Mathematik und Musik werden oft ins gleiche Bett gelegt – obwohl die Überschneidungen sich in Grenzen halten. Eine funktionierende Ehe, oder nur ein Gerücht?
Ich bin ja eigentlich ein Wolf im Schafspelz und glaube mir selbst nicht recht, wenn ich – wie vor einiger Zeit – auf einem weißen Schlachtross für mehr naturwissenschaftliche Bildung in den Kampf reite. Nachdem ich bei der Gelegenheit reichlich narzisstische Häppchen für Ingenieure und Mathematiker in diesem Salon dargereicht habe, ist es an der Zeit, auch die geisteswissenschaftlichen Leser mal wieder zu berücksichtigen.
Gelegentlich wird kolportiert, Mathematik und Musik seien ach! so eng miteinander verwandt. Ich gebe zu: nicht für mich. Natürlich ist Musik Schallwellen, Schallwellen sind Physik und auf diesem Umweg auch irgendwie Mathematik, aber den direkten Zusammenhang sehe ich nicht. Ähnlich verhält es sich mit dem Gerücht, Musiker seien oft Mathematiker, und umgekehrt. In der Antike gab es Pythagoras, 600 Jahre später Ptolemäus, die sich beide in bedeutender Art mit Mathematik und Musiktheorie beschäftigten, aber danach kommt lange nichts. Leibniz, unser aller Universalgenie, hatte mit Musik gar nichts Hut. Goethe wiederum zwar mit Musik, aber nicht mit Mathematik. In neuerer Zeit gibt es von dem Schweizer Mathematiker Leonhard Euler einige weitgehend unbekannte Beiträge zur Musiktheorie, aber mehr habe ich nicht gefunden (wobei ich für weitere Hinweise immer dankbar bin!). Von Einstein weiß man zwar, daß er die Musik im Allgemeinen und seine Geige im Besonderen sehr liebte, aber zu großen wissenschaftlichen Erkenntnissen von musikalischer Relevanz bewegte ihn diese Liebe nicht.
Trotzdem muß es doch einen Grund geben, warum die Musiktheorie im Mittelalter zum mathematischen Quadrivium der sieben freien Künste gezählt wurde – auch wenn sich heute Musikwissenschaftler wohl lieber den drei anderen Wissenschaften zuordnen würden.
Was also begründet das Gerücht der Verwandtschaft von Musik und Mathematik? Anekdoten berichten, daß der goldene Schnitt (das mathematische Streckenverhältnis „a:b” wie „a+b:a”) beim Instrumentenbau Anwendung fandt – ob allerdings Stradivari bewußt so baute, oder es nicht doch Zufall war, kann niemand mit Sicherheit sagen.
Das augenfälligste Beispiel ist vermutlich tatsächlich die Frage von Stimmung, Saitenverhältnissen und Schallwellen – und es ist dieses Thema, das viele der oben genannten Theoretiker beschäftigt hat. Die Krux an der Stimmung ist, daß eine Schichtung von zum Beispiel 12 Quinten theoretisch annähernd 7 Oktaven entspricht – aber nicht ganz, d.h. am Ende kommt derselbe Ton raus, aber jeweils in etwas unterschiedlicher Höhe. Dieser Unterschied wird auch als pythagoreisches Komma bezeichnet und treibt die Musiker seit dem Mittelalter besonders um: mit Einführung von Tasteninstrumenten mußte man sich nämlich entscheiden. Tonhöhen und Intervalle lassen sich als Saitenteilungsverhältnisse ausdrücken – was sie vermutlich für Mathematiker überhaupt erst interessant macht. Eine Oktave entspricht einem Teilungsverhältnis von 1:2, eine Quinte dem Verhältnis 3:2. D.h., wenn man eine Geigensaite an jenem Punkt aufs Brett drückt, wo die verbleibende, schwingende Saite doppelt so lang ist, wie die abgeklemmte, dann erklingt der ursprüngliche Saitenton exakt eine [Edit: Quinte] höher. Das wäre dann das reine Intervall. Schichtet man aber viele reine Oktaven und reine Quinten aufeinander, fallen die Endtöne leider auseinander.
Bei den meisten Instrumenten läßt sich die Tonhöhe flexibel anpassen, und folglich wird jeder Ton und jedes Intervall so sauber intoniert, wie es die jeweilige Tonart gerade erfordert. Bei Tasteninstrumenten hingegen muß man sich auf eine Tonart festlegen. Auch wenn Bach sein Cembalo angeblich in 15 Minuten umstimmen könnte, übersteigt das die Fähigkeiten moderner Klavierstimmer deutlich, und wer wollte sich das dauernd leisten?
Schon zu Bachs Zeiten wurden daher die Instrumente so gestimmt, daß die Diskrepanz irgendwie aufgeteilt wurde auf die übrigen Intervalle. Bis ins Spätbarock hinein war die mitteltönige Stimmung vorherrschend, bei der die Terzen (und die als besonders rein empfundenen Intervalle Quinte und Oktave ohnehin) rein gestimmt wurden – allerdings nur in den ersten Tonarten des Quintenzirkels, d.h. von den theoretisch möglichen 12 Tonarten (und ihren korrespondierenden Moll-Partnern), klangen nur die ersten 8 sauber, und das mit abnehmender Tendenz.
Eine ziemlich schmutzige Lösung ist die gleichstufige Stimmung, bei der nur doch die Oktaven rein klingen, während alle anderen Intervalle einen Anteil am pythagoreischen Komma erhalten – also unrein klingen. Erstaunlicherweise hat sich gerade diese Variante durchgesetzt, vermutlich auch, weil es dem ungeschulten Ohr kaum auffällt.
Deutlich bekannter ist hingegen die Wohltemperierte Stimmung, der Bach möglicherweise auch sein großes Werk „Das Wohltemperierte Klavier” widmete. Andreas Werckmeister (nach dem auch einige der unzähligen Varianten dieser Stimmungsmethode benannt sind), war einer der ersten, die das leidige Komma nicht systematisch, sondern quasi nach Gefühl verteilten. Je nachdem, wie wichtig das Intervall und die Tonart in Verwendung waren, und wie sehr das menschliche Ohr auf Unreinheiten empfindsam oder stumpf reagiert, wurden Intervalle rein oder unrein gestimmt. Dabei fiel aufgrund der Häufigkeit der Verwendung und Bedeutung der Intervalle C-Dur besonders rein aus und die Tonarten mit vielen Vorzeichen eher unrein – was zur Tonartencharakteristik führte, die noch heute ein wesentlicher Baustein der Musikwissenschaft ist.
Konkret impliziert dies, daß auf einem modernen Klavier Präludium und Fuge in Fis-Dur aus dem ersten Band genausogut in C-Dur gespielt werden könnten – es macht klanglich keinen Unterschied. Auf einem gleichstufig gestimmten Klavier hingegen, wäre der Unterschied sehr wohl hörbar. Mit ziemlicher Sicherheit komponierte Bach dieses Werk, um die neue Errungenschaft der wohltemperierten Stimmung zu feiern, die es ermöglichte, alle Tonarten auf einem Tasteninstrument zu spielen – allerdings in der wohltemperierten Variante, nicht der gleichstufigen, wie wir sie heute verwenden. Überhaupt hatte Bach vermutlich einiges mit Zahlen am Hut: in seinen Werken wimmelt es von Zahlensymbolik, aber auch da läßt sich nur raten, wieviel davon Absicht ist. Wenn ein Choral über die zehn Gebote vertont wird und die Trompete zehn Mal einsetzt, unterstelle ich gerne Absicht. Wenn hingegen zwei Nummer insgesamt 129 Takte umfassen, und dies (3×43=129) als Verweis auf ein dreifaches Credo gedeutet wird, geht mir rasch die Geduld aus – das ist Raterei, ohne die Möglichkeit auf Belege oder Argumente. Von der okkulten Seite, mit Freimaurerdenken und höherer Bedeutung von Quadraten und Dreiecken gar nicht zu reden.
Ein weiterer, oft zitierter Bereich, wo Musik und Mathematik eine – in manchen Augen unheilige – Ehe eingehen, ist die moderne Musik. Gerade Zwölftonmusik oder serielle Musik sind so streng strukturiert, daß man sich an Mathematik erinnert fühlt und manche Schönheit solcher Werke erschließt sich erst in intensiver Auseinandersetzung mit den Noten. Bei der Zwölftonmusik zum Beispiel werden Tonreihen gebildet, die nur begrenzt und nach strengen Regeln variieren dürfen, was im mehrstimmigen Satz außerordentlich komplex wird – so sehr, daß ein Professor mal meinte, ein Computeralgorithmus könnte Zwölftonmusik leichter komponieren, als das menschliche Genie. Dazu passt, daß zum Beispiel Boulez auch mit Zahlentabellen arbeitete, um Muster deutlich zu machen. Trotzdem – auch wenn mir da mancher nicht zustimmen wird – ist das nicht Mathematik. Zahlen und Mathematik sind zwei völlig verschiedene Dinge eigentlich. Und auch Zwölfton- oder serielle Musik ist immer noch Musik. Man muß sich bemühen, sie zu verstehen, die Gewohnheiten des eigenen Ohres überwinden und sich damit ernsthaft befassen, aber es ist immer noch Kunst – die sich auf einzigartige Weise der Rationalität entzieht.
Kunst ist, wenn aus Intervallen und Schallwellen (also Mathematik und Akustik) mehr wird. Ein 2+2 = 5, das den Menschen berührt und einen alles andere vergessen läßt. Musik, eben.