessen sind. Das Werk war sehr beliebt in einer Epoche, in der Krisen, religiöser Wahn, Pestbeulen und Katastrophen zum Leben gehörten wie heute der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Genderprofessuren, orientalische Despoten und die EU-Kommission. Man konnte beim toskanischen Universalgelehrten Boccaccio lesen, wie sich historische Vorbilder aus misslichen Lagen befreiten und danach lange und zufrieden lebten.
Heute ist das bei uns anders, wir leben meist nicht mehr in den Hügeln der Toskana, Verwerfungen sind in der BRD eher selten, und wer zu der schmalen Schicht gehört, die wirklich noch Klassiker liest, gehört meist zu den Akademikern oder ihren Nachfahren, die finanziell auf neoliberalen oder ererbten Rosen gebettet sind. Früher oder später werden sie trotz liderlichen Lebenswandels nicht mehr bei der Poussage beim Fenster, sondern bei der Kanzlei des Onkels einsteigen, oder bei irgendeiner sinnlosen Stiftung oder einem Zwangsgebührenverprasser unterkommen. Jedenfalls, Vorbilder sind in dieser anstrengungslos reichen Bildungsklasse nicht mehr sonderlich gefragt, und wer sich für Rocco Sifredi zu fein ist, der liest im Decamerone, wie Alibech und Rusticus den Teufel zur Hölle schicken. Das ist vergnüglich, und außerdem, die Hölle, ganz ehrlich, was soll das: In diesen Kreisen ist das Altern zumeist ans Heim, der Tod an die private Krankenversicherung und die Hölle an die Versicherungsbranche ausgelagert. Man braucht in sicheren Zeiten keine Vorbilder für Krisen mehr, und die meisten Karrieren fliessen ruhig und träge und langweilig auf das Ziel Pensionierung zu. Was soll man da Vorbilder bei alten Eroberern finden, mag man denken. Es sei denn, man setzt sich freiwillig der Hölle aus. Genauer, der Hölle aus Regen, Nebel, Schlamm und einem nicht enden wollenden Berg, den man nach oben schnauft wie dereinst Sisyphos.
Das ist bei mir im Oktober stets die L’Eroica, und letztes Jahr war ich gerade ganz oben angekommen, als mich jemand überholte. Es fahren dort viele ehemalige Rennradidole mit, aber derjenige, der mich überholte, trug die Nummer 1. Auf einem Stofffetzen, den er selbst bemalt hatte. Und während ich dort mit einer speziell aufgebauten Maschine hochstrampelte, mit Untersetzung und neuen Bremsbelägen, hatte die Nummer 1 nur einen einzigen Gang, mit dem sie sich hier hinauf gedrückt hatte. Die Nummer 1 trug kein frisch gewaschenes Trikot in Gelb und Orange, sondern einen mottenzerfressenen Pullover. Mein Rad war frisch restauriert, das Rad der Nummer 1 rostete, wo der Lack abgeblättert war, und gammelte, wo der Lack noch dran war. Ich fuhr so mittelschnell, die Nummer 1 legte sich tief über den Stahllenker und trat in die Pedale.
Die Nummer 1 war 24 Jahre älter als ich und fuhr so schnell, als wäre ich 24 Jahre älter als sie. Aber wie es so ist, das Adrenalin war schon im Blut und das Testosteron setzte auch ein, und so verliess ich meinen Kampagnon und fuhr keuchend eine gewisse Strecke mit der Nummer 1. Die Nummer 1 hatte enorme Krampfadern an den Beinen, wie die Hydraulikleitungen eines Baggers, sie stampfte durch den Matsch und frass einen nach dem anderen, langsam, unerbittlich, unbeugsam, mit der immer gleichen Geschwindigkeit und einer unbändigen Kraft.
Diese Nummer 1 ist die volle Härte, man kann es nicht anders sagen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich das Leben auf den weissen Strassen und den brutalen Anstiegen leichter zu machen. Man kann die Herausforderungen der Hölle technisch angehen und ihnen die übelsten Spitzen nehmen, bis hin zu ultraleichten Alukreationen des Jahres 1987. Die Nummer 1 dagegen hatte ein fast hundert Jahre altes, verhautes Rad, einen einzigen Gang und eine einzige Vorderrad-Stempelbremse. Noch wahnsinniger als die Fähigkeit, mit so einem Rad Steigungen mit 14, 16, 20% hoch zu fahren, ist die Bereitschaft, mit so einem Trumm derartige Berge auch hinab zu schiessen.
Ich mein, ich überhole bergab mit dem Rennrad auch schon mal Autos und Motorräder und lasse sie im Gegenzug nicht vorbei, und wenn es sein muss, auch in der Dunkelheit ohne Licht. Auf der Skala des temporären Irrsinns gehöre ich sicher schon zu den Übergeschnappten, aber ich trage einen Helm und fahre auch bei den Klassiskern optimal eingestellte Räder. Ich habe die Nummer 1 auch bergab fahren sehen, und ich würde sagen: Zwischen dem Nullpunkt der 140 Kilo schweren Soziologin, die auf dem verstärkten Bürostuhl noch eine Tüte Gummibären isst, und dem, was die Nummer 1 da auf Schotter gemacht hat, bin ich in Sachen hochmobiles Risiko vielleicht auf der halben Strecke anzusiedeln. Und natürlich wäre ich lieber näher an der Nummer 1 denn an der 140 Kilo schweren Soziologin, die sich fragt, wann endlich das nächste Prangerportal online geht. Man könnte sagen, die Nummer 1 war mit ihrem mottenzerfressenen Trikot und den Krampfadern, doch, ja, auf jeden Fall, ein Vorbild.
Oder ein Grund für Beschämung. Im Mai 2017 hat die Nummer 1 wieder genau das getan, was sie immer getan hat: Mich überholt, und zwar am letzten 14%-Anstieg hoch nach Montalcino, der gemeinerweise genau dann einsetzt, wenn der vorletzte Anstieg gerade vorbei ist. An dieser Stelle, mit 70km in den Beinen, ist es eigentlich keine Schande, abzusteigen und ein paar Meter zu schieben. Aber die Nummer 1 stampfte aus dem Schotter auf den Asphalt, mit dem einzigen Gang am Rad, ganz langsam, aber mit voller Kraft drückend, alle drei Sekunden eine Pedalumdrehung – und immer noch gut aussehend. Als ich das Photo oben gemacht habe, schob ich peinlich berührt meinen linken Fuss vor mein 32er Ritzel hinten und den rechten Fuss vor das 26er Kettenblatt vorne. Die Nummer 1, dachte ich mir, sollte beim Weg zum Triumph nicht die elende Schwäche und die peinlichen Tricks sehen müssen, mit denen ich hier angelangt war.
Ich schob an dieser Stelle nicht allein, das taten neben mir noch viele andere, und manche andere waren noch viel jünger als ich, und einige habe ich auch überholt. Es ist keine Schande, von der Nummer 1 überholt zu werden, aber wenn man nach den Strapazen dann ins Bett fällt, denkt man sich noch: Hoffentlich bin ich später wenigstens ansatzweise noch so stark. Hoffentlich vegetiere ich nicht mit Schlagerl oder Alzheimer in einer Klinik. Hoffentlich werde ich nicht fett und faul und hoffentlich holt mich der Teufel nicht vor der Zeit durch mein eigenes Versagen. Hoffentlich baue ich nicht ab, hoffentlich werde ich auch mal so ein alter, weisser Mann sein, der nicht den Bequemlichkeiten nachgibt. Alt und weiss sein, das ist Schicksal, daran kann man nichts ändern, aber alles andere: Da kann man selbst etwas tun. Nicht alles. Aber viel. Das sieht man jedes Mal, wenn einen ein Greis auf einem 1-Gang-Rad bergauf überholt. Wer das hier lernt, kann daheim weiter ohne die Geschichten berühmter Männer wieder das Decamerone lesen.
Vor zwei Wochen war es erst nur ein schlimmes Gerücht in der Szene der Rostfreunde, und dann traurige Gewissheit: Der Mann mit der Nummer 1, Luciano Berruti, ist beim Radfahren an einem Herzinfarkt gestorben. Er hat gelebt wie ein Mann, er ist gegangen wie ein Mann. In Italien erschienen Nachrufe, in Deutschland sprach man über Elektromobilität.
Ich nicht. Ich werde, so sieht es aus, nun dem Drang nachgeben, mich ein wenig mehr dem Ideal der alten, harten Männer anzunähern, das man ab einem gewissen Alter eben noch so haben kann. Das heisst, ich werde etwas älter werden, etwas weniger weiss und ein paar mal in den Alpen recht hoch hinaus kommen. Und ich mache es mir auch nicht ganz einfach. Diemal fahre ich mit einem alten Rad. Ein Rad, wie man es gefahren hätte, als ich noch jung war, und ich habe mir zu diesem Zweck auch eine ganz hübsche Route ausgedacht. Es gibt sie ja noch, die Ecken, in denen die Berge aussehen, als wären die 50er und 60er Jahre nie vergangen, und der einzige Anspruch, den ich an die Gegenwart habe, ist zweimal täglich Netzzugang, um über das zu berichten, was ich dort finde. Vielleicht aber falle ich einfach nur müde in ein Bett, also rechnen Sie besser mit gar nichts – ein Vorbild an Beständigkeit bin ich sicher nicht.
Ich habe nur ein Faible für das, was hierzulande ohne jedes Risko diskriminiert und verachtet werden darf, ohne Einschreiten der Gedankenpolizei und des Zensurministers und der Netzwerke, die jetzt schon Inhalte verbieten, bevor sie erst entstehen. Ich habe ein Faible ür alte, weisse Männer, die so weit kommen, wie es ihre Kraft und Ausdauer erlaubt, die sich nicht schonen und das Leben klaglos nehmen, wie es kommt. Männer, die an die Möglichkeiten denken, und weniger an die Risiken, und die die Grenzen genau kennen, weil sie ihre Grenzen von beiden Seiten angeschaut haben. Na, dieser wüste Cocktail aus diversen Körpersäften eben, die die Natur, sexistisch wie sie nun mal ist, dem Manne mitgab, der dafür weniger Wellness braucht, und statt Botox sauerstoffarmen Gegenwind mit 90km/h auf 2000 Meter Höhe.
Es gibt Geschichten um Benachteiligung und Gaps, die nur selten von Männern erzählt werden, weil sie damit nichts anfangen können und die Gaps einfach schliessen würden, so wie ich der Nummer 1 hinterher spurtete und die Lücke schloss, obwohl beinahe meine Lunge platzte. Und es gibt andere Geschichten, die Nagellack nur brauchen, um vom Schweiss gefressene Rostflecken auf dem 30 Jahre alten Stahl zu überdecken. Es wird vermutlich verschwitzt und schmutzig und einseitig, denn jeder kämpft und lebt da draußen für sich allein, selbst wenn es nur fünf Tage sind und nicht 10, und es eigentlich keinen Grund wie die Pest gäbe, die Städte zu verlassen, und das Heil in der Natur zu suchen.
Fahren wie ein Mann, solange es eben noch geht.