They sentenced me to 20 years of boredom for trying to change the system from within
Leonard Cohen, First we take Manhatten
Ich fahre langsam. Es ist ohnehin zu spät, denn die Bayerische Oberland Bahn BOB ist schon auf dem Weg nach München, und diejenige, die sie noch erreichen wollte, ist eine viel zu angenehme Beifahrerin, als dass man schnell irgendwo ankommen und sie abliefern will. Ganz langsam sind wir am Achensee vorbei nach Tirol gefahren, lange sassen wir in der Geisterburg und haben selbstgemachte Limonade getrunken, lange standen wir in der Totenkapelle in Hall, und ich habe die Ikonographie der Metzen und Sünderinnen im späten Mittelalter erklärt, deren Brüste üppig und deren Kleider bunt sind.
Wenn die kommende Verdammnis schon ewig währt, warum sollte man sich im Diesseits abhetzen, denke ich mir und rolle ganz langsam den Gasteig hinauf, wo das Tegernseer Tal in die sonnenverwöhnte Hochebene der Oberlandes übergeht, und die geschäftstüchtigen Menschen mit Angeboten locken. Die Fremdenzimmer sind belegt, kündet ein Schild, es gibt Entenbraten, und das italienische Einrichtungsgeschäft hat schöne Kinderkissen. Beim Eisenwarenladen denke ich daran, dass ich eine neue Giesskanne für meinen Steingarten beschaffen muss, aus Metall mit Messingaufsatz. Vorne rechts würde dann der Goldschmied kommen, der die schönen Trauringe macht, und links das Stoffgeschäft, bei dem ich noch Vorhänge für mein Schlafzimmer nähen lassen möchte. Man bekommt hier alles, was man als normaler Mensch braucht, und wenn die Beifahrerin nun eine Mutter wäre, die gerade erst Kinder bekommen hat, würde ich sie vielleicht auf die Villa links auf dem Hügel hinweisen, in der unser Kindergarten ist.
Aber die Begleiterin ist keine Mutter von Kleinkindern, und sie sieht in diesem Moment auch nicht all die Schönheit und den Überfluss des normalen Lebens, sondern ein Schild der bayerischen Staatspartei. Dort wird das Thema Einbruchssicherheit angekündigt, über das die Partei mit ihren Untertanen reden will. Pfffh, macht die Beifahrerin, sieht dabei klug und reizend aus, und sie hat nicht unrecht: Verglichen mit anderen Regionen des Landes passiert hier wirklich wenig. Trotzdem ist das ein Thema, und wir haben deshalb im Haus letzthin ein neues Türschloss bekommen: Nach acht Uhr Abends wird abgesperrt. Auch meine Silberkannen auf der Terrasse wurden schon moniert: Da könnte jemand beim Betrachten auf die Idee kommen, hier – in der wohlhabensten Region des ganzen Landes – würden vielleicht sogar nicht ganz arme Leute leben, und dann einbrechen. „Pfffh“ sagt hier niemand mehr. Die Angst geht um im Tal und auch in der kleinen, dummen Stadt an der Donau und überall, wo die Leute eigentlich nur in Ruhe smaragdgrünes Wasser und gute Einkommen geniessen wollen.
„Wenn das alles ist, womit ihr hier Probleme habt…“, wird mir dann von normalen Stadtbewohnern oft gesagt, und „das sind doch nur Luxussorgen.“ Ein wenig sind solche Einwürfe die jugendliche Abwandlung der Beschwerden der Altvorderen, man habe keinen Krieg miterlebt und wüsste gar nicht, was wirklich schlechte Zeiten bedeuteten. Das ist natürlich alles zutreffend, ändert aber nichts daran, dass man wirklich keine Einbrecher in der Wohnung haben will, und froh ist, dass jemand die Sorgen ernst nimmt. Und ähnlich ist das auch mit dem heute vom Verfassungsgericht gekippten Betreuungsgeld: Natürlich sagen mir Alleinerziehende in den Städten, dass das für sie keine Option ist, sondern angesichts ihrer realen Probleme eher eine Beleidigung. Und wenn sie feministisch sind, schieben sie oft noch das Schimpfwort „Herdprämie“ nach, das natürlich nicht sexistisch ist, weil es von der richtigen Seite kommt und dem Fortschritte der Civilisation dient. Und dass die CSU damit ein ganz bestimmtes Familien- und Rollenbild zementieren will: Das des allein verdienenden Mannes und der Frau, die durch die Familie in Abhängigkeit gehalten wird, und nicht ausbrechen kann.
Auch da haben sie nicht unrecht. Es ist halt nur so: Hier bei uns gibt es viele junge Familien. Über Förderprogramme, die sich wirklich sehen lassen können, über Kauf oder Erbschaften kommen sie an Immobilien. Dann unterschätzen sie vielleicht noch etwas die Anforderungen, die die Kombination von Kind und Berufsleben so mit sich bringen. Und obendrein bietet der Arbeitgeber eines Partners an, dass er auch in Teilzeit von daheim aus arbeiten kann. Für solche Familien ist das Betreuungsgeld durchaus von Vorteil, weil bei so einer Konstruktion die Probleme der Koordination von KiTa, beruflichem Pendeln und nötiger Flexibilität wegfallen. Für einen roadsterfahrenden, kinderlosen Single wie mich ist es egal, ob es hier im Oberland einen Schneesturm gibt, bei dem man das Haus nicht verlassen kann, oder ob die oben erwähnte BOB zwei Wochen wegen umgefallener Bäume langsame Busse einsetzt. Für Eltern, die in München arbeiten und deren KiTa pünktlich schliesst, ist das übel. Bei uns sind die KiTas zwar auch auf solche Fälle eingestellt, aber Kinder bringen Eltern oft dazu, den von Linken ansonsten als kapitalistische Ausbeutung verdammten Beruf nicht mehr in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen.
Das kleine Problem nun ist, dass sozial bewegte und zu diesem Thema schreibende Journalist_Innen eher selten zu dieser Gruppe heimatverbundener, traditionell lebender und dann auch noch Immobilien besitzender Umlandbewohner in Bayern gehören. Wen immer ich aus dieser Gruppe kenne, der hat im Gegenteil beruflich keine Sorgen, aber ein gutes Einkommen und mehr Interesse am nächsten Konzert von La Brass Banda denn am neuen Buch vom Unterschichtenidol Laurie Penny. Ja, ich darf Twitter sogar entnehmen, dass besonders derbe Äusserungen gegen das Betreuungsgeld von eben jenen kommen, die gar keine Kinder haben, um sie in die KiTa zu bringen und dort zu entdecken, dass der bundesweite Ausbau zu einem massiven Qualitäts- und Personalproblem geführt hat. Oder dass viele KiTas wiederum kirchliche Träger haben und die schon den Kleinsten die Geschichte vom Weihnachtsmann und dem lieben Herrn Jesus Christus erzählen. Auch wissen sie wenig von den dort verteilten Bakterien oder den generellen Problemen der Grossküchen.
Kurz, die Debatte um die KiTa als angebliches Allheilmittel der frühen Nachwuchssorgen wird durch den ideologisch bedingten Kampf um das Betreuungsgeld verhindert. Es darf einfach nicht sein, dass die Ostblock-Idee KiTa nicht jedem besser gefällt als das, was die CSU als mögliche, zwangsfreie Alternative durchgesetzt hat. Beide Eltern haben dem System des Kapitalismus umfassend zur Verfügung zu stehen, damit die Frauen auch wirklich gleichberechtigt sind. Und wenn das Kind in der KiTa ist und die Eltern Vollzeit arbeiten, gibt es auch keinen Grund mehr für Geranien am Fenster: Es ist eh keiner daheim. Da braucht auch keiner einen grossen Garten. Blocks für alle tun es auch, wenn man daheim ohnehin nur schläft. Wer dennoch nur die Kinder in den Mittelpunkt des Lebens stellt und sich der KiTa und ihrer Ideologie verweigert, soll den Aufwand haben, und bekommt nichts. Das betrifft übrigens nicht nur die Millionäre am See, sondern leider, leider auch eine meiner sozial nicht privilegierten Bäckereiverkäuferinnen an der Mangfall, die mit Beruf, Kind, Oma und Betreuungsgeld bislang ganz gut durchkam. Und durchkommen wird, wenn die CSU hier ihre Ankündigung wahr macht und das Projekt auf eigene Rechnung durchzieht.
Pfffh, höre ich da viele in den Städten sagen, wo die Grossmutter hunderte Kilometer entfernt und die KiTa gegenüber ist, und wo Mütter froh sind, wenn sie nach drei Monaten wieder eine Figur haben, mit der sie auf der Sonnenstrasse flanieren können, und sich alle anderen Optionen offen halten. Die wählen dann die Grünen, weil die als einzige konsequent legal Drogen abgeben wollen, in einer ansonsten ganz anders eingestellten Republik, die ständig die anderen, die Falschen, die Reaktionären wählt: Die Politiker, die Betreuungsgeld zahlen, trotzdem eine Villa für die Kinder reservieren, auf Gemeindegrund Familienförderung betreiben und angesichts von steigenden Einbruchszahlen Tafeln an die Strassen stellen. Es ist wirklich unglaublich, unfassbar, unerklärlich, warum diese Leute hier nicht begreifen, was gut für sie, den sozialen Wohnungsbaublock, Kreuzberg, moderne Rollenbilder und Laurie Penny ist. Statt dessen schulen sie hier alle Kinder in Dirndl und Lederhosen ein, gehen geschlossen wählen und lassen sich vom Betreuungsgeld bestechen.
Ja, sogar das Eis hier ist noch nicht mal vegan, lactosefrei und zuckerreduziert – und solche verantwortungslosen Leute werden das Land mit ihrer Entscheidung noch auf Jahrzehnte unter der schwarzen Knute halten. Pfffh, sagen sie, haben aus ihrer Sichtweise recht und feiern dann die lichten Momente, in denen sie vor dem Verfassungsgericht gewinnen, bevor sie wieder von der Finsternis umfangen werden, die sie niemals begreifen können oder wollen.