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Stephanie zu Guttenberg: ein Königreich für ein paar Fakten

Wo immer Stephanie zu Guttenberg zum Thema spricht, betont sie, dass Kindesmissbrauch ein Tabu sei. Die Behauptung, etwas sei ein Tabu, ist heute die Voraussetzung für eine Talkshowteilnahme. Sie ist die medienfreundliche Variante der Populistenfloskel „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“.

Stephanie zu Guttenberg, Frau des Bundesverteidigungsministers, hat ein Buch zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern mit dem Titel „Schaut nicht weg!“ geschrieben. Zu Guttenberg ist eine der prominentesten Befürworter von Netzsperren. Diese treffen im Internet auf breiten Widerstand, weil sie lediglich eine Scheinlösung darstellen. 

Das erfundene Tabu

Wo immer Stephanie zu Guttenberg zum Thema spricht, betont sie, dass Kindesmissbrauch ein Tabu sei.
Die Behauptung, etwas sei ein Tabu, ist heute die Voraussetzung für eine Talkshowteilnahme. Sie ist die medienfreundliche Variante der Populistenfloskel „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“. „In Wirklichkeit gibt es kein einfacheres Thema, keines mit einem breiteren Konsens in der Bevölkerung“, schreibt der Psychologe Boris Kotchoubey im Magazin NovoArgumente. Die Popsänger Wolfgang Niedecken und Xavier Naidoo, der Rockstar Marylin Manson, die Rapperinnen Missy Elliott und Queen Latifah und die Hollywoodschauspielerinnen Teri Hatcher und Anne Heche haben sich in der Öffentlichkeit zu ihrem Missbrauch geäußert. 659000 Ergebnisse gibt es bei der Google-Suche nach „sexueller Missbrauch“, 472000 zu “Kinderpornographie”. Es folgt eine Auswahl von Büchern zum Tabuthema Kindesmissbrauch:
„Tatort Kinderseele. Sexueller Mißbrauch und die Folgen“
„Kindesmissbrauch – erkennen, helfen, vorbeugen“
„Ausgeliefert: Wie ich die Hölle meiner Kindheit überlebte“
„Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit“
„Flüsterkind – Dein Mann hat mich missbraucht | Ein Brief an meine Mutter“
„Die Fesseln abstreifen: Frei werden von den Folgen sexuellen Missbrauchs“
„Ich dachte, du bist mein Freund. Kinder vor sexuellem Mißbrauch schützen“
„Lebensscherben…doch voller Glauben, Kraft immer wieder Mut, diese Scherben aufzusammeln und zusammen zu fügen“
„Der Puppenspieler: Lyrik über Kindesmissbrauch“
„Ich war zwölf…“
„Zart war ich, bitter war’s: Handbuch gegen sexuellen Mißbrauch“
„Wenn Vater heimkommt…: Ein Junge zwischen Missbrauch und Gewalt“
„Vergiftete Kindheit: Elterliche Macht und ihre Folgen: Vom Mißbrauch elterlicher Macht und seinen Folgen“
„Gina – Jahrelang mißbraucht“
„Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Persönlichkeit“

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist ein grauenhaftes Verbrechen, die Verbreitung von Kinderpornographie wird zurecht vom Staat unterbunden. Über diese beiden Aussagen besteht ein so breiter gesellschaftlicher Konsens, dass es dazu keiner weiteren Diskussion bedarf – es findet sich schlicht niemand, der widersprechen würde. Tatsächlich war Kindesmissbrauch lange Zeit ein verdrängtes Thema. Die große Schweigemauer, die die katholische Kirche zum Schutz der brutalen Peiniger in ihren Reihen errichtet hatte, bröckelt erst nach und nach, auf der anderen Seite des politischen Spektrums versuchten sich Spontis an Kinderdressur durch aufgezwängte sexuelle Befreiung, die nichts anderem diente als der eigenen Perversion. 1977 erschien der SPIEGEL mit dem Titel „Die verkauften Lolitas“ (bizarrerweise mit einer nackten Zwölfjährigen als Cover). In dem Artikel heißt es: „Traurigstes Extrem des verkommenen Lolita-Syndroms sind jedoch jene zumeist in Dänemark hergestellten Kinderpornostreifen, die in den Kinos rund um den New York Times Square (und anderswo) für 25 Cent pro Exemplar besichtigt werden können. (…) Nympholepten kommen hier auf ihre Kosten. Erschreckend Perverses wird hier feilgeboten: (…) unter dem Titel „Die Freuden des Inzests“ ein Ehepaar, das sich gemeinsam über seine etwa zehnjährige Tochter hermacht.“ Unsere Gesellschaft duldet solche Exzesse nicht mehr, wir schauen hin, kein Täter kann heute in aller Öffentlichkeit seinen Trieb befriedigen, seit Jahrzehnten ist Kinderpornographie weltweit geächtet. Warum nicht einmal erwähnen, wenn sich etwas verbessert hat? Würde das der guten Sache schaden?
Vom Wegschauen schlug das gesellschaftliche Pendel in Richtung Hysterie aus. Und wo es eine Hysterie gibt, da gibt es auch einen Markt. In dem 1997 erschienen Buch Hystorien spricht die Psychologin Elaine Showalter vom „Verkaufsschlager Inzest-Kitsch“. Dass Kindesmissbrauch kein gesellschaftliches Tabu mehr ist, ändert natürlich nichts an der Situation der betroffenen Kinder. Sie sind nach wie vor allein gelassen. Ein Schulpsychologe kommt auf 12500 Schüler.

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Einmal Empörung gegen Alles, bitte

Statt konstruktiv und sachlich derartige Missstände anzugehen, holt Stephanie zu Guttenberg zum Rundumschlag gegen die vermeintlich übersexualisierte Gesellschaft aus. „Teenager, die heute an einem ganz normalen Tag MTV schauen, sehen zum Beispiel: die Sängerin Rihanna im durchsichtigen Ganzkörper-Spitzenanzug mit Leder-Schaftstiefeln und Leder-Handschuhen, Christina Aguilera in einem Latex-Korsett mit Nietenarmbändern, Britney Spears an einer Striptease-Stange in Slip und BH“. Dieses Zitat wurde in allen Medien verbreitet. Es ist DER Verkaufsclaim zu ihrem Buch. „Die Kinder entwickeln ein falsches Körperbewusstsein. Es ist gefährlich, wenn sie ihr Selbstbewusstsein nur noch aus ihrem Äußeren ziehen.“
Frau zu Guttenberg macht dabei etwas, das sie vermutlich nicht beabsichtigt. Indem sie einen Zusammenhang herstellt zwischen Videos, die Kinder sich ansehen, und sexuellem Missbrauch, wirkt es auf einmal, als könnten die Kinder etwas an dem an ihnen verübten Verbrechen ändern, würden sie statt MTV den Kinderkanal anschauen. Das erinnert dann doch arg an die Argumentation früherer Vergewaltigungsprozesse: Wenn die Frau doch einen Minirock trägt, dann ist sie halt selber Schuld.
Natürlich meint zu Guttenberg das nicht so, sie denkt halt einfach nicht besonders scharf. Oder lassen Sie es mich freundlicher formulieren: Sie ist erstaunlich unsortiert. Tim Renner (unter anderem Professor an der Pop-Akademie Baden-Württemberg) weist darüber hinaus darauf hin, wie sich Stephanie zu Guttenberg geschmückt mit Teufelshörnchen auf einem AC/DC-Konzert fotografieren lässt und schließt, es sei völlig inakzeptabel „sich einerseits des Rock’n’Rolls zu bedienen, wenn es darum geht, sich und den Gatten in der Öffentlichkeit als lustige CSU-Rebellen zu positionieren und ihn dann zu missbrauchen, um einen populistischen Beleg für Thesen rings um ein so schreckliches Phänomen wie Kindesmissbrauch zu haben“.

Das Buch – Zwei Autorinnen, ein Problem

„Die Kapitel fügen sich nicht zu einer klaren Linie, alles ist irgendwie zusammengeschrieben. Dadurch entsteht leider das Gefühl, dass ein wichtiges Thema lediglich angerissen wurde. Für die Wahl des durchaus gesellschaftlich wichtigen Themas durch die Autorin gebe ich aber dennoch zwei Punkte.“ Dieses Zitat stammt aus einer Amazon-Kritik. Allerdings bezieht sich diese Kritik nicht auf zu Guttenbergs Buch, sondern auf das Debüt von Anne-Ev Ustorf. Die Journalistin Anne-Ev Ustorf schreibt auf ihrer Homepage: „Als Co-Autorin hat Anne-Ev Ustorf das Buch “Schaut nicht weg” mit und für Stephanie zu Guttenberg verfasst.“ „Das Buch erweckt den Eindruck, als sei es mit ziemlich heißer Nadel gestrickt, es ist insgesamt zu wenig fundiert, nicht immer faktenklar (…)“ Diese Amazon-Kritik wiederum richtet sich an das Gemeinschaftswerk von Ustorf und zu Guttenberg. Klingt, als hätten sich da zwei gefunden. Aus einer anderen Laien-Kritik: “Alles was die Autorin über sexuelle Gewalt gegen Kinder auf etwas weniger als 180 Seiten schreibt, lässt sich ebenso gut in den Medien (…) nachlesen.” Wer etwas über die Auswirkungen von Pornographie wissen möchte, dem sei immer noch Ariadne von Schirachs Tanz um die Lust von 2007 empfohlen. Ich teile nicht sämtliche Thesen von Schirachs, aber ihre Beobachtungen sind klug und von großer – ja: Empfindsamkeit. Ihre Perspektive ist nicht die der naserümpfenden Dame aus besseren Kreisen, ihre Meinung ist nicht felsenfest, sondern schwankend, sie ist selbst Verführte und schreibt, was die (von ihr so erlebte) Pornographisierung mit ihr macht. Guttenberg richtet bloß über andere.

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Zahlenzauber: Eine Industrie wird erfunden

„So wie es die normale pornographische Industrie gibt, gibt es auch die kinderpornographische. Die Amerikaner schätzen es auf einen durchschnittlichen Jahresumsatz von 24 Milliarden Dollar.“ So Stephanie zu Guttenberg in einem Interview mit München TV, das auf Youtube zu sehen ist. (Zum Vergleich: der Umsatz der gesamten deutschen Filmindustrie lag 2008 bei 2,4 Milliarden Euro, also bei einem knappen Zehntel.) Der Rechtsanwalt Udo Vetter erklärte Johannes Boie von der Süddeutschen Zeitung, dass es diesen Markt nicht gibt: „Tatsächlich gibt es weltweit keine Filmstudios, die für Geld Kinderpornos drehen. Das gesamte neuere kinderpornografische Material besteht aus dem alltäglichen Missbrauch in der Familie, in der Nachbarschaft, in Schulen und in sonstigen privaten Umfeldern. Die Täter dokumentieren den ohnehin stattfindenden Missbrauch. Dies ist schlimm genug, aber es hat eine andere Dimension, als wenn Kinder aus kommerziellen Gründen für Filmaufnahmen missbraucht werden.“ Die von der EU-Kommission geförderte Vereinigung The European Financial Coalition against Commercial Sexual Exploitation of Children Online kam zu Ergebnissen (pdf), die Vetters Sicht bestätigen.
“Es gab einen signifikanten Rückgang aktiver kommerzieller Seiten.
Die Betreiber kommerzieller Seiten verteilen Bilder, produzieren sie jedoch nicht.
Die Bilder sind in der Regel historisch und werden wieder und wieder in Umlauf gebracht
Die Produzenten von Missbrauchsbildern nutzen kleine, sichere Bereiche des Internets, die passwortgeschützt sind, um Bilder umsonst zu verteilen.
Kommerzielle Seiten erzielen generell keinen hohen Gewinn; verglichen mit anderen Bereichen der Onlinekriminalität sind die Gewinne recht niedrig.”
Wie kommt also Stephanie zu Guttenberg auf so eine Zahl? Alvar Freude, Mit-Gründer des Arbeitskreises gegen Internetsperren und Zensur (AK-Zensur), ist den magischen 24 Milliarden nachgegangen.
„Vergleicht man die Seite der deutschen Sektion von Innocence in danger mit der des Dachverbandes fällt aber auf, dass sich dort die gleiche Umsatzzahl nur bezieht auf „children commerce“, also Kinderhandel. Die Beliebigkeit der Verwendung ein und derselben Umsatzzahl für unterschiedliche Sachverhalte verwundert.“ Alvar Freude verfolgt die Spur der Zahl weiter und stößt schließlich auf einen „kommerziellen Händler von Filterschutzsoftware, der, soweit ersichtlich, die Umsatzzahlen ebenso aus der Tiefe des Gemüts geschöpft hat, wie alle anderen Behauptungen im Zusammenhang dieser Debatte es auch sind.“
Es ist unmöglich, ein Verbrechen zu bekämpfen, wenn man die Fakten nicht berücksichtigt. Wie will man gegen einen Gegner kämpfen, wenn man völlig ignoriert, wie dieser Gegner aufgestellt ist? Es erinnert an den Einsatz von Daisycuttern gegen Taliban, wenn Netzsperren als probates Mitteln gegen dezentrale Tauschringe propagiert werden.

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Eine Nachricht, die zu gut ist

Hätte Stephanie zu Guttenberg recht, gäbe es also einen Zusammenhang zwischen Lady Gaga und Kindesmissbrauch, gäbe es eine boomende Kinderpornoindustrie, die zehn Mal so groß wäre wie die gesamte deutsche Filmwirtschaft, dann müssten folgerichtig auch die  Fallzahlen von sexuellem Missbrauch steigen, denn das ist schließlich die Botschaft: Wir leben in einer so schlechten Zeit, die Kinder müssen an unser aller Übersexualisierung leiden. Aber die Zahl der Missbräuche sinkt (pdf BKA-Statistik 2009), bei gleichzeitig größer werdendem Hellfeld (die Anzeigebereitschaft der Kinder ist gestiegen). Ist sexuelle Gewalt gegen Kinder etwa nicht mehr schrecklich genug, wenn es heute weniger Fälle als vor zehn Jahren zu beklagen gibt?
Es gibt allerdings etwas, das den Rückgang der Missbrauchsfälle erklären kann. Die generelle Ächtung der Gewalt in der Kindererziehung. Der Verein Lernen ohne Angst beschreibt auf seiner Internetpräsenz die Geschichte des
§ 1631 BGB Abs. 2. In diesem wurde erstmals das Recht auf gewaltfreie Erziehung Gesetz. Im Jahr 2000. „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Der Verein zitiert aus dem Protokoll des Bundestags:
„Jedem Kind soll ein Recht auf gewaltfreie Erziehung eingeräumt werden. Dies beschloss der Bundestag am 6. Juli mit großer Mehrheit auf Empfehlung des Rechtsausschusses (14/3781). Das Parlament billigte einen Gesetzentwurf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen (14/1247). Während F.D.P. und PDS für die Vorlage votierten, stimmte die CDU/CSU dagegen.“
Stephanie zu Guttenberg, die Frau frei von Fakten, hätte genug daran zu tun, in der Partei ihres Mannes für eine gewaltfreie Kindererziehung zu werben. Hinter den Kulissen, ohne Talkshowauftritte. Und ohne ein Buch, das die Welt nicht braucht.