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Mathematik – ein Stigma?

Unwissenheit ist selten dekorativ, aber Unwissenheit in naturwissenschaftlichen Fragen immer noch besser, als bekennender Fan seichter Romane oder Leser der Bild-Zeitung zu sein. Das eine ist sozial akzeptabel - das andere nicht.

Unwissenheit ist selten dekorativ, aber Unwissenheit in naturwissenschaftlichen Fragen immer noch besser, als bekennender Fan seichter Romane oder Leser der Bild-Zeitung zu sein. Das eine ist sozial akzeptabel – das andere nicht.

Mit der Mathematik ist es eine sonderbare Sache. Mathematik bestimmt unseren Alltag viel mehr, als die meisten vermuten, und natürlich kann man ohne Mathekenntnisse gut durchs Leben kommen. Aber die Randbedingungen, das gesamte Umfeld des modernen Menschen, werden von Mathematik bestimmt. Banken und Versicherungen beschäftigen Bataillone von Mathematikern für die Berechnung von Geschäftsmodellen und Produkten. Sozial- und Krankenversicherungssysteme funktionieren nur, weil Mathematiker und Statistiker die Funktionsfähigkeit der Mechanismen belegen können, und ohne die Mathematik als Hilfswissenschaft würden keine Strassen, Häuser, Computer oder Autos in der uns bekannten Form gebaut werden.

Eigentlich sollte die Schule uns zu leidlich allgemeingebildeten Menschen erziehen, und in gewissem Umfang tut sie das auch: um grundlegende Algebra, Statistik und Geometrie kommt kaum jemand herum. Die Bedeutung der theoretischen Konzepte erschließt sich kaum, allerdings immerhin marginal mehr als in der Physik oder der Chemie. Zumindest die Anwendung von Kopfrechnen im Alltag ist kaum jemandem fremd. Von den wenigen Tätern aus Leidenschaft abgesehen, die sich bewußt für naturwissenschaftlich orientierte Ausbildung oder Studiengänge entscheiden,  stellt sich vielen die Frage: welches Studium hat möglichst wenig Mathe.

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Wenn die höheren Töchter Glück haben, rät ihnen jemand von Marketing und Psychologie ab, denn da ist Statistik unentbehrlicher Bestandteil: Sozialforschung kommt nicht ohne Stichproben und deren systematische Auswertung menschlicher Verhaltensweisen aus. Mancher, der sich überschaubare Diskussionen über menschliches Konsumverhalten oder die Strategien schreibunter Werbeplakate vorgestellt hatte, entschied sich nach dem bösen Erwachen doch für ein anderes Fach. Physiker und Mathematiker hingegen realisieren irgendwann, daß sich mit der ganz eigenen Ästhetik mathematischer Beweise kein großes Geld verdienen läßt, und verschwinden freiwillig in den Kellern der Investmentbanken, wo sie komplizierte Modelle zusammenbauen. Die wiederum verstehen die Chefvolkswirte der Institute nicht so recht, und folglich kann niemand bemerken, daß die Realität doch anders aussieht als das Modell. Die Sensibilität für dieses Problem ist inzwischen gewachsen – eine Lösung hingegen nicht in Sicht, denn die einen können nicht genug Mathe, und die anderen nicht genug Realität.

Die meisten Menschen sind davon jedoch relativ unberührt – spielt Mathematik in ihrem Leben doch schon seit dem Schulabschluß keine große Rolle mehr. In der Schule hören die meisten Menschen irgendwann von Goethe und Mozart und der Ableitung. Steht man hingegen Jahre später auf einem Empfang zusammen und bekennt, man könne Mozart nicht von Bach unterscheiden, oder assoziiere Goethe mit einer Schokoladenmarke, sind einem verwundernde und herablassende Blicke sicher. Schöngeistige Bildung wird fast immer irgendwie geschätzt: wer sie hat, hält sie ohnehin für das Maß aller Dinge. Wer sie nicht hat und andere heimlich beneidet, ist zumindest hinreichend beeindruckt – es sei denn, alles Streben beschränkt sich auf Geld und Autos. Wer hingegen bekennt, den Satz des Pythagoras lange vergessen oder den Sinn und Zweck einer Ableitung nie verstanden zu haben, befindet sich meistens in guter Gesellschaft. Es ist sozial völlig akezptabel, von Mathematik (und Naturwissenschaften) unbeleckt zu sein. Mehr noch: man kann sogar damit kokettieren, nicht mal den eigenen Kassenzettel im Supermarkt ohne Taschenrechner zusammenrechnen zu können – das ist völlig in Ordnung.

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So, wie hilflos neben ihrem Auto stehende Frauen in der Regel nicht wirklich als unfähig, sondern einfach nur als niedlich weiblich empfunden werden, darf man in weiten Kreisen der Gesellschaft auch gerne gegenüber der Mathematik hilflos sein. Wer wäre nicht irgendwann vom Fachlatein der Bankberater und Versicherungsmakler überfordert gewesen, unfähig, die komplizierten Berechnungen auch nur im Ansatz nachzuvollziehen? Natürlich sieht man irgendwie ein, daß es wünschenswert wäre, den Experten nicht ganz so ausgeliefert zu sein, Prognosen von fremder Hand nicht auf Gedeih und Verderb ohne eigene Kontrolle vertrauen zu müssen . Bestenfalls hat man wenigstens noch ein wenig Bauchgrimmen mit dieser totalen Selbstentmündigung. Schlechtestenfalls hält man es, vom Umfeld bestärkt, längst für selbstverständlich, den Experten in diesen Fragen ebenso zu trauen, wie dem Arzt im Krankenhaus und dem Piloten im Cockpit. Genau deshalb schließlich haben wir eine großartig effiziente, arbeitsteilige Gesellschaft: damit jeder sich spezialisieren kann. Der Vergleich mit Ärzten und Piloten hinkt jedoch.

Die Leistung eines Piloten auch nur ansatzweise nachvollziehen zu wollen, erfordert in der Tat eine hochspezialisierte Ausbildung, die nicht jeder haben kann. Dem Arzt hingegen vertraut der kritische Patient keineswegs so blind, wie manchmal suggeriert wird. Im Gegenteil: wer betroffen ist, recherchiert in Fachbüchern, im Freundeskreis, stellt seine eigenen Diagnosen übers Internet und hilft sich notfalls in der Apotheke selbst, solange das ohne Rezept geht. Patienten sind oftmals nicht annähernd so unmündig, wie man meinen könnte – denn für grundlegende Kontrollen braucht es eben doch kein Studium. Manche Dinge kann man mit ein wenig gesundem Menschenverstand und etwas Recherche durchaus kontrollieren, verifizieren, falsifizieren. Und tut dies auch, wenn der Druck nur groß genug ist.

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Wer jedoch käme auf die Idee, die Berechnungen des Bankberaters überprüfen zu wollen? Sobald es um Mathematik geht, werden intelligente, nachdenkliche Menschen zu unmündigen Kindern. Der vermutete Vorsprung an quantitativem Verständnis scheint so groß, daß man erst gar nicht in Erwägung zieht, selbst drüber nachzudenken. Wo die versprochenen zehn Prozent Rendite herkommen können. Ob eine Hausratsversicherung als Student mit Ikea-Ausstatttung sinnvoll ist. Wenn es empfohlen wird, muß es wohl richtig sein.

Zwar kann man in den Medien regelmäßig hören, daß die MINT-Fächer die Basis für Deutschlands Wohlergehen seien, daß wir mehr mathematische und wirtschaftliche Grundbildung brauchen, und überhaupt unsere Kinder mehr rechnen müssen – aber das hindert erwachsene Personen keineswegs daran, mit ihrer mathematischen Unwissenheit zu kokettieren. Das ist nämlich in weiten Kreisen weit akzeptabler, als zu den Zahlen-Nerds zu gehören. Schon in der Schule wurden jene, die sich freiwillig für den Mathe- oder Physik-Leistungskurs entschieden, schräg angeschaut. Im Studium werden dann jene geschnitten, die ganz freiwillig statt Managementlehre Finanzwirtschaft wählen, statt in Anthropologie in Kursen zur Methodenlehre der Sozialforschung sitzen. Natürlich hängt das auch vom Umfeld ab: hätte ich einen Freundeskreis voller Physiker und Ingenieure, wäre das anders. Aber in manchen Kreisen ist es absolut gesellschaftsfähig, 2+2 nicht addieren zu können – Goethe oder den Mauerfall nicht einordnen zu können, wäre hingegen sozialer Selbstmord. Dabei wäre es oft gar nicht schwer, ein bißchen mehr zu verstehen: Um ein Haushaltsbuch zu führen, und den Mechanismus von Kredit und Verschuldung zu begreifen, braucht es keine höhere Mathematik. In den meisten Schulen hat man durchaus das Handwerkszeug mitbekommen, mehr als nur den Kassenzettel nachzurechnen, und das Internet bietet heute für fast jedes Verständnisniveau eine passende Erläuterung auch komplexer Sachverhalte – was fehlt, sind Interesse und Wille. Und, möglicherweise, Notwendigkeit.

Es gibt ja Experten. Und keinerlei Sanktionen für mathematische Dämlichkeit.