Wenn es den Kaiser juckt, so müssen sich die Völker kratzen.
Heinrich Heine
Meine Grossmutter kam noch aus der Prinzregentenzeit, und auch, wenn sie eine sehr fortschrittlich gesinnte Frau war, so fehlte ihr doch manches Mal das Verständnis für jene Moderne, die über ihren Enkel in ihr Leben trat. Der Umstand, dass die Glaswand in meiner Münchner Wohnung keine Vorhänge hatte, machte sie jedesmal sakrisch nervös – es könnte doch ein jeder herein schauen. Meine Überzeugung, dass ein Leben ohne Ehe und Kinder eine schöne Sache ist, passte ihr überhaupt nicht – wo sollten wir denn dann hin mit unserem ganzen Sach, fragte sie. Und die Tatsache, dass in meiner Küche zwar Imariporzellan, Stiche mit Gewürzen und gerösteten Heiligen, und alte Messingschöpflöffel hängen, aber kein praktischer Block, um darauf Einkäufe zu notieren – woher ich denn beim Einkaufen wüsste, was ich brauche?
Das mit dem Vorhang habe ich inzwischen eingesehen, das mit der Familie nicht, und das mit dem Einkaufszettel hält jung und sportlich, denn wie oft komme ich nach dem Wochenmarkt daheim an, schwer beladen mit Einkäufen, und bemerke, dass ich über die neuesten Gerüchte zum Sexualverhalten der örtlichen Politikbüttel die Creme Fraiche vergessen habe. Dann schwinge ich mich auf mein Rennrad und rase noch einmal zurück, in der Hoffnung, dass es nicht zu spät ist: Sollten die Vorräte verkauft sein, wäre ich gezwungen, einen Supermarkt aufzusuchen, wo man nichts ausser dem Preis erfährt, und wie laut so ein Balg, von dem ich ansonsten verschont bin, an der Kasse nach DVDs quengeln kann. Im Prinzip hat meine Grossmutter auch bei den Zetteln recht gehabt. Aber nächste Woche kommt ein Stilleben von 1825 für die Küche an, ich habe dann beim besten Willen keinen Platz mehr für einen Block an der Wand.
Ich mache es statt dessen so wie alle anderen. Ich gehe los und kaufe ein, was mir gefällt. Das machen die alten Damen heute auch nicht anders, so richtig müssen sie auch nicht auf das Geld schauen, sonst hätte ich in all den Jahren auch einmal „Oh nein, das ist zu viel“ gehört, wenn sich jemand beim Abschneiden oder Einpacken zum Mehreren hin vertan hat. Dafür werden dann auch gerne Cent abgerundet, oder man bekommt noch etwas geschenkt, oder man kauft woanders einfach etwas weniger. Das reguliert sich schon, man nimmt es, wie es kommt, und nicht, wie man es braucht. Böse Zungen würden sagen, wir kaufen nach Lustprinzip und nicht nach Bedarf, wir kontrollieren nicht unsere Ausgaben, wir halten keine vorher festgelegte Mässigung, statt dessen verschwenden wir. Und das, obwohl wir sonst immer so ehrpusselig tun und auf jene herabschauen, die im Falle eines Sonderangebots Küchenschwämme für die nächsten 10 Jahre horten.
Da ist was dran. Und weil da was dran ist, sind auch die Ausreden für diese Verschwendung ganz famos. 1. sagen wir, dass wir natürlich regionale Produkte bevorzugen, solange es sich nicht um Dinge wie Trüffel, französischen Käse, kretisches Öl, und aktuell zypriotische Frühkartoffeln handelt. Diese regionalen Produkte und ihre Verfügbarkeit auf dem Markt kann man vorher nicht wissen, also orientiert man sich am Angebot und nicht an eine Liste, die beim ersten Auftreten von grünem Spargel in praktischen 3-Kilo-Packungen sofort wieder Makulatur ist. 2. definiert sich der genialische Beherrscher der Küche weniger durch adäquate Planung – das kann nämlich jeder, Rezepte lesen und dann Einkäufe berechnen – sondern durch die Fähigkeit, aus dem, was hereinkommt, etwas Besonderes zu zaubern. Das Leben, den Tisch voller Überraschungen gestalten. Wenn es zu viel ist, Freunde spontan einladen. Und wenn etwas fehlt, wollte man schon lange einmal jenes Restaurant probieren. Es herrscht kein Mangel. Alles ist gut. Niemand braucht eine Liste. Hier ist noch keiner verhungert.
Und wenn wir ganz ehrlich sind: Das macht auch keinen Spass, so einzukaufen. So viele Verlockungen, durch die man schreiten muss, so viele neue Ideen, und dann auch noch die Spezialisten, die genau wissen, dass der sardische Pecorino auch eine Option beim Schmelzen wäre. Das ist eben die Freiheit, das kann man sich leisten, es wäre schade, es nicht zu tun. Über allem schwebt neben dem Teufel der Verschwendung der Engel des guten Gewissens, das Richtige einzukaufen. Sicher, im Supermarkt gibt es die Eier auch aus dem Käfig für die Hälfte. Aber auf dem Markt weiss man, dass die Hühner auf einem Hof im Jura wirklich frei herumlaufen.
Über Artischocken und Radi wird dennoch über die Krise geredet. Die Krise ist allgegenwärtig, schliesslich denkt der Finanzminister ganz offen und ohne Angst vor dem Verfassungsschutz darüber nach, die nervigen Bürger, Verfassungsgerichte und Grundgesetze beiseite zu wischen, und eine europäische Regierung zu installieren, die dann durchregieren kann. Zur Beruhigung der Märkte. Als meine Grossmutter klein war und der grosse Krieg die Reichen verarmte, hiess es auf Gedenkmünzen „Gold gab ich für Eisen“. Uns jedoch druckt niemand auf Blech: „Grundrechte gab ich für Märkte und Vermögen für Banken“, aber vielleicht reicht es ja für ein Brandmal, wie früher schon bei Sklaven üblich. Dafür reden alle darüber, wohin sie ihr Vermögen bringen, sofern sie es nicht hier verprass in die Nachhaltigkeit unserer und der Trüffelbauern Biolandwirtschaft investieren. Man will sich absichern, aber noch nicht einschränken. Prävention ist nötig, Eskalation noch nicht.
Wäre es aber so weit, würde man den Übergang fraglos am Auftauchen der Listen erkennen. Dann wäre es vorbei mit der Leichtigkeit, dann würde man acht geben und genau auf die Preise schauen, und stets mitrechnen, wo man im Geldbeutel angelangt ist. Das haben hier die meisten noch so gelernt, das ist als Grundwissen vorhanden, nur mag man sich damit nicht herumschlagen, denn die Zeiten waren nicht so gut wie heute. Wäre es aber nötig, würden die Blöcke wieder auftauchen, und das Nachdenken fände vor dem leeren Kühlschrank statt. Und drehte sich folglich nicht darum, wie man den fast vollen Kühlschrank nach dem Einkaufen weiter füllt, oder ob man das Kind nicht besuchen und etwas mitbringen sollte, oder es nicht doch Zeit für den Zweitkühlschrank wäre. Oder eine neue Küche mit einem Kühlschrank, der vom Boden bis zur Decke den Namen verdient. All diese typischen Gedanken der besseren Gattinnen, sie würden nicht mehr stattfinden. Statt dessen würden sie wieder Bleistifte spitzen. Vielleicht die Liste auswendig lernen, damit es nicht so knausrig wirkt. Was Menschen in Zwangslagen eben so tun, wenn sie es öffentlich nicht zeigen wollen.
Aber bis dorthin scheint es noch weit zu sein. Es kann passieren, der Griff in die Rentenkassen ist in Krisenzeiten stets sicher gewesen, und wenn es so weit ist, ist dennoch immer noch viel Platz nach unten, in dem sich andere tummeln werden. Listen mögen dann unverzichtbar sein, aber immerhin kann man noch überlegen, was man erwerben möchte. Andere werden diese Freiheit dann nicht mehr haben, sofern das im neuen Europa überhaupt noch eine Bedeutung hat; Freiheit beruhigt keine Märkte, Freiheit füllt keine Supermarktregale, und sie entwickelt auch keine neuen Unterhaltungsformate im Rundfunk. Das wird man sehen, wenn wir Listen schreiben. Man achte also auf das, was Vermögende auf den Wochenmärkten treiben, und wie sie einkaufen: Das sagt alles über ihr Empfinden aus. Aber im Moment ist alles so wie immer. Nur die Immobilienpreise werfen Blasen, aber das ist nicht so entsetzlich schlimm, wenn man dergleichen besitzt. Und von dem Fleur de Marquis, da nehmen wir auch noch ein Stückerl. Da gehen wir also auch ohne Kinder mit unserem Sach hin.
Bevor es uns ein anderer nehmen kann.