Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Der Alltag: Lauter schwarze Kästen

welche im Verborgenen unser Leben mittels wundersamer Formeln bestimmen und, wie zu zeigen sein wird, sich nicht nur dem Verständnis sondern allzuoft auch der Sichtbarkeit entziehen, obgleich sie uns unentbehrlich geworden sind.

welche im Verborgenen unser Leben mittels wundersamer Formeln
bestimmen und, wie zu zeigen sein wird, sich nicht nur dem
Verständnis sondern allzuoft auch der Sichtbarkeit entziehen,
obgleich sie uns unentbehrlich geworden sind.

Der Friseur meines Vertrauens ist nicht nur in seinem Fach so begabt, daß er sich nach jedem Termin auf Monate hin entbehrlich macht, nein, er ist auch ein unterhaltsamer Gesprächspartner. Und kennt sich – man sollte es kaum glauben – gut mit Technik aus. Er mag Aufsitzrasenmäher, Laubblasmaschinen, kleine Spielzeughubschrauber, Autos mit Fernbedienung, und natürlich auch Autos ohne Fernbedienung. Als er mir erklärte, ein moderner Oberklassewagen von heute habe ähnlich viel komplexe Elektronik an Bord wie ein Airbus von 1980, konnte ich es kaum glauben, aber sein Mund kann als berufene Quelle gelten.

Das Internet weiß vieles, aber manchmal findet man es nicht und so muß diese steile These unbewiesen bleiben, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto glaubwürdiger scheint sie mir. Für meine Eltern war die ADAC-Mitgliedschaft noch beinahe eine Mobilitätsgarantie: hatte man eine Panne rief man die gelben Engel, die kamen angeflogen mit gelben Autos, packten ihre Gerätschaften aus und behoben das Problem. Heute kommen sie, habe ich mir sagen lassen, meistens gleich mit dem Abschleppwagen, denn reparieren kann man an modernen Autos ohne Computer kaum noch etwas. Zuviel Elektronik. Fenster werden elektrisch gehoben statt gekurbelt. Lenkungen laufen über Servo, Motoren haben Stopp-Start-Knöpfe und so wird der Maschinenraum zur Black Box, in der nur noch wenige Experten begreifen, was passiert.

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Die veränderten Möglichkeiten, die Technik, Computer und Internet uns eröffnen sind in diesem Fall für jedermann sichtbar, wollte man nur hinschauen. Wir machen Fotos mit Telefonen, verschicken diese in Echtzeit oder machen sie gleich allen im Internet zugänglich, ich telefoniere mit dem Freund in Manila genauso unbeschwert wie mit der Sandkastenfreundin um die Ecke, dank VoiP, man recherchiert kaum noch in Bibliotheken, sondern nur noch in Onlinekatalogen oder gleich bei Wikipedia und wo meine Mutter noch 20 Fotos vom Sommerurlaub liebevoll ins Fotoalbum einklebte, verrotten bei mir 2.000 auf diversen Festplatten und CD-Roms. Das ist alles nichts Neues, vielmehr ist es ein solcher Allgemeinplatz, daß es kaum der Rede wert scheint.

Ebensowenig der Rede wert, aber aus ganz anderen Gründen, sind die im Gleichschritt gewachsenen Möglichkeiten von Mathematik, Modellrechnung und Simulation – dies allerdings eine Veränderung quasi unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Denn Mathematik ist den meisten von uns ein Rätsel. Wir lernen das kleine und auch das große Einmaleins, aber spätestens mit Einzug des Taschenrechners in der Mittelstufe vergessen wir alles wieder – wer braucht schon Kopfrechnen jenseits der 10? Differentialrechnung, Geometrie, vielleicht auch Vektoren – schlimme Zeiten in der gymnasialen Oberstufe, die man mehr schlecht als recht durchzustehen hat und danach: irgendwas studieren, möglichst ohne Mathe. Geisteswissenschaften eignen sich hervorragend dafür, bei BWL, Psychologie oder Soziologie erwartet manchen ein unangenehmes Erwachen, wenn man sich plötzlich gezwungen sieht, Statistik I-III als Pflichtfach zu belegen. Mit etwas Geschick allerdings kann mit minimalem Verständnis und maximaler Auswendiglernerei die Pflichtklausuren bestehen und dann im Haupstudium alles Zahlenlastige weiträumig umgehen – und ich spreche da aus Erfahrung.

Die Kenntnis mathematischer Grundsätze oder der klassischen, über Jahrhunderte preiswürdig gewordenen Probleme gilt unserer Gesellschaft nicht viel. Schon beim Anblick von Zahlenkolonnen gruselt es viele, mehr noch wenn aus Zahlen Buchstaben werden. Formelzeugs. αβγ – griechische Feinde, und dann die vielen Operanden und Relationszeichen. Alles pfui. Nur für Nerds und Streberleichen. Mathematische Operationen, die über die Möglichkeiten eines ordinären Werbegeschenk-Taschenrechners hinausgehen, gelten als höhere Mathematik und bedürfen keiner weiteren Aufmerksamkeit. Nun hat niemand mehr Verständnis dafür als ich, Mathematik weiträumig meiden zu wollen – nennen Sie es meine Spezialdisziplin, verfeinert durch viele Jahre Studium hindurch, bis der Teufel mich am Ende doch eingeholt hat -, aber bei allem Verständnis: wir machen damit weite Teile unseres Lebens zu einer Black Box. So, wie der Maschinenraum eines Autos für den gemeinen Pannenhelfer undurchschaubar geworden und seinen Zugriffsmöglichkeiten entzogen worden ist, sind auch unendlich viele Entwicklungen und Mechanismen heute in einem Umfang durch Mathematik und Modelle und Rechnerkapazitäten bestimmt, daß sie sich unserem Verständnis fast völlig entziehen. Maschinenräume des Alltags, in die wir kaum noch eingreifen können, weil die Eigendynamik sie vorwärts treibt, weil sie sich an der Peripherie unseres Blickfelds befinden, unter Motorhauben verborgen, aber dennoch von erheblichem Einfluß auf unseren Alltag.

pc

Im Zusammenhang mit dem täglichen Wetterbericht interessieren uns meteorologische Modelle und deren Qualität kaum. Meist treffen die Vorhersagen in etwa ein, und ob es am Ende regnet oder nicht – wen kümmert das schon. Als jedoch der isländische Ascheregen Europas Flugverkehr zum Erliegen brachte, wurde das Modell interessant. Woher weiß man eigentlich, daß…? Und wie funktioniert das eigentlich? Können die sich sicher sein…? Sollte man nicht…? Völlig unerwartet rückte plötzlich die Methode ins Bewußtsein, verschiedene Parteien hinterfragten die Simulationen und Schätzungen und Experten meldeten sich zu Wort, das Unerklärliche zu erklären. Und man konnte sich fragen: wenn in diesem Fall das eine Modell der Flugaufsichtsbehörde über Wochen das Schicksal aller großen europäischen Fluggesellschaften ebenso wie vieler Millionen Menschen beeinflussen konnte, wo sonst noch wird unser Leben durch Algorithmen, Simulationen und Mathematik in ihren komplizierteren Formen geprägt, ohne daß wir jemals darüber nachdenken? Kreditscoring und Versicherungsprämien, Klimamodelle und Treibhauseffekt, wirtschaftspolitische Prognosen und Bank-Bail-Outs, Suchmaschinen und die deutsche Bahn – ohne Mathematik wäre alles anders.

Nicht der Wetterforsch entscheidet, wie das Wetter wird, ebensowenig wie der Bankangestellte über den Kredit entscheidet: das tun die Modelle. Natürlich gehen in eine Kreditbeurteilung die verfügbaren Informationen über frühere Kredite und das Verhalten als Schuldner ein, aber Banken und Agenturen hüten die Details ihrer Modelle mit äußerster Sorgfalt, und selbst wenn der Mechanismus wirklich bekannt wäre: wir würde ihn nicht verstehen. Ob mittels logistischer Regression oder über Ratingpunkte und Ausfallwahrscheinlichkeiten: wir wären dennoch nicht schlauer, denn vor das Verständnis hat die Entwicklung der Moderne die Mathematik gesetzt.

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Unser Gegenüber im Fernsehen oder am Bankschalter ist nur noch Erfüllungsgehilfe und könnte in vielen Fällen vermutlich selbst kaum erklären, wie ein bestimmtes Ergebnis errechnet wurde. Nun liegt es im Wesen der arbeitsteiligen Gesellschaft, auf das Fachwissen von Experten zu vertrauen, das tun wir auch bei Ärzten und bei Automechanikern. Andererseits schadet es aber nicht, gelegentlich darüber nachzudenken, wieviele Prozesse wir ausgelagert, an Maschinen übergeben haben, und uns blind auf das verlassen, was der Computer als Ergebnis ausspuckt. Denn alle diese Ergebnisse bedürfen der Interpretation – und das erfordert Verständnis. Ohne Verständnis können wir zur Not auch noch zurechtkommen, Fehlverständnis hingegen kann eine Katastrophe sein. Wir haben Journalisten, die Korrelation und Kausalität nicht auseinanderhalten können, wissenschaftliche Referenten verkürzen Memoranden nach Gutdünken und am Ende ziehen Politiker Schlußfolgerungen und leiten daraus Handlungsempfehlungen und politische Strategien ab – alles gänzlich unbefleckt von jeder Sachkenntnis, wie das Ergebnis in der Black Box eigentlich zustande kam.

Natürlich können wir uns nicht alle in der knappen Freizeit zum Statistiker und Mathematiker weiterbilden, wenn ich beim Friseur sitze, möchte ich keine Fachbücher lesen, sondern die Frauenzeitschrift meiner Wahl und mein Pannenhelfer muß auch kein promovierter Computertechniker werden – aber ein bißchen kritische Grundhaltung, Neugier auf die versteckten Motoren unseres Alltags und ein bißchen mehr Verständnis für das, was unser Leben so wesentlich beeinflußt, das wäre doch schön. Damit wir wenigstens wissen, was wir eigentlich aus der Hand geben.