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Zensus 2011 – wieviele Daten braucht der Staat?

In Eritrea und in Deutschland liegen die letzte Volkszählung schon sehr lange zurück. Nicht mehr lange jedoch, denn der Staat sammelt Daten - hoffen wir, daß er sie besser schützen kann, als die amerikanische Armee ihre Depeschen.

In Eritrea und in Deutschland liegen die letzte Volkszählung schon sehr lange zurück. Nicht mehr lange jedoch, denn der Staat sammelt Daten – hoffen wir, daß er sie besser schützen kann, als die amerikanische Armee ihre Depeschen.

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot […] ausging, dass alle Welt geschätzt würde”. In Deutschland allerdings, ähnlich wie in Eritrea, schon ziemlich lange nicht mehr. 1987 wurden die Bundesbürger letztmalig erfasst, seither rechnet der Staat mit Fortschreibungen und Schätzungen, korrigiert durch den jährlichen Mikrozensus. Beim Mikrozensus wird jährlich 1 % der Bevölkerung per Interview und Fragebogen befragt, und beim nun anstehenden Zensus 2011 werden auch nur etwa 10 % der Bürger zu allen relevanten Themen Auskunft erteilen müssen (Verweigerung ist eine Ordnungswidrigkeit, weil ZensG). Hinzukommen etliche Millionen Wohnungseigentümer, denn dort ist der staatliche Informationshunger besonders groß und die Datenlage besonders schwierig. Zur Ausstattung von Wohnungen nämlich gibt es keine Zentralregister – zu vielen anderen Themen schon.

Da wären zum Beispiel die Grunddaten im kommunalen Melderegister, die für jedermann abfragbar sind. Diese sind jedoch, so klagt der Bund, arg veraltet und bedürfen dringend der Aktualisierung. Schätzungen zufolge dürften etwa 6-8 % der Bundesbürger falsch gemeldet sein, sei es als Karteileiche oder Fehlbestand – das kann doch wohl nicht so schlimm sein? Das Melderegister bleibt jedenfalls eine gute Auskunftsquelle und erst recht seit der Bereinigung durch die Einführung neuer Steuernummern vor einigen Jahren.

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Der moderne Staat jedoch braucht tatsächlich und ganz unbestreitbar mehr Informationen zur Ausübung seiner hoheitlichen Pflichten. Finanzausgleiche in der Republik wie auch in der EU kann man vielleicht noch mit Kopfzahlen beurteilen, aber um den Bedarf an Wohnungen, Schulen oder Sozialleistungen zu ermitteln, wären mehr Details durchaus sinnvoll. Wie sinnvoll, läßt sich mit anderen Ländern viel besser zeigen. Nigeria, zum Beispiel. Die Vereinten Nationen schätzten die Bevölkerung 2008 auf 151,2 Millionen Menschen, die Weltbank 2009 hingegen auf 154,7. Kleiner Unterschied. Großer Unterschied, möchte man wissen, wieviel Entwicklung, wieviele Schulen, wieviel Entwicklung das Land braucht. Und vor allem wo. In Indonesien wiederum läßt sich schwer sagen, wie das Land bei der Erreichung der Millennium Development Goals abschneiden wird, weil die Müttersterblichkeit allenfalls geschätzt werden kann. Gesicherte Daten liegen leider nicht vor. Solche Fälle illustrieren und rechtfertigen den Datenhunger eines Staates, der zur Erfüllung seiner Aufgaben nun einmal Informationen braucht. Das kann man verstehen.

Anders verhält es sich mit dem Datenhunger unseres schönen Landes. Das plant nämlich, zur Entlastung der Bürger, statt einer Vollbefragung einfach die vorhandenen Datenquellen zusammenzuführen. Damit die Bürger auch gut verstehen, wozu das alles gut ist, wurde sogar extra eine eigene Homepage eingerichtet, auf der sich verschiedene glückliche Generationen auf bunten Bildern tummeln. Auch hier wird die Planung von Schulen und Altenheimen ins Feld geführt, ich aber frage mich naiverweise (und lassen mich gern eines besseren belehren): täten es dafür nicht die Daten der Melderegister in ihrer vorhandenen Form? Muß man diese Daten mit allerlei andere Registern zusammenführen und auch noch mit individuellen Befragungen, alles kodiert mit einer einzigen Personennummer? Statistisch ist das natürlich hochinteressant und um Daten optimal auswerten zu können, bedarf es eines „unique identifiers”. Aber wozu die optimale Auswertung, wenn es doch auch die suboptimale Auswertung täte – allerdings ohne, daß man einen einzigartig umfassenden Datensatz ins Leben ruft, der möglicherweise in einigen Monaten bei Wikileaks auftaucht.

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Wirklich, ich verstehe gut, warum man statistische Schätzungen, Fortschreibungen, Hochrechnungen gelegentlich an der Realität messen muß. Während der unvoreingenommene Leser sich auf die geschätzte Zahl konzentriert, ist für den Statistiker der Standardfehler mindestens ebenso aussagekräftig, gibt er doch Anhaltspunkte für die Qualität der Schätzung, und je länger die Fortschreibung währt, desto größer wird der Standardfehler.

In Entwicklungsländern sind Daten Mangelware, gleich nach Brot und Bildung, und manchmal sogar Ursache vieler Probleme und so wäre ich jederzeit dafür, daß im Kongo und in Nigeria die Qualität des Zensus verbessert wird – gerne auch mit meinen Steuergelder via GIZ und BMZ. Allerdings erkennen die Vereinten Nationen selber, daß Industrieländer ohnehin schon auf riesigen Datentöpfen sitzen – und damit den Zensus gar nicht mehr so sehr brauchen.

Inzwischen reiben sich die Anzugträger im Bundesamt für Statistik bereits die Hände, und Forscher sind ebenfalls voller Vorfreude auf ungeahntes wissenschaftliches Potential. Die Datenverknüpfung schafft neue Möglichkeiten – aber eben auch neue Gefahren. Die erklärte Absicht, daß die Daten nur in eine Richtung geliefert werden, nämlich zum Bundesamt, glaube ich sogar. Damit wären Kollateralschäden für Einzelpersonen relativ unwahrscheinlich: niemand, der falsch gemeldet ist, wird also bei den entsprechenden Kommunen verpetzt. Das ist allerdings nur ein kleiner Trost. Wie gefährlich Datensätze sind und wie leicht sie auf Abwege geraten, haben in der Vergangenheit etliche Unternehmen auf dem harten Weg lernen müssen. Kein Grund, warum ausgerechnet der Staat besser machen sollte, was Unternehmen nicht auf die Reihe bekommen. Zumal wenn der Chefstatistiker der Republik der Meinung ist, daß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unter Umständen der Datenerhebung zwecks Gemeinwohlförderung unterzuordnen ist. Interessante Position, er hätte besser erklären sollen, warum die Verknüpfung über „unique identifiers” so absolut notwendig ist, wenn man doch möglicherweise auch in Anteilen und Prozenten rechnen könnte?

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Inzwischen gibt es eine Verfassungsbeschwerde, deren Aussicht auf Erfolg allerdings schwindet, je näher der Stichtag für den Zensus im Mai rückt. Ich kann den Datenhunger des Staates verstehen, ich kann den Gruppendruck innerhalb der EU verstehen – aber die Methode misshagt mir. Es ist nicht schön, meine Daten zusammengeführt zu wissen, ohne daß ich intervenieren oder mich durch Bußgeldzahlung aus der Affaire ziehen kann. Es beunruhigt mich, daß solche Datensätze geschaffen werden, denn wenn Pandoras Box erst mal auf dem Tisch steht, folgen Begehrlichkeiten auf dem Fuß. Und wie es aussieht, machen wir die Dinge wieder einmal besonders gründlich und schaffen einen besonders umfangreichen Datensatz. Mir egal, daß das Verfahren so viel weniger kostet als 80 Millionen Fragebögen – mehr Zahlen und dafür Gefahren verhindert zu wissen, stellt sich im Nachhinein manchmal als bessere Wahl heraus. Zumal wir alle inzwischen gelernt haben sollten, daß solche Datensätze niemals, niemals, niemals wirklich geheim sind. Lecks gibt es in der amerikanischen Armee, in Fukushima und möglicherweise auch beim Statistischen Bundesamt. Bisher konnte sich Deutschland damit schmücken, sich für unvergleichlich lange Zeit in dieser modernen Welt gegen den Zensus gewehrt zu haben. Meinethalben es hätte es ruhig so bleiben können.