Tinder, gemacht für schnellen Sex und beworben mit großer Romantik, ist meine Generation in App-Form. Leider ist meine Generation so dumm, dass sie die Liebe nicht verdient.
Ein Bekannter von mir hat die Dating-App Tinder durchgespielt. Er lebt in einer Großstadt mit vielen hübschen Studentinnen und er hat sehr viele von ihnen getroffen. Eines Morgens blieb die Anzeige leer. Keine neuen Leute in seiner Umgebung. Ich weiß jetzt nicht so genau, was ich ihm raten soll. Frauen in freier Wildbahn ansprechen? Einfach mal Eine etwas länger treffen? Ah-haha.
Guter Witz.
Das ist, als würde man einem Tiger veganen Lunch vorsetzen: gegen seine Natur. Und immer mehr Menschen meines Alters rutschen genau in diese Natur hinein. Wir verändern uns. Und wir verändern uns gegenseitig.
Ich bin 29 Jahre alt und hatte bis zum Sommer 2011 eine lange, feste Beziehung. Da war ich gerade fertig mit der Universität und guten Mutes, nach einer Zeit der Selbstfindung etwas Neues beginnen zu können. Nur hat das leider überhaupt nicht funktioniert.
Ich traf jemanden, den ich sehr mochte, der aber noch nie eine längere Beziehung hatte und auch mit mir keine wollte. Er war klug und witzig und bald wieder weg. Ich traf einen, der frisch aus einer langen Beziehung kam, gern eine neue wollte und mich komplett in den Wahnsinn trieb mit seiner Anhänglichkeit. Ich datete Jüngere und Ältere, ich datete in den folgenden vier Jahren mehr Männer, als in den zehn Jahren davor. Ich lernte, was ich alles haben könnte.
Das hat wirklich gar nichts besser gemacht.
Diese Geschichte ist total alltäglich; ich kenne viele, die aus langen, schlussendlich langweilig-leidenschaftslosen Beziehungen kamen, sich ausprobieren wollten und dann darauf hängen blieben.
Tinder ist der Charakter meiner Generation in App-Form und besagter Bekannter ist ein sehr extremer Vertreter. Wir sind nicht alle gleich, auch wenn Bücher über diese Generation Y – why? – uns das glauben machen wollen. Wir sind gut ausgebildete kleine Kommunikationsjunkies. Wir müssen improvisieren und haben den Willen, unser Leben gut zu gestalten, sagt Wikipedia. Wir nehmen uns, was wir wollen. Wir sind laut statistischem Bundesamt jeder Vierte in Deutschland.
Wir sind 20 Millionen Egoisten. Wir sind gestresst, wir haben Angst, wir sind frei und ungebunden und lieben unsere Möglichkeiten.
Wir sind ganz schön dämlich. Zwei Millionen von uns brauchen Tinder, um Nähe zu anderen Menschen herzustellen. Das Unternehmen wirbt mit der großen Liebe, „Any swipe can change your life“, und wird genutzt von Menschen, die Liebe gar nicht mehr ertragen.
Ich habe nichts gegen das Internet. Das Internet funktioniert, es ersetzt Schützenvereine, Sportclubs und elterliche Kupplungsaktionen und das ist schön. Ich habe etwas gegen eine Idee von Liebe, die nach Perfektion strebt. Ich habe etwas gegen eine Idee von Sex, die Angst vor der Liebe hat. Ich habe etwas gegen eine Idee von Perfektion, die normale Menschen ausschließt. Und ich bezweifle stark, dass sich die Gesellschaft plötzlich in eine Hand voll liebenswerter Menschen teilt und den Rest, der zu Tinder muss, um Sex zu kriegen.
Freundinnen von mir trafen durch Tinder tolle Männer. Sie gingen elegant Essen, lernten neue Sportarten, hatten fantastischen Sex und nach einigen Wochen spektakulär gebrochene Herzen. Andere langweilten sich an den Rand des Komas bei „Gesprächen im Interview-Stil“, strategischen Verhören mit dem Ziel, das Nerv-Potential des Anderen auszuloten.
Eine Freundin sagt: Männer suchen bei Tinder Sex, Frauen die große Liebe. Alle suchen. Aber nur zur Erinnerung: Wir haben verdammt viel, warum sollten wir suchen? Wir sind wie Kinder in einem Spielzimmer, das so überfüllt ist, dass wir eine neue Modelleisenbahn brauchen, weil wir die alte nicht mehr finden. Ich wäre gern wie ein Kind, das seinen Teddy auch dann noch liebt, wenn sein Fell an Glanz verliert. Wer hat schon sein Kuscheltier ausgetauscht, nachdem Mama es nach drei Monaten mal gewaschen hat?
Besagter Freund, der Tinder durchgespielt hat, sagte neulich über eine Frau, sie habe ihm zu dicke Oberschenkel. Mir sagte mal jemand, ich übe Druck auf ihn aus, weil ich genervt war, als er mich im Schneetreiben warten ließ. Das sind Ausreden. Oft genug liegt die Wahrheit im wunderbaren Buchtitel: „Er steht einfach nicht auf dich“. Oder: Du stehst einfach nicht auf ihn. Oder sie.
Was okay ist. Nur haben wir plötzlich so viel Vergleich, dass wir in jedem Menschen Dinge finden, auf die wir nicht stehen. Und das Internet ist voll von Menschen; es könnte noch einer kommen, der keine Fehler hat. Versprochen: Der steht dann nicht auf uns. Weil wir ewig unzufriedene Menschen sind, die vergessen haben, wie man liebt, weil wir auf das Schlechte im Leben schauen und nicht auf das Gute. Solche Menschen mag niemand.
Verdient unsere Generation die Liebe? Es gibt so viele tolle Paare. Manche trafen sich bei Tinder, immer mehr lernten sich im Internet kennen. Es gibt beim Datenportal Statista Zahlen, nach denen sich 16,4 Prozent aller Hochzeitspaare im Internet trafen. Also knapp jedes sechste. Und das sind nur die, die heiraten.
Sagen wir mal, jeder Dritte ist Single. Singles in Deutschland sind schwer zu zählen, auch wenn es da immer mal wieder Versuche gibt. Aber wie wollen wir auch etwas zählen, das sich permanent verändert? Wie wollen wir „Beziehungen“ zählen, wenn das Wort bei Millionen Menschen Brechreiz auslöst?
Aber ein Drittel kann gut sein, weil etwa jeder dritte Haushalt ein Singlehaushalt ist. Darin leben dann die Menschen in Pendlerbeziehungen, ihnen gegenüber stehen die Wohngemeinschaften; sagen wir also: ein Drittel der Deutschen ist Single. Im Zensus-Atlas können Sie sich das anschauen: Unsere Großstädte sind das Ödland der Einsamkeit.
Oder sind sie die Oasen der Individualisten?
Ich glaube: Großstädte sind die Schmelztöpfe der Vollidioten. Meine Generation ist zu blöd, um sich zu verlieben. Nein, vielleicht wird diese Beziehung nicht halten. Nein, die nächste hat bestimmt straffere Oberschenkel oder stärkere Nerven, wenn sie warten gelassen wird. Wir sehen so viele Möglichkeiten, dass unsere Gehirne sich gar nicht mehr trauen, Liebeshormone auszuschütten. Dabei liegt in der Kooperation in der Regel die glücksoptimale Lösung – beide geben, beide vertrauen darauf, etwas zurück zu bekommen. Vertrauen schafft Wachstum, aber Vertrauen haben wir verlernt. Auf die Generation der Eheverträge folgt nun die Generation der Liebesverweigerer.
Der Ökonom spricht von individuell rationalem Verhalten. Wie könnten wir uns verlieben, wenn wir wissen, dass auch der andere all diese Möglichkeiten sieht? Liebe ist im ökonomischen Sinn ein Gefangenen-Dilemma: Wenn ich mich verliebe, der andere aber nicht, dann habe ich einen Verlust. Wenn sich keiner verliebt, dann hat wenigstens niemand verloren. Wenn sich beide verlieben, dann wären alle glücklicher, aber die Unsicherheit ist zu groß.
Liebe gehört zu den größten und wichtigsten Dingen, die wir mit unseren Leben machen können. Entsprechend tief können wir fallen. Wir müssten doch verrückt sein, uns an jemanden zu binden, der jederzeit gehen könnte. Wir schützen unsere Herzen. Wir sind zu blöd für die Liebe. Wir haben sie nicht verdient.