Dieser Beitrag erfüllt nicht die Frauendarstellungsquote nach dem Staatsratbeschluss vom 3. Juni 1963.
Wie soll das Kind denn heißen?
Alphonso.
Also Don Alphonso, sagte der Priester und vermerkte vor 300 Jahren unabänderlich Namen und Geburtsdatum im Taufbuch. Damit war man eine Nummer in der Kirche, auf ewig und ohne Ausweg, und Staaten verfahren heute nicht anders, mal abgesehen davon, dass seine niedrigunwohlgeborenen Büttel einen nicht mehr mit “Don” ansprechen. Versichertennummer, Steuernummer, Aktenzeichen, Hausnummer, Identifikationsnummer, und ab jetzt auch IP-Nummer, wenn man etwas weniger Nettes über den Zensurminister Maas und seine Partnerin, die Ex-Stasi-IM Kahane sagt, und es unter das NetzDG fallen könnte: Nummern will der Staat. Nummern sind das Gängelband, an dem der Bürger durch das Leben geführt wird, und wenigstens im Urlaub möchte man davon seine Ruhe haben.
Meine Aversion gegen Nummern – überflüssig zu sagen, dass meine mathematischen Fähigkeiten noch schlechter als meine Neigung zum Decorum gegenüber weniger sozial Bevorzugten sind, ich würde mich dauernd bei der Zahl meiner Leibeigenen verrechnen, ganz schrecklich – bekam allerdings im schönen Gaiole in Chianti einen Dämpfer, weil dort ein alter, weißer Mann an einem Tisch saß, und Armbinden mit individuellen Startnummern beschrieb. Armbinden sind in ihrer historischen Ableitung auch so eine etwas schwierige Sache, aber man fragte mich, ob ich nicht auch so eine Nummer möchte, schließlich gehöre ich gewissermaßen inzwischen zur Familie, und somit machte man mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Ich, Don Alphonso, Startnummer 4275.
Mir liegen Massenveranstaltungen eigentlich nicht. Es macht mir auch überhaupt nichts aus, wenn ich allein auf dem Rad oder zu Fuß unterwegs bin. Mit Beifahrer im Roadster könnte ich auch nicht laut bei der Missa Cellensis mitsingen. Trotzdem bin ich also in Gaiole in Chianti unter 7000 Menschen, die ganz ähnliche Leidenschaften wie ich haben, und lasse mir auch noch eine Nummer an den Arm malen, zusätzlich zu den anderen Nummern, die auf meinem Rücken und am Rad befestigt sind.
Und das letzte Mal, als ich freiwillig eine Nummer bekam, ging es schief: Die SPD, die mir so eine Mitgliedsnummer ausstellte, war mal vor langer Zeit eine liberale Partei des sozialen Ausgleichs. Heute ist diese SPD eine nordwestdeutsche, lustfeindliche Regionalpartei, die für Vorratsdatenspeicherung. Quotenzwang, Netzzensur, Genderzwamg. und den Versuch steht, die Folgen ihres eigenen Versagens in den Regierungen bei der Migrations- und Wohnungspolitik auf die Allgemeinheit und die Vermieter abzuwälzen. Und mit einer, nämlich meiner Mitgliedsnummer, weniger.
Warum also eine Nummer hier, in Gaiole, unter vielen anderen, die ein harmonisch-vorgestriges Bild einer vergangenen Epoche auferstehen lassen? Und warum komme ich nicht einfach so hierher, und fahre die Strecken allein und unabhängig? Weil es anders ist. Ganz anders. Als Journalist war ich auf Parteitagen von Parteien und auf Demonstrationen, auf denen mich Leute mit Megaphonen anstachelten, dumme Reime wie “Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Daten klaut” zu rufen. Ich war bei Veranstaltungen mit Choreographie, die minutiös geplant wurden, damit alles auf einen Höhepunkt zusteuert, der dann mit dem richtigen Applaus bedacht werden muss. Der Delegierte, der empörte Bürger, der für seine Rechte auf die Straße geht: Sie werden zu Teil eines Ganzen, das weit weniger ist als die Summe der einzelnen Teile. Sie werden Deko, Kulisse, Teil eines Kameraschwenks in einem 30-Sekunden- Einspieler einer TV-Station. Da ist so ein Gas-Gerd mit koreanischer Frau im Wahlkampf oder eine Hinwerf-Petry nach der Wahl, egal wie man zu ihren Ansichten steht, wenigstens einmal eine individuelle Abwechslung.
Und so ist das hier in Gaiole auch. Natürlich sitzt jeder auf einem alten Rad, aber alle Räder sind unterschiedlich. Die Marken haben oft längst keine Bedeutung mehr, der Erbauer meines RUFA Sports etwa war ein Herr Rickert und hat längst den Lötkolben abgegeben. Der Hersteller meiner Pedale, in die ich trete, ist vor Jahrzehnten untergegangen, und meinen Sattel zieren kein Markenschilder, sondern nur Dellen und Flecken und Kupfernieten, die von der Radhose blank poliert wurden. Nichts passt an diesem Rad wirklich zusammen, es ist ein bunter Hund – aber es ist mein bunter Hund, und ich bin mittlerweile über viele tausend Höhenmetern, von der Hitze Italiens bis zu den verscheiten Höhen der Südtiroler Pässe mit ihm verwachsen. Mich gibt es hier nur ein einziges Mal.
Und die jungen Amerikanerinnen, die alle das gleiche “Velociraptor”-Trikot, die gleichen karierten Socken und Miniröcke tragen – sie werden schon vom ersten Berg zerblasen zu Einzelkämpferinnen, die jede für sich ihre eigene Geschichte in die weißen Schotterpisten der Toskana schreiben. Das hier ist kein Aufmarschgebiet für Massen. Es sind enge, steile und gefährliche Wege, die den Menschen als Individualisten fordern.
Wir sind hier, wir keuchen laut, wir werden vom Regen eingesaut. Oben Nass und unten Schlamm, wir beissen unsre Zähne zsamm – so könnte man hier rufen, aber nebenan fliegt eine Asiatin singend den Berg hinauf und zeigt, dass jeder mit sich allein ist, mit seinen Stärken und offen zu Tage tretenden Defiziten. Ich beispielsweise hatte diesmal eine Nummer mehr als sonst dabei, aber eine Regenjacke weniger – was ab 25 Kilometer, wie soll ich sagen, einen eklatanten Mangel an Voraussicht offenbarte.
Sehen Sie, es gibt normalerweise immer zwei Arten von Menschen auf dieser Welt, die einen sind oben und die anderen sind unten, aber hier ist jeder mal keuchend oben auf dem Berg, und dann wieder im Tal – die einen behutsam und vorsichtig, weil sie an ihre Knochen denken, und die anderen schnell, weil sie das alles schon kennen und wissen, dass sich das Rad mit hoher Geschwindigkeit auch auf losem Untergrund stabilisiert. Die einen kreischen vor Freude und die anderen lassen ihre Bremsen aus Angst kreischen.
Aus Gründen der Körperstählung war ich übrigens schon am Freitagabend hier oben: Allein beim Sonnenuntergang. Dort wo jetzt Rotkäppchen mit dem candyroten Colnago steht, war nur einsamer Wald.
Und dort, wo eine nackte Steinmauer die Weinberge von Brolio stützt, ist nun ein flinker Herr, der sein möglichstes tut, ein Rad wieder fahrbar zu machen. Denn das Schaltwerk hat den harten Antritt den Berg hinauf nicht überstanden, und so gilt es nun, den Weg mit nur einem Gang zu bewältigen. Ich weiß, wie das ist, ich habe im Frühjahr selbst mein kleines Kettenblatt verloren. Im ersten Moment ist es schrecklich, aber im Abstand von einem halben Jahr – ein Meisterstück der Selbstüberwindung und Stärke.
Hier oben war am Freitag niemand, aber jetzt zieht sich eine bunte Perlenkette hinunter ins Tal. Man sollte denken, man sollte befürchten, dass tausende von Individualisten, manche alt, manche jung, manche lahm, manche blitzschnell und manche beim Versuch, an Rotkäppchen und den amerikanischen Velociraptoren dran zu bleiben – auch so etwas soll es gerüchteweise geben – einander behindern und zu Fall bringen. Aber rücksichtsvoll und dynamisch ist das Chaos, und löst sich zum allgemeinen Wohlbefinden auf.
Allein, ganz ohne Nummer, hat man genug Grund, auf das eigene Keuchen zu hören, und sich dumme Fragen zu stellen wie “schaffe ich das” oder “wie weit ist es noch zum Ristoro”.
Zusammen kann man sich die anderen anschauen, man überholt die einen und wird von anderen überholt, man sieht stramme Wadeln und in Merinowolle gepferchte Bäuche, und Menschen aller Länder und Altersstufen. Sie alle sind irgendwie – schön. Nicht Teil einer Masse, sondern jeder für sich ein Unikat.
Angeblich soll es geregnet haben und heute, vier Tage danach, meine ich mich auch düster erinnern zu können, dass es von oben zwischenzeitlich feucht war, und von unten Dreck nach oben spritzte. Mein Begleiter behauptet auch standhaft, dass ich nicht die 75 Kilometer gefahren bin, sondern aus Bequemlichkeit nur 46 Kilometer gefahren sein soll. Das stimmt natürlich nicht, denn erstens habe ich auf den leicht angeschlagenen Begleiter aufgepasst.
Und zweitens ist es meine Aufgabe als Bildberichterstatter, die schönsten Momente einzufangen, und je mehr Frauen sich unter den Helden tummeln, desto besser ist das nachher für die Auswahl der passenden Photos. Hinter mir war eine junge, pinupartige Dame in Hotpants, und ich habe mir an der Abzweigung zwischen drei Routen gedacht: Folge der Schönheit. Keinesfalls habe ich also geschwächelt oder gar Rücksicht auf meine Gesundheit genommen.
Es war einfach mein individuelles Schicksal, und es hat sich, das kann ich offen sagen, sehr gelohnt. Denn auf dem Weg zum Ristoro der kürzesten Runde trifft man vielleicht nicht die stärksten Muskeln, aber doch die lustigsten Leute.
Sogar ein Vertreter des anderen deutschen Staates, der 1989 meine BRD übernehmen sollte, war mit einem Textima-Hemd anwesend. Der ganze Stolz des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik mitten in der Toskana!
Ob uns der neue Staatsrat mit grüner Staatsfeinstaubsicherheit solche Autoreisen ins Ausland wohl noch erlauben wird? Oder solche Bilder von Frauen, die Männern das Essen reichen?
Immerhin fließt hier der Wein vor der Abfahrt ins Tal noch in Strömen, und beim Essen wird auf hohen Fett- und Zuckergehalt geachtet. Das passt alles so gar nicht in die Anforderungen, die die deutsche Gesellschaft in ihrer Vorstellung von entsagungsreicher Gesundheit pflegt.
Vielleicht aber sehen die Menschen hier vor der Kulisse des Chianti gerade deshalb so, entschuldigen Sie das undeutsche Fremdwort, “zufrieden” aus.
Sie peitschen sich den Berg hoch, keuchen, japsen, geben den Nachzüglern aufmunternde Klapse auf den Hintern, und dann legen sie die Arme umeinander und lächeln sich an.
So ist das hier. Alle haben ein Ziel, aber es gibt unendlich viele Geschichten, mit denen es erreicht wird. Die Nummer prangt nur am Arm, aber im Kopf fährt jeder sein eigenes Rennen. Mit dem Berg muss man sich alleine abkämpfen, aber die Freude hat jeder.
Das Gehirn des Menschen merkt sich das. Wie gesagt, es hat geregnet, es war ein Tag mit schlechtem Wetter zwischen zwei Tagen mit schönstem Sonnenschein, und ich weiß genau, dass ich gefroren habe. Der Mann mit der Nummer 4275 ist nur die kürzeste Runde gefahren.
Aber ich, ich bin im milden Wetter der Toskana Berge hinaus geflogen und in Täler gerast. Ich habe gelacht und gegessen und nicht gebremst, als andere abgestiegen sind, und die Räder vorsichtig den Berg nach unten schoben. Ich habe Oi! Oi! Oi! gerufen, als ich das RUFA durch eine Gruppe aus Lettland eine Rampe hinauf gewuchtet habe.
Und ich habe Bilder vom Begleiter gemacht, wie er mit gefletschten Zähnen die letzte Steigung erklomm, vorbei an anderen, denen hier die Kraft ausgegangen ist. Das bleibt im Gedächtnis. In zwei Wochen werde ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, dass ich wirklich in meinem dünnen Hemdchen unterkühlt war, und das hier nach einer fiebrigen Nacht röchelnd im Bett geschrieben habe.
In der Erinnerung werde ich immer neben meinem Begleiter hinauf zum Ziel nach Gaiole fahren, und rechts und links werden Italiener applaudieren. In meiner Erinnerung werde ich die 4725 vergessen und ganz oben auf den Hügeln im Sonnenschein stehen. Das ist das Angebot, das die L’Eroica einem macht, und es ist so ganz anders als die Abnummerierung, die man sonst so im Leben bekommt, damit man sich einfügt, unterordnet und das tut, was für andere, aber nicht für einen selbst das Beste ist.
Kein Mitleid bitte wegen der Grippe. Ich wollte es genau so und was ich wollte, und viel mehr, habe ich auch bekommen.