Wenn Statistiker gerade nicht der nächsten Finanzkrise ins Leben helfen, machen sie sich nützlich: zum Beispiel im Labor. Testen Medikamente, berechnen Dosierungen für die Beipackblätter. Unter anderem.
Manche Segnungen des Computerzeitalters sind sehr offensichtlich. Für eine Strecke von 350 km möchte die Deutsche Bahn von mir 50 Euro haben (das ist der Vorzugspreis mit Ermässigung, versteht sich), nimmt sich aber dennoch knappe sechs Stunden Zeit, mich zum Ziel zu spedieren. Dank der allgegenwärtigen Vernetzung jedoch kann ich im Internet nachschauen und dort Leute finden, die dieselbe Strecke zum selben Zeitpunkt zurücklegen wollen, allerdings im Gegensatz zu mir ein Auto ihr eigen nennen. Und, sei aus Umweltbewusstsein oder Sparsamkeit, Mitfahrer suchen. Kaum zu glauben, daß das sogar für die Strecke zwischen zwei obskuren, netten Städten mittlerer Größe gilt, aber ja: das Internet macht’s möglich. In der Bahn wie im Auto kann man auf Reisen die üblichen Irren treffen, und mit den Mitfahrern an jenem Wochenende hätte man eine zeitgemäße Version der Canterbury Tales verfassen könnten – an Unterhaltung war also kein Mangel.
Ebenso wenig an Bildung. Mitfahrerin U. nämlich, ihres Zeichens Pharmazeutin in Diensten eines grösseren Pharmakonzerns, berichtete auf Rückfrage des Fahrers von ihrer Arbeit und siehe: wir hatten Gemeinsamkeiten und die 170 km gemeinsame Strecke verflogen nur so, ganz ohne daß der Fahrer den Bleifuss hätte bemühen müssen.
Selbstverständlich war mir schon vorher bekannt, dass manche statistische Methode aus der medizinischen und pharmakologischen Forschung kommt. Methoden der “Survival Analysis” beispielsweise werden in den Wirtschaftswissenschaften genutzt, um die Verweildauer von Personen in bestimmten Gruppen zu bestimmen, seien es nun Dauer der Arbeitslosigkeit nach Training, oder wie lange Firmen sich an bestimmten Märkten halten können. In der medizinischen Forschung hingegen gibt der Name bereits an, was mit der Methode gemessen wird. Dennoch war ich im ersten Moment überrascht von den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, im zweiten dann voller neugieriger Fragen zu den Details der Arbeit der Mitfahrerin. Und dem Nutzen statistischer Methoden in der Pharmakologie. Präziser: der Pharmakometrik und Pharmakokinetik.
Wir sind ja längst über die Zeiten hinaus, wo man mit Amuletten und Hasenpfoten unterm Kissen Dämonen auszutreiben suchte, Medikamente werden intensiv erforscht und getestet, und mit jeder Erweiterung des biologischen, physiologischen und chemischen Erkenntnisstandes können regelmäßige Prozesse und Wirkungsmechanismen bis ins Details identifziert werden. Eigentlich ist es da nur logisch, daß pharmazeutische Daten statistisch verarbeitet werden. Immerhin handelt es sich um systematisch erfasste Daten mit einigermaßen vielen Observationen – folglich kann man damit wunderbar rechnen.
Medikamente in der Testphase werden hinsichtlich aller möglichen Parameter untersucht: Einwirkungszeit und -dauer, Metabolisierung, Ausscheidung. Dabei kann man erstens Ergebnisse von Tier- oder Laborversuchen heranziehen, um den Verlauf der Medikation von der Einnahme bis zur Ausscheidung festzustellen. Im fortgeschrittenen Stadium werden diese Daten dann auf den Menschen hochgerechnet und mit Daten aus Blutabnahmen von Menschen verglichen. Dann nämlich kann man auch schauen, welche weiteren Einflussfaktoren es gibt, wie zum Beispiel Alter, Ernährung, Vorerkrankungen, Zigaretten- und Alkoholkonsum, und was es da noch so gibt an statistischen Kovariablen von Bedeutung. Systematisch aufbereitet können solche Daten zumindest Grenzen für die möglichen Wirkungsweisen aufzeigen. Sehr nützlich zum Beispiel, dass man mit Hilfe der modernen Rechnertechnik unendlich viel präziser als früher allerlei Rahmendaten bestimmen kann. Welche Zeitspanne vergeht bis zur Aufnahme des Medikaments im Kreislauf, welche bis der Dosierungsspiegel wieder sinkt, wie lange dauert das im Mittelwert, im Mittelwert bei kerngesunden 40-Jaehrigen, bei klapprigen 80-Jaehrigen, und welches sind die extremen Ausreißer am oberen und unteren Rand der Verteilung? Weiterhin kann man – ebenso relevant – von gegebenen Stichroben auch hochrechnen, wie oft bestimmte Ereignisse vorkommen oder, anders ausgedrückt, wie wahrscheinlich das Auftreten bestimmter Ausreisserwerte ist.
Das ist natürlich keine Sicherheit – wie wir von N.N. Taleb erfahren haben, sind Statistiken für selten Ereignisse (also gerade Ausreisser) gänzlich ungeeignet, aber zumindest die Normalfälle lassen sich mit Statistik hervorragend analysieren.
Besonders fasziniert war ich von der „First-in-man” Anwendung, also der Frage der Dosierung von neuen Medikamenten beim erstmaligen Einsatz im Menschen. Früher, so wurde ich belehrt, orientierte man sich vage an den Vorproben an Tieren und in-vitro, also im Reagenzglas, für eine erste grobe Einschätzung einer guten Dosierung. Diese natürlich übertragen – wiederum basierend auf Erfahrungen mit vergleichbaren Inhaltsstoffen – und skaliert für den Menschen.Dabei wurde offenbar in der klinischen Studie mit der gerade noch nebenwirkungsfreien Maximaldosis aus Tierversuchen eingesetzt. Gewissermaßen nach dem Prinzip “Viel hilft viel”. Mittlerweile jedoch hat man sich besonnen und beginnt mit der gerade noch wirkungsfähigen Minimaldosis. Es ist doch ermutigend zu hören, daß sich die Pharmazie in dieser Angelegenheit zum Vorsichtsprinzip hinentwickelt hat, während sich die deutsche Unternehmensbilanzierung und Rechnungslegung davon entfernen.
Bei der Berechnung solcher Erstdosierungen sind Statistik, Modelle und Methoden endlich einmal uneingeschränkt begrüssenswert, erlauben sie doch viel präzisere Schätzungen und Tests im Computer, bevor der Mensch als Versuchskaninchen herhalten muss. Mit bestehenden Daten von Tier- und Laborversuchen lassen sich die Ober- und Untergrenzen für Wirkungsgrade, Nebenwirkungen, gute und schlechte Dosierungen zumindest sehr viel besser eingrenzen und machen damit den Erstversuch am Menschen um Längen sicherer.
Modelle gibt es nämlich nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Pharmazie. Auch dort lassen sich Wirkungszusammenhänge mit allgemeinen Variablen und Gleichungen darstellen, und wennman aus vorangegangenen Studien zuverlässige Schätzungen aller Parameter hat, kann man am Computer Wirkungsverläufe simulieren. Natürlich braucht es dafür Daten, natürlich muß irgendjemand am Anfang als Versuchskaninchen herhalten und hier tun sich moralischen Fässer auf, die ich lieber geschlossen lasse. Immerhin scheint das eine Anwendung des statistischen Teufelszeugs zu sein, die grundsätzlich zu begrüßen ist und die Welt etwas sicherer macht.
Vorausgesetzt natürlich, niemand kommt auf die Idee, teure Studien durch günstige Computersimulationen zu ersetzen, eine gewinnorientierte Verantwortungslosigkeit, die ich niemandem würde unterstellen wollen. Die amerikanische Behörde für Arzneizulassungen nutzt die Verfahren – unter anderem – für ihre Entscheidungen und erste Studien befassen sich mit dem Einfluß der Pharmakometrie auf die Zulassung. Möglicherweise ist es meinen Unzulänglichkeiten auf der fachlichen Ebene geschuldet, aber ich hatte Verständnisschwierigkeiten. Zum Beispiel entzieht sich mir der Sinn von Dosierungsprüfungen auf Basis gerade jener Daten, die der Antragsteller eingereicht hat. Das kann doch wohl nicht gemeint sein? Überhaupt befürchte ich, daß Pharmakologen dieselben Schwierigkeiten haben dürften wie Wirtschaftswissenschaftler, für bestimmte Zusammenhänge die passende funktionale Form zu finden. Es macht einen großen Unterschied, ob in Regressionsanalysen ein linearen oder logistischer Zusammenhänge unterstellt wird – ich hoffe, daß die Pharmakologen sich da besser anstellen als Wirtschaftswissenschaftler. Oder bessere Statistiker haben.
Vielleicht haben ja im Rahmen der Finanzkrise einige gute Statistik-Cracks von amerikanischen Top-Universitäten das Umfeld gewechselt. Obwohl: das wäre vielleicht doch nicht so gut. Mögen sie lieber in den Banken bleiben, da können sie weniger Schaden anrichten. Aber das wird die schöne neue Welt der Zukunft zeigen.