Hey Baby Baby Baby I glaub Dei Muada woass ned wos ia oanzige Dochda grod machd
Spider Murphy Gang
Er ist am Ende. Er ist am Tisch in sich zusammengefallen, und verbirgt sein Gesicht zwischen seinen Armen. Der Lärm, das laute Reden von Tausenden um ihn herum dringt nicht mehr zu ihm. Aber niemand stirbt hier allein, und deshalb setzt sich nach einer Stunde ein anderer zu ihm: Ebenso jung, ebenso rotgesichtig, die Droge macht sein Blut heiß, und er schaut den Verlorenen eine Weile an. Dann erdröhnt der 1982er Hit “Hallo Klaus” von Nickerbocker & Biene, und der Dazugekommene beginnt, den Fertigen zu schlagen. Er schlägt ihn im Takt mit den flachen Händen ins Gesicht, und um sie herum singen alle:
I wui nua – Schlag von rechts – zruck zu Dir – Schlag von links
I wui nua – Schlag von rechts – zruck zu Dir – Schlag von links
Konnst Du mia – Schlag von rechts – no omoi vazeihn – Schlag von links
I hob vui – Schlag von rechts – vui zu bereihn – Schlag von links
Die Schläge prasseln also auf das rote Gesicht des Fertigen ein, und nach einer Weile macht er auch die Augen einen Spalt weit auf. Er schaut regungslos in das rote, fleischige Gesicht seines Gegenübers, der ihn anlächelt und anspricht, und ihm jedes Mal, wenn er wieder die Augen zu schliessen droht – I wui nua – Schlag von rechts – zuck zu Dir – Schlag von links – wieder ins Gesicht haut. Irgendwann bleiben die Augen offen, und die Hand des Geschlagenen tastet sich am Tisch entlang, bis sie einen Halt findet. Sie findet den Halt im Henkel des riesigen, halbvollen Bierkrugs aus Glas, der noch auf dem Tisch steht. An ihm richtet sich der Geschlagene auf, und lallt den Schläger an, es gehe schon wieder und dann bricht die Hölle los, die Hammondorgel kreischt los und alle anderen singen, was hier jeder kennt: In München steht ein Hofbräuhaus, doch Freudenhäuser müssen raus, damit in dieser schönen Stadt das Laster keine Chance hat…
Der Fertige, der Schläger, die Männer in ihren uniformen Strickjacken und Lederhosen, die grünen Hüte auf dem Kopf und die Mädchen mit den sorgsam geflochtenen Haaren und dem Glühen im Gesicht von der ungewohnten Menge des Josefibocks, sie alle waren nicht dabei, als das Lied 1981 von den Radiosendern in Bayern wegen Obszönität boykottiert wurde. Sie waren noch lang nicht geboren, als wir Skandal im Sperrbezirk auf Kassetten in der Schule tauschten. Bei uns sackte auch niemand bei den Festen in Tracht und mit grünem Hut auf dem Kopf zusammen. Bei uns sang man das in einem Austragshaus im Donaumoos unter niedrigen Decken, gewärmt von einem altem Kohlenofen und beim erfolglosen Versuch, den Korken irgendwie in die Weinflasche zu bugsieren, weil er sich der Entfernung mittels einer Gabel widersetzte. Hätte ein eingeschlafener Erzengel mit seiner rauchenden Zigarette ein Loch ins Raum-Zeit-Kontinuum gebrannt, und mein heutiges Ich würde wieder das Austragshaus betreten, und meinen damaligen Freunden erzählen, dass ihre Kinder dereinst genau das Verbotene singen würden, was wir hier sangen und was in der Schule konfisziert wurde, aber eben in einem Festzelt zum kirchlichen Feiertag des heiligen Josefs und zwar aus tausend Kehlen, mit Musik von einer Trachtenkapelle, damals noch die Heimat stockkonservativster Einstellungen, und alle, wirklich alle in 100% Tracht singen das – das hätte keiner geglaubt. Es ist aber so gekommen.
Wahrscheinlich haben wir – zivilisationstechnisch gesehen – gesiegt und den Laden auch übernommen, ohne das wirklich zu wollen, jedenfalls, sie spielen unser Lied und sie können es nach über 30 Jahren alle auswendig. Nur tragen sie hier nicht das, was wir damals getragen haben, sie singen unsere Lieder und kleiden sich wie unsere Grossväter. Meine Mutter erzählt, dass es Mitte der 60er Jahre in Bayern noch vollkommen normal waren, wenn Lehrerinnen im Unterricht ein Dirndl trugen. Feministinnen erzählen, dass des eine schlimme Zeit war und damals Männer ihren Frauen noch das Arbeiten verbieten können. Tausend Kehlen aus Trachten erzählen mir, die Lungen unter herausgepressten, jungen Brüsten schreien mich an, dass die Rosi ein Telefon hat und sie ihre Nummer haben, und unter 32 16 8 herrsche Konjunktur die ganze Nacht. Der Geschlagene hält sich am Masskrug fest und versucht, seine Umgebung durch die Alkoholschwaden in Blut zu begreifen. Ich halte mich wie damals am Apfelschorle fest und treibe haltlos durch die Nebelschwaden meiner Erinnerung. Damals gab es bei der Jugend kein Gefühl für das Josefifest, das wurde zu unserer Zeit abgeschafft, und erst in den letzten Jahrzehnten wieder erfunden und, wie man sieht, okkupiert. Es ist nicht das Alte. Es ist – erklärungsbedürftig.
Am nächsten Tag stehe ich stocknüchtern in zwei Schlangen. Zuerst einmal in einer Schlange vor dem Neureuther Saal in Gmund, weil um 10.30 Uhr der Trachtenmarkt beginnt. Eine Stunde später stehe ich in einer zweiten Schlange, die sich vom Eingang bis zum Ausgang des Saales und zur Kasse erstreckt. Vor, hinter und neben mir sind viele junge Leute, manche von hier und manche aus München, zwei Drittel Frauen, und sie alle haben gerafft und geplündert und gedrängelt und schamlos zugegriffen, so wie ich auch. Deshalb ist man hier, und wer nicht schnell zugreift, sieht das erhoffte Dirndl an einer anderen Frau. Die besseren Sachen sind ganz schnell weg, die anderen, die später kommen, finden halt kein absolut ungetragenes Schneiderdirndl für 100 Euro mehr, schwarz mit rotem Samtbesatz, wie es die junge Frau vor mir gekauft hat. Die ist zwar nicht von hier, wird darin aber sicher blendend aussehen, und dann nimmt sie noch zwei Hüte, einen für sich und einen für einen Freund. So verbreitet sich das aus den Tälern zwischen den Bergen hinein in die urbanen Räume.
Es gibt in den Medien gewissen Beiträge, die deutlich abweichende, rechte und identitäre Meinungen mit einer Eiterblase vergleichen, an denen der Betrachter im übertragenen Sinne fasziniert und angeekelt herumdrückt. Vermutlich würden solche Autoren Festzelte und Räume, von denen diese seltsame, ethnisch begründete Uniformierung anhand der Geschlechtergrenzen hinaus in die Städte gelangt, auch als Krankheitsherde betrachten. Man geht gegen Seehofer vor, weil der sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, und es mag tatsächlich etwas überheblich sein, das als Angehöriger eines Stammes zu sagen, der selbst das Land vor 1500 Jahren von den Römern übernahm, die auch nicht dachten, dass die Männer aus Böhmen zur Provinz Raetia gehören. Aber der Islam ist nun mal mit der Übernahme zweimal in den letzten Jahrhunderten vor Wien gescheitert, und jetzt ist es hier halt so, wie es ist, und die ein oder andere nüchterne junge Frau, die hier im Saal einkauft, wird nachher vor dem Spiegel überprüfen, dass es möglichst viel Brust aus dem Mieder drückt, und später mit dem schweren Masskrug in der Hand singen: Und wenn dich deine Frau nicht liebt, wie gut dass es die Rosi gibt! Das gehört sicher nicht zur Scharia.
Die Haltung eines Ministers zum Islam, Tellkamps Einstellung zur Migration, bis hin zum verlorenen Häuflein von Pegida in München, gegen das Tausende auf dem Marienplatz ansingen, das sind die leichten Übungen der Kulturdebatten über die Bedeutung der Identität in Deutschland. Da wird etwas greifbar, da stellen sich manche offen hin und bieten sich für den Gegenschlag an, da ist man sich auch weitgehend einer Meinung und erklärt, welche Sichtweise besser, ehrlicher und wünschenswerter wäre: Bestrafe einen, erziehe hundert. Die Grenze des Sagbaren wird von wenigen erweitert, das wird stets aufs Neue beklagt, und viele hätten die Grenze gern enger – wir kennen das noch gut aus dem Radioboykott gegen “Skandal im Sperrbezirk”, da wollte man das öffentlich Sagbare über die Doppelmoral dieser schönen Stadt München auch eng halten. Denn nur weil es Meinungsfreiheit gibt, muss noch lange nicht alles sagbar sein, dachten die Chefs der Sender damals. Darunter brodelte aber schon 1982 das hedonistische Aufbegehren der Jüngeren. Jetzt wird die neue kulturelle Identität meiner Heimat im Sperrbezirk der Medien wieder nicht zur Kenntnis genommen, und man zeichnet das Bild einer weltoffenen Jugend, die Dieselverbote will, Migration wünscht und global denkt. Und draußen vor der grossen Stadt, wo der Diesel entscheidet, ob man dabei ist oder nicht, entsteht etwas, das nüchtern, offen gesagt, bisweilen ziemlich erschreckend ist. Aber hier ist keiner nüchtern. Hier wird gesoffen. Und einen regierungsamtlichen Twitterchannel von no Hatespeech, der erklärt, was sagbar ist und was nicht – den gibt es hier auch nicht. Am Sonntag kommt dann der Söder vorbei, und man wird sehen, was er zum Islam sagt, und wie das hier ankommt.
Ich kenne auch die andere Seite. Ich kenne den Glauben, dass mehr Diversität die Gesellschaft besser machen soll. Das sagen mir Linke genauso wie Freunde der neoliberalen Globalisierung, und am Ende würden wir alle durch die Aufgabe von Kompetenzen und Privilegien von dieser Entwicklung dank einer besseren und reicheren Gesellschaft profitieren. Ich kenne sogar Beispiele, die das bestätigen könnten: Das berühmte bayerische Barock wäre ohne die Einflüsse italienischer Bauleute und Künstler nicht denkbar, und der heutige Spargel aus der Donauebene wird von Polen gestochen, deren Vorfahren schon die Polka in die Volksmusik der Bayern getragen haben. Ich sehe nur in er aktuellen Debatte, die in der eigenen Zivilisation so viel Schlechtes, Falsches und Überkommenes sieht, das alles bis aufs Messer bekämpft werden muss, zur Not auch in Komplizenschaft mit Linksextremisten, einfach kein Angebot an diese Welt hier draußen. Da ist einfach nichts, was hier gefallen könnte, da wird keine Kirchendecke ausgemalt und da wird nicht zusammen musiziert. Die Rolle, die in dieser Theorie bleibt, ist die des Zahlens und des Mundhaltens und des Schämens ob der eigenen Identität, die im schlechtesten Fall eben so aussieht, dass der eine Besoffene vom anderen so lange gewatscht wird, bis er mit glasigem Blick aufwacht und gleich wieder nach dem Bier greift. Aber über uns hängt ein Plakat und darauf steht:
Wer unbedingt den Islam zu Deutschland gehören lassen will, muss sich auch die Frage stellen, was dieses gemeinsame Deutschland eigentlich ist. Und wenn das hier ein Teil Deutschlands ist, muss man diese Sichtweise hier auch, sogar hier, auch wenn es weh tut und schwierig ist, so erklären, dass es akzeptiert wird. Ich fürchte, das wird allenfalls gehen, wenn man erst um Verzeihen bittet, für das, was in den letzten Jahren so alles über Eiter und Dunkelheit und Wahn gesagt wurde, und dazu ist man auf der anderen Seite sicher noch nicht bereit, egal wie oft man sie behutsam und nachsichtig auf die linke und linkslinke Wange schlägt. Momentan läuft es in der öffentlichen Debatte eher so, dass man Migration und Islam drinnen und das hier draußen haben will. Sperrbezirkspolitik. Wir Älteren kennen das noch von Gauweiler.
Aber wir kennen halt auch die Nummer von der Rosi. Und am Korken vorbei sind wir damals auch an den Wein gekommen, weil wir der widerborstigen Flasche irgendwann kurzerhand den Hals abgeschlagen haben.