Tutto sbagliato, tutto da rifare!
Gino Bartali
Ich habe in meinem Leben schon viele dumme Ideen gehabt. Das ist angenehm, denn so manche dumme Idee mündete in gern gelesene Beiträge, und das wiederum in den willkommenen Umstand, dass ich technisch gesehen nicht arbeite, sondern lediglich mehr oder weniger dumme Einfälle in schicklicher Ausformulierung an den Mann und die Frau bringe. Manchmal habe ich aber auch gute Ideen, und eine davon ist dieses Bild vom letzten Freitag am Tegernsee.
Der See ist auf 721 Meter, die Wolkendecke auf 900, und dazwischen ist sehr, sehr viel Schnee. Ich übertreibe nicht, obwohl das nicht selten hier gemacht wurde: Hinten im Kreuther Tal liegen öfters noch 2 Meter Schnee. 2 Meter! Da kann man unmöglich Sport treiben, das sehe ich so, das sehen Sie sicher auch so, denn wenn es anders wäre, wären Sie ja beim Baden oder Radfahren auf dem Bild. Ganz sicher jedoch sehen es die Italiener so, mit denen ich hier bin, und denen ich zur Begründung meines minimalen Übergewichts – ich übertreibe nicht, sehen Sie! – und meines lausigen Trainingszustandes dieses Bild zeige. Da würde auch kein Italiener Rad fahren, ich habe eine Art Schneebonus, ich bin der Tedesco, der aus dem Neve kam, ich verdiene Nachsicht beim Hinterherzockeln und Hochachtung, wenn ich nicht wie ein nasser Sack vom Rad falle. Denn ich habe das Bild und kann es herzeigen. Ich glaube, ich speichere es und zeige es ganzjährig in Italien herum.
Wie auch immer. Es war dann gar nicht so schlimm, und die Strecke von Murlo nach Buonconvento führt nicht nur durch eine der schönsten Regionen der Welt, es ist auch ein idealer Parcours für schnelles Fahren: Es geht lange leicht bergab, Steigungen können rasch niedergetreten werden, die Strade Bianche sind in einem sehr guten Zustand, und ich hatte am Abend davor gut gegessen und lang geschlafen. Ich tat so, als verstünde ich die Bundesgenossen nicht, die vom Mörderrennen Paris-Brest-Paris erzählten, und diese Teilnahme bedeutet, dass sie, wären sie nicht auf einer Sonntagskaffeefahrt mit mir, mich auch stehen lassen würden, wenn sie nur mit 2 Zehen auf einem Kinderrad kurbelten. Aber es war Sonntag. mein Italienisch war schlecht, und weil andere noch langsamer und älter als ich waren, ist mein trauriger Zustand erst gar nicht aufgefallen.
Ich brauchte noch nicht mal den schmutzigen Trick eines 24er Kettenblatts vorne und eines 28er Ritzels hinten, der am ersten Tag für Debatten gesorgt hatte, ob das noch legal für die L’Eroica sei: Manche sagten, dreifach vorne ginge am klassischen Rad überhaupt nicht – das waren die Recken mit den “kleinsten” 42er- Kettenblättern vorne und hinten maximal 24. Auch solche Leute gibt es, und sie fanden es kritikwürdig. Ich konterte, dass laut Regeln jedes Rad mit Originalteilen bis 1987 erlaubt ist, solange es Hakenpedale, Rahmenschalthebel und offen liegende Bremszüge hat – und meine Dreifachkurbel und das Schaltwerk gab es bereits im Herbst 1986. Ausserdem erwähnte ich den Schnee und zeigte das Bild herum, und danach gab es einen Anstieg, da hätte sich manch einer auch meine radtechnische Spitzfindigkeit gewünscht. Es kam also alles gut zusammen. Bis – ironischerweise – Buonconvento.
Denn in Buonconvento gibt es ein radlerfreundliches Cafe namens “Le Dolcezze di Nanni” mit einer Sammlung alter Räder und im Kontrast voll mit zuckerreicher Süßigkeiten. Und während wir da so standen und plauderten, war draußen ein alter, steinalter Mann, der die Räder anschaute, die wir idyllisch davor platziert hatten. Meines, den Eindruck hatte ich fraglos, sah er besonders kritisch an.
Und dann kam er herein. Wie sich herausstellte, war es ein alter Chamption der Gruppo Sportivo Buonconvento, der vor 60 Jahren heldenhaft jene Region unter die Räder nahm, die heute das L’Eroica-Land ist. Ich verkleide mich in einem gelben Trikot mit Kaffeewerbung und trinke in Wirklichkeit nur Tee, wenn ich mich mit einer Dreifachkurbel über Hügel schummle, aber der alte Mann hatte die grosse, alte Zeit noch selbst gestaltet. Da gab es noch keinen Tourenbus, der einen notfalls einsammelte. Da gab es bestenfalls 8 Gänge und Ritzel, so klein wie ein Keks, während meine grössten Ritzel so üppig wie ein riesiges Panforte sind, damit meine Waden, hart wie die durch den Wolf gedrehten Feigen im Panforte, das alles noch treten können .
45 Zähne vorne waren üblich, und damals drückte man sich mit baumstammdicken Oberschenkeln, vor Schmerz schreiend, die Berge hoch. Damals dopte man nicht grünbiologisch mit Eigenblut, damals liess man sich noch echt chemisches Nitroglycerin geben. Wir spielen das hier nur nach. Der alte Mann hat es gelebt.
Und obwohl der alte Mann beim Gehen einen Krückstock braucht, fährt er weiter alles, was geht, mit dem Rad. In diesem hohen Alter. Seine ganze Existenz war eine Beschämung meiner Schwäche, und mein Bild mit dem Schnee wollte er auch nicht sehen. So war das am Sonntag. Man kommt als verhinderter Held aus dem Schnee und fährt als Asche vor dem Altar der grossen Geschichte nach Hause.
Heute bin ich dann zuerst zur Post, um einen Brief mit einem Vertrag zwengs der weiteren Bloggerei abzuschicken. Manche sagen ja, es heult sich leichter in der S-Klasse, ich aber sage, Verträge unterschreiben sich leichter mit Blick auf die südliche Toskana.
Und danach bin ich eine Strecke gefahren, die ich bislang nur von der Hektik der Rennen in schemenhafter Erinnerung hatte: Von Murlo über Radi nach Siena und, so war es geplant, über Buonconvento zurück. Von Murlo nach Siena fährt man ausschließlich auf den weissen und fast autofreien Staubstrassen der Toskana, die Landschaft ist überwältigend schön, das Gras ist schon zartgrün, und die wellige Streckenführung ist gerade die richtige Herausforderung für einen untrainierten Deutschen.
Am Ende taucht dann plötzlich die Skyline des mittelalterliche Siena auf. Ich bin das alles recht langsam gefahren, um dann auf dem Heimweg auf Asphalt Tempo zu machen. Zum Schluss wollte ich noch an der asphaltierten Auffahrt nach Murlo vorbei, denn der Weg hoch ist hässlich. Es kommen 3 Berge nacheinander, und ab Buonconvento gibt es einen Altweibersteig mit ruppigen Feldwegen, der nur einen Berg statt derer drei aufbietet.
Aber auf dem Altweibersteig habe ich in der Hektik überschaltet, die Kette ist hinter die Ritzel gefallen und hat eine Speiche abgerissen. Das Laufrad passte gerade noch so in den Rahmen.
Mit so einem eiernden Laufrad kann man keine Feldwege mehr fahren, sonst reissen noch mehr Speichen. Also fügte ich mich ins Unvermeidliche und fuhr zurück auf die Strasse. Als ich am ersten Berg von den dreien runterschalten wollte, ging das nicht mehr. Ich hatte offensichtlich irgendwo noch ein Schaltungsrädchen verloren.
Zum Glück fand ich nach einer halben Stunde Suchen noch die Schraube, die früher das Rädchen hielt. Nach einigem Herumprobieren stellte sch heraus, dass die Kette auch über die Schraube allein lief – aber nur mit maximaler Spannung bei ungesundem Schräglauf der Kette, wenn ich vorne das 50er Kettenblatt benutzte, und hinten das 24er Ritzel. Jede leichtere Übersetzung führte zu heftigen Fehlschaltungen und unerträglichem Kettenrattern auf der Schraube. 3 Berge, 7 Kilometer, 3 Anstiege mit bis zu 10%. Und 50-24. Immerhin fuhr das Rad noch, und man muss mit dem zufrieden sein, was noch geht. Der alte Mann mit dem Krückstock fuhr ja auch noch. Die Sonne ging unter. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Das marode Rad, die Flachlandübersetzung, drei Anstiege und ein mittelalter, weisser Mann in einem Trikot der späten 70er Jahre. Das ist alles. Mehr gibt es nicht. Man hat sich zu fügen, wie mit dem Krückstock, wenn die Gelenke einen nicht mehr tragen.
Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es, im hohen Alter noch so fit wie der Alte aus Buonconvento zu sein, und dem Schicksal zu sagen: Vielleicht brauche ich beim Gehen eine Krücke, aber solange es geht – put me back in my bike. Diese alten Menschen sind die wahren Helden, sie haben nicht gejammert, als sie die Länder aufbauten und sich mit maroden Rädern jeden Tag zur Arbeit begaben. Sie haben jedes Recht, die kleinen Kettenblätter und die Luxussorgen der Gegenwart – genderistische Sprachvorschriften, Rundumbetreuung für angebliche Minderjährige, die den Pass verloren haben, Feinstaubgrenzwerte – verächtlich anzuschauen. Ich würde gern so ein alter, weisser Mann werden, und es mag nicht schön ausgesehen haben, wie ich mich langsam, die Tritte zählend, mit der Übersetzung seiner Jugend da hinauf nach Murlo getreten habe. So, wie man das früher gemacht hat, weil man nichts anderes hatte. Ein Berg, zwei Berge, drei Berge, und der letzte Berg ist der schlimmste. Man muss die Zähne zusammen beissen und an sich glauben. Jedes Jahr verliert man an Kraft, die Sünden der Jugend rächen sich, es sterben Leute um einen herum und andere fahren im hohen Alter noch, mit der Krücke am Rad, durch Buonconvento. Am letzten Berg wäre ich so gern abgestiegen, aber dann dachte ich an den Alten und wenn der noch fährt, sagte ich mir, dann komme ich da oben auf dem Rad an.
Und wenn es das Letze ist, was ich tue.
Das Letzte vor diesem Beitrag war dann allerdings das Salz, das ich mit ölverschmierten Händen über die Pizza schüttete. A Pfund Dregg brauchd der Mensch im Joah, sagte meine Grossmutter immer, und sie hatte damit natürlich wie immer recht. Die Jungen, die nicht recht haben, sind schon vorher gestorben, und achteten davor wohl kaum die Alten mit dem Krückstock am Rad.