Es ist mit der Liebe wie mit den Pflanzen. Wer Liebe ernten will, muss Liebe säen.
Jeremias Gotthelf
Es gibt Kunst. Die hängt im Museum.
Und es gibt Kunst, die man früher zwar für Kunst gehalten hat, und so teuer wie Museumskunst bezahlte, oder auch deutlich teurer – aber über die ist die Kunsthandelsgeschichte hinweg geschritten, weil sie sich am Neuen und Außergewöhnlichen orientiert. So habe ich beispielsweise hier ein Portrait einer Gesellschaftsdame der Klimtzeit aus einer Salzburger Sammlung mit gesicherter Herkunft, das in Duktus, Expression und Farben genau das verkörpert, was man 1910 als Avantgarde begriff – die Wiener Moderne macht sich darin breit und zündet sich in den Rauchfarben eine letzte Vorkriegszigarre an. Es ist die richtige Epoche und die richtige Region, denn die Kunst war damals zwischen dem blauen Land und Wien entlang der Alpen ausgestreckt, und wenn ich nach Italien radle, komme ich nach ein paar Metern an exakt jener Stelle am Oberbuchberger Hof vorbei, an der August Macke seine Tegernseelandschaft malte.
Was ich aber gerade gekauft habe, ist um 1870 entstanden, und wie man aus der Kunstgeschichte weiß: Damals malten die Franzosen Kunst, und die Deutschen eher Kitsch. Denn um 1870 erschlossen die Eisenbahnen langsam die Bergwelt, darin eröffneten die Grand Hotels, man zog zur Sommerfrische auf die Alm, und erwarb alpenländische Mode für eine Art Bergkostümfest. Im Biedermeier beginnt die Neigung der Damen, das Dirndl der Bäuerinnen zu tragen, weil sie in den eng geschnürten Kleidern mit Wespentaille kaum laufen können. Und ihre Gatten kaufen zur Erinnerung Bilder, die die dort meist weniger komfortabel untergebrachten Künstler oft eher im Aquarell denn in Öl festhalten. Denn so ein Ölbild braucht seine Zeit, ein Aquarell kann am Wochenende gemalt und am Montag bereits an due Gattin des Kommerzienrates verkauft werden. Und so entsteht eine Bildgattung, mit der man Kunsthistoriker jagen kann, aber so war das damals eben, es gab zwei Arten von Künstlern auf dieser Welt: Die einen schnitten sich ein Ohr ab und wurden wahnsinnig, die anderen trafen den Geschmack der Kurgäste, knüpften Kontakte und bekamen Lehraufträge für akademisches Malen in Schwabing. Und ich, ich habe schon ein gewisses Faible für diese Anbiederungskunst, weil sie ein Relikt eines guten Lebens ist, das in dieser Form heute bei allem Fortschritt nur noch wenige genießen. Aber eigentlich will ich auf etwas ganz anderes hinaus, nämlich auf den Mann, der schemenhaft unten links im Bild zu sehen ist.
Es ist 1870, es gibt kein mobiles Telefon, es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr, es gibt kein Auto und das Fahrrad hat noch nicht die Berge erobert. Wer in den Bergen an Seen lebt – hier übrigens wahrscheinlich der Schliersee – wandert oder fährt mit dem Kahn. Um von Neuhaus nach Schliersee mit so einem Kahn zu rudern, braucht man schon eine gewisse Kraft und Ausdauer, und weil die Kähne hier so störrisch sind, auch ein großes Geschick. Das ist nicht Venedig mit seinen Gondoliere, die einen durch die Lagune rudern, das sind die Berge, hier ist der Mann noch ein Mann und packt an. Es gibt keinen Zug und keinen Fahrplan, er muss das Boot vom Ufer ins Wasser schieben, und dann die schweren Ruder durch das Wasser ziehen. Das macht man nicht einfach so zur Gaudi. Man macht es, weil es einem wirklich wichtig ist. Sei es, weil man fischen will, sei es, weil am anderen Ufer eine schöne Fischerin wartet. In diesem Fall ist der Mann ein Glückspilz, er ist über den See gerudert und tatsächlich, die Fischerin ist da, herausgeputzt, und erwartet ihn schon.
Wer sie ist? Man sieht hinter ihr in die Küche des Hauses, da sind Teller und Bottiche sauber aufgeräumt. Offensichtlich ist sie nicht nur in ihrem Festtagsgewand eine ordentliche, sorgsame Frau, die gut haushalten kann. Sie ist vielleicht nicht reich wie die Bürgersgattinnen, die auf solchen Portraits gern opulenten Schmuck tragen, aber auch nicht arm. Vermutlich hat sie ihn schon von weitem kommen sehen, denn sie erwartet ihn auf der Terrasse und hat etwas hinter ihrem Rücken versteckt: ein kleines Gebinde aus Blumen und Kräutern, wie es in Bayern im Sommer gern geweiht und dann als Glücksbringer an den Hut gesteckt wird. Man erkennt die Beziehung zwischen den beiden: Er schwenkt seinen Miesbacher Stöpselhut, sie hat etwas für seinen Hut.
Auch sonst ist das Bild erotisch aufgeladen. Wenn man genau hinschaut, hängt neben ihr an der Hauswand ein Kescher, mit dem man Fische fängt, daneben hängt ein Netz, in dem sich so mancher verheddert, und rechts neben der Treppe schlängelt sich junges, heller Grün mit Ranken, herzförmigen Blättern und gierigen, kleinen Greifarmen. Es ist kein Zufall, dass sich die Pflanze da mitten vor die Frau schlängelt. Vor ihr steht ein Topf, und in dem Topf ist ein Stecken, an dem sie eine Blume aufrichtet: Es ist Lychnis chalcedonica, in unromantischen Deutschlandteilen als Scharlachlichtnelke bekannt, aber bei uns in den Alpen heißt sie nur “brennende Liab“. Die junge Frau züchtet da also nicht irgendwas. Es hat alles seine Bedeutung, die roten Blüten wie auch der Stock, an dem sie gedeihen.
Und später rudert er sie vielleicht zum Tanz ans andere Ufer, sie wird dekorativ auf der Bank sitzen, und er wird sich in die Riemen legen. Ich bin übrigens schon selbst mit Frauen auf diesem See gerudert, das ist wirklich sehr romantisch und man macht das besser nicht mit begehrenswerten Frauen weil das endet nämlich äh wo war ich ach so ja also er wird sie rudern und dann gehen sie tanzen. Er wird sich um sie sorgen und sicher über den See bringen, so wie sie sich um ihn gesorgt hat, und ihm ein Gebinde mit Blumen und Kräutern aus ihrem Garten gemacht hat. Der Maler kannte seinen Spitzweg und seinen Conrad Ferdinand Meyer, er wusste, wie man mit Anspielungen arbeitet, und mehr erzählt, als einfach nur ein Treffen am See. Es zeigt zwei Menschen, die sich umeinander bemühen, die Stunden damit zubringen, dem anderen etwas Gutes zu tun, die bereit sind, sich hinzugeben, ohne dass es bereits Sex sein muss. Draussen tobt hier 150 Jahre später ein Wintersturm, aber ich sitze auf dem Sofa, und mir gegenüber ist es Sommer, und zwei Menschen werden sich gleich in die Arme fallen. Das mag nicht Kunst sein, es hat zu wenig abgeschnittene Ohren und entsetzte Schreie, und zu detailgenau ist es auch, aber ich mag das.
Man muss natürlich die darin zum Ausdruck kommende, bürgerliche Moral nicht mögen, das Saubere, die gebremste Offensive, die Ritterlichkeit und die Monogamie, in der sich diese beiden finden werden. Es wird so sein, denn der Weg zu ihr führt entlang eines Geländers mit Herzerln zu einer Brüstung mit dem Kreuz des kirchlichen Segens. Und natürlich werden Fortschrittliche unserer Tage voll Verachtung auf Wilhelmine von Hillern oder Anna Stainer-Knittel herabschauen, die die höchst erfolgreichen Fortschrittlichen jener Tage waren, und deren Umkreis das Bild entstammen dürfte: Zeigt es doch die Frau im alpinen Experimentallabor der Geschlechter als durchaus selbstbestimmt und im Vordergrund, was mehr als nur eine Verkaufsmasche gegenüber dem bürgerlichen Publikum und den weiblichen Begehrlichkeiten gewesen sein dürfte. In einer Zeit, in der im bäuerlichen Umfeld Zwangsheiraten noch völlig normal waren, ist die Übertragung einer sich langsam wandelnden, bürgerlich-emanzipierten Moral auf das Landvolk zu sehen. Dahinter mag sich damals auch viel Falsch und Selbstbetrug verborgen haben, denn es zeigt den guten Anfang, aber nicht die spätere Ernüchterung. Es ist kein Beckmann und kein Grosz, und man muss schon etwas genauer hinschauen, um angesichts der Anspielungen zu erkennen, dass es etwas mehr als nur bergromantischer Kitsch ist. Keine Suffragette muss dafür schirmschwingend durch das Bild aus den Bergen für den Bürgersalon ziehen, und trotzdem erzählt es etwas über die Gleichheit der Geschlechter, und wie Beziehungen funktionieren können, wenn das Wetter schön ist, und die Beteiligten sich umeinander intensiv bemühen.
All die Autorinnen, die momentan gegen romantische Stimmungen anschreiben – ein neues, modisches Brauchtum der Tinder-Wegwisch-Ära – sind dafür natürlich kaum zu gewinnen, zwischen Stress, Zeitmangel, Erfolgsdruck und dauernder Gereiztheit. Die Einzelkämpfergesellschaft sieht die Beziehungssache auch eher pragmatisch und frei von zartromantischer Färbung, aber dafür durchaus unter dem Aspekt der Nützlichkeit und Effizienz. Da geht es nicht mehr um das Aufhalten von Türen oder gar um das Rudern über den See, da wird auch am Hut nichts mehr angesteckt, um Besitzansprüche öffentlich zu machen. Flexibilität ist auch in Dingen der Zuneigung erwünscht, und die dauerhafte Liebe ist wohl das einzige, an das noch weniger als an die Rente geglaubt wird. Ich wäre der Letzte, der bestreiten würde, dass auch dieses moderne Bild stimmig ist, und kitschig ist da überhaupt nichts. Die blanke Realität mit Leistungsdruck und stetig aufs Neue enttäuschten Erwartungen erlaubt gerade noch einen kleinen Balkon aus Beton mit Blick auf die gegenüber liegenden Häuser, und der mögliche Sexualpartner kommt im Minutentakt aus den grauen Massen der öffentlichen Verkehrsmittel. Es mag schon sein, dass die Heidi-artige Phantasie weit weg von der Realität war, aber man durfte damals noch träumen. Ich weiß nicht, was Menschen , die anderen die langfristige Beziehung, das Plätzchenbacken und das Vorlesen auf dem Sofa schlecht reden, von ihrem eigenen Leben erwarten. Andere wollten es genau so, und sie wollen es noch immer.
Und dazu gehört auch die Symbolik, die gerade um diese Zeit mit all ihren Mistelzweigen, Schaukelpferden und Christbaumkugeln kaum weniger anspielungsreich als so ein Alpenaquarell ist. Die Leute erwarten das von ihrem Leben, und wenn sie genug Zeit und eine reich beschnitzte Hütte am See hätten, würden sie es vielleicht auch im Sommer wieder genau so haben wollen. Mit gegenseitigem Bemühen und dem Wissen, dass der andere einen nicht bei der nächsten besseren Gelegenheit über Bord wirft. Ein Leben ohne Emails, hinter denen Monster lauern, und ohne eine Welt, die in all ihrer Komplexität niemals hinter den Bergen verschwinden will. Die Moderne hat uns den Kitsch genommen und kokoschkantig gemacht, sie hat uns die zarten Aquarellfarben ausgetrieben und stellt uns vor die Wahl, ob wir es schreiend bunt oder monochrom kühl wollen. Es gibt kein Zurück, und wer gern etwas bewahren würde, heisst heute Modernisierungsskeptiker und landet schneller in einer Bertelsmannstudie unter den Problemfällen, als er Netzwerkdurchsetzungsgesetz sagen kann. Weihnachten ist so eine Art Retrokarneval, da darf man sich, weil es die Wirtschaft fördert, ein paar Tage kollektiv der Moderne verschliessen und bei allen drei Teilen von Sisi im TV mit 157cm Diagonale aus China weinen.
Echte Reaktionäre mit überkommenen Rollenbildern haben dagegen einen Hammer und betrachten sie Welt wie ein Aquarell, für das sie jederzeit und an allen Orten einen neuen Nagel einschlagen, um zu zeigen, dass es immer auch ganz anders geht.