Nothwendig erheischt es,
vorjetzo den hochverehrten Leser dahingehend zu persuadiren,
das Netz zu betrachten in einem milderen Licht.
Denn der Verrohung der Adoleszenz zu bezichtigen ist es nicht.
Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wuchs eine Generation mit so vielen Western heran wie die Jugend der Siebzigerjahre. In beinahe jedem Haushalt stand ein Fernseher, der am späten Nachmittag „Western von Gestern“ zeigte, dann „Zorro“ und am Abend irgendetwas mit John Wayne oder Pierre Briece. Spielzeugläden wandelten sich zu Cowboybedarfseinrichtungen, kleine Jungs steckten die 36 Silberplättchen aus Plastik in ihre Original-Silberbüchse oder deklarierten einen mittelgroßen Ast zum Bärentöter um, lasen bis zur Geisterstunde Karl May und schlichen sich mit bedeckten Augen (denn im Mondenschein reflektiert das Weiß des Augapfels das Licht!) lautlos an feindliche Lager an. Und doch hat diese Generation fast überhaupt keine Kuhhüter hervorgebracht. (Es kam übrigens auch nicht zu Kung-Fu-Straßenschlachten, obwohl für die etwas größeren Kinder doch Kung Fu DAS große Ding war: Filme mit Bruce Lee, die Kung-Fu-Fernsehserie namens „Kung Fu“ und im Radio und an der Spitze der Hitparade Carl Douglas mit „Kung Fu Fighting“, in dem voreilig festgestellt wird, jeder habe Kung Fu gekämpft. Aber alle haben bloß getanzt. Dümdedeldümdödümdödüm.)
Man hätte daraus lernen können. Es wäre möglich gewesen zu dem Schluss zu kommen: „Medien mögen unsere Kinder beeinflussen, aber vielleicht nicht in der Weise, die wir befürchten.“ Aber Lernen ist doof, Gelassenheit ist anrüchig. Also fürchten wir uns nun vor dem Internet wie meine Eltern fürchteten, ich würde einen Krieg vom Zaune brechen, bloß weil ich es mir angewöhnt hatte, mich um zwölf Uhr mittags mit dem Nachbarsjungen zu duellieren.
Nachdem Schüler aus Osnabrück in einem Ferienlager auf Ameland andere Kinder auf grauenhafte Weise sexuell misshandelt hatten, war die erste Reaktion: Das haben die aus dem Internet. Und es sind nicht ausschließlich Idioten und CSU-Ministerinnen, die so etwas sagen. Kurz nach den Ereignissen auf der Ferieninsel unterhielt ich mich mit einer Kunstprofessorin über diesen Exzess und auch sie war der Ansicht, die Macht der Bilder werde unterschätzt. Aus ihr sprach kein Kulturpessimismus, es war bloß eine intuitive Überzeugung. Als ich ihr widersprach, stampfte sie mit dem rechten Fuß auf, was bei einer älteren Dame ganz entzückend aussieht und durchaus als Argument durchgehen kann.
Aber wie um alles in der Welt ist Robert Musil auf den Plot seines Romans „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ gekommen? Dort wird der junge Basini von dreien seiner Mitschüler sexuell misshandelt. Robert Musil wird vermutlich 1906 noch keinen Internetzugang gehabt haben, die jesuitischen Mönche, die über Jahrzehnte ihnen anvertraute Kinder vergewaltigt haben, haben niemals 4chan gesehen. Das Geschehen geht seiner Abbildung voraus.
Natürlich ist es nicht gleichgültig, was Medien zeigen. Machen wir einen Abstecher zu den Haaren der amerikanischen Präsidentengattin, um den Einfluss der Bilder zu belegen.
Michelle Obama hat glattes Haar, Beyoncé hat glattes Haar, Oprah Winfrey hat glattes Haar. Gutes, entspanntes Haar. Es gibt für kleine amerikanische Mädchen mit afrikanischem Erbe wohin sie auch schauen kein Vorbild, deren Haar so aussieht wie ihres im Naturzustand. Also bändigen sie es und wenn die Eltern es gar nicht mehr erwarten können, dann bändigen sie es an Stelle der Mädchen, manchmal schon, wenn die Kleinen erst zwei Jahre alt sind. Der Dokumentarfilm “Good Hair” des Comedians Chris Rock zeigt die Auswüchse dieser Haarproblematik: Schwarze Familien, die sich verschulden für Extensions, Echthaarperücken, Weichmacher, Glattmacher, Bleichmittel und anderes Folterwerkzeug, kleine Mädchen, die Brandblasen auf ihrer Kopfhaut haben. Die Industrie, die von dieser Sehnsucht, weiß zu sein, lebt, macht Milliardenumsätze und ist keine Erfindung der Gegenwart. Sie wächst und gedeiht seit Jahrzenten. Einzig der Afro war ein kurzes Aufbäumen schwarzen Selbstbewusstseins, er war zeitweilig so populär, dass er sogar in Afrika getragen wurde.
Wenn gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Medien ein so umfassendes Bild präsentieren, dass eine andere Wirklichkeit nicht mehr denkbar ist, dann beeinflusst dieses Zusammenspiel das Selbstbild und die Handlungen des Einzelnen.
Nehmen wir diesen Satz einmal als gegeben an und fragen uns nun, ob Bilder von analen Vergewaltigungen, die jemand im Internet sieht, auf dieselbe Art unser Bewusstsein formen.
Das oben erwähnte 4chan, ein so genanntes Imageboard, gehört zu den tausend meistbesuchten Seiten im Internet. Die Nutzer können anonym posten und ob der schieren Menge der Veröffentlichungen ist eine Moderation der Beiträge kaum möglich.So kommt es, dass auf 4chan regelmäßig Bilder erscheinen, die allein zu schildern dem Autor bereits einen Besuch des Landeskriminalamtes Berlin, Abteilung Gewaltdarstellung, bescheren würde. Vermutlich stammen diese Bilder aus Polizeiakten und der unter Menschen aufgewachsene durchschnittliche Mitteleuropäer kann sie nur unter Aufsicht seines Arztes betrachten. Oder aber er blendet aus, dass den Bildern etwas Echtes zugrunde liegt, ein Verbrechen oder ein Unfall.
Unsere Großeltern und wahrscheinlich jede Generation vor ihnen haben Grauen dieser Art auch gesehen. Bloß lag neben ihnen dabei keine Tüte Chips. Es gibt mit Sicherheit eine ganze Reihe von Theorien, die ich alle nicht kenne, zu der Frage, ob wir in einer keimfreien Welt, in der das Grauen in die Altenheime, Krebsstationen oder nach Afghanistan outgesourcet worden ist, einen Ersatz brauchen in abgemilderter, wegklickbarer Form. Ich bräuchte ihn nicht, von mir aus könnte das ganze Netz aussehen wie ein Rosamunde-Pilcher-Film im ZDF. Aber die meisten Menschen lieben den Grusel, schließlich sind wir auch alle mit Märchen, in denen es selten mal ohne Kannibalismus oder Kindermord ging, aufgewachsen.
Der Schulpsychologe Werner Hopf hat in seiner Studie „Mediengewalt, Lebenswelt und Persönlichkeit“ untersucht, durch welche Faktoren Jugendliche gewalttätig werden. “Als die fünf stärksten Prädikatoren erwiesen sich“, so Hopf „die materialistische Wertorientierung, der Gesamt-Mediengewaltkonsum, die Gewaltüberzeugungen, die Einflüsse des Gewaltklimas in der Peergroup und des Vielsehens/ Mediengewaltkonsums der Eltern.“ Konsumieren die Eltern ständig Gewaltfilme und lehnen ihre Kinder ab und schlagen sie, herrschen in diesen Familien „Hass, Wut, Rache, Angst und gegenseitige Feindseligkeit.“ Entscheidend sind nicht die Merkmale der fiktiven Gewalt „sondern die emotionale Reaktion und Verarbeitung.” Und wie soll diese fiktive Gewalt schon verarbeitet werden, wenn man gegenüber den eigenen Eltern Rachegelüste hat? Wenn die Eltern gewalttätig sind, die Freunde und dann auch noch die konsumierten Medien immer den einen Lösungsweg aufzeigen, dann wird Gewalt für die jungen Schläger so unausweichlich wie für die kleinen afro-amerikanischen Mädchen das Glätteisen.
Die Kinder, die auf Ameland vergewaltigt wurden, haben ihren Betreuern gesagt, was mit ihnen geschieht. Die Betreuer hat es nicht interessiert. Ein Drittel aller sexuellen Gewalt an Kindern geschieht durch andere Kinder und Jugendliche (auch das ist keine neue Entwicklung) und die Reaktion der Betreuer auf Ameland ist eine typische: Die Gewalt wird bagatellisiert, Kinderkram halt, gleich vertragen sie sich wieder.
Es führt kein Weg daran vorbei: Man muss nah genug an den Kindern dran sein, um zu sehen, ob sie sich balgen oder ob eines von ihnen gequält wird, man muss ihnen immer wieder aufzeigen, was Gewalt bedeutet und wie man friedlich miteinander umgeht. Das ist wesentlich schwieriger als eine Pressekonferenz einzuberufen und zu behaupten, das Internet sei Schuld. Es ist allerdings auch wirksam und nicht bloß ein Placebo.
Erlauben Sie mir nun bitte, anstelle weiterer Argumente mit dem Fuß aufzustampfen. Ich muss noch eine Herde gen Westen treiben.