Soziale Netzwerke wie Facebook und Google+ fordern Klarnamen von ihren Benutzern. Aber was ist mit unseren pseudonymen Netzidentitäten, die längst ihr digitales Eigenleben entwickelt haben? Warum müssen die draußen bleiben?
Ein Klassiker des Netzdiskurses erlebt gerade mal wieder ein Revival: die Klarnamendebatte. Auf der einen Seite die Klarnamensverfechter, die davon träumen, das Netz wäre ein liebenswerterer Ort mit besseren Umgangsformen, wenn wir alle nur noch mit unserem bürgerlichen Namen im Netz auftreten würden: Lässt nicht die Möglichkeit, ohne Namensnennung rumpöbeln zu dürfen, bei vielen die Sau erst so richtig vom Pflock? Nein, argumentiert die Gegenseite, oder wenn doch, dann gilt es das (zumindest im Rahmen der bestehenden Gesetze) auszuhalten, schließlich gehe es auch um die Freiheit, unbequeme Dinge sagen zu dürfen ohne deswegen persönliche Nachteile und Sanktionen zu erleiden.
Aktueller Aufhänger der Debatte ist die Sperrung von diversen pseudonymen Profilen in Googles neuem Netzwerk Google plus. In Einzelfällen sind Profile nach eingehender Prüfung auch wieder freigeschaltet worden. Aber so richtig einsichtig ist es im derzeitigen Stadium nicht, nach welchen Kriterien Google dabei vorgeht. Im viel beachteten Fall des Software-Entwicklers Enno Park war es so, dass er sich zunächst unter seinem richtigen Namen ein Profil angelegt hatte, dann den Namen änderte in „Die Ennomane” (unter diesem Namen bloggt und twittert er auch). Jemand meldete Google das Profil mit dem Hinweis auf den Verstoß gegen die Richtlinien, woraufhin es gesperrt wurde. Enno Park nahm Kontakt mit Google auf und legte den Sachverhalt dar, erst wurde sein Google-Konto wieder entsperrt und 20 Stunden später auch sein Google-Plus-Profil.
In den Community-Richtlinien von Google plus heißt es zur Namensfrage: „Verwenden Sie den Namen, mit dem Sie normalerweise von Freunden, Familie und Kollegen angesprochen werden. Dies dient der Bekämpfung von Spam und beugt gefälschten Profilen vor.” Statt Michael Sebastian Müller ginge beispielsweise auch Michi Müller oder Bastian Müller. Das ist schon etwas mehr Entgegenkommen als bei Facebook. Aber dass sich Google weder beim Abklemmen noch beim Wiederaufschalten der Ennomane zu Erklärungen hinreißen ließ, macht die Sachlage irgendwie kafkaesk. Der Nutzer Tobias Wimbauer wurde trotz korrekten Klarnamens geblockt und versteht auch nach dem Entsperren (und holpriger Antwortmail von Google) die Welt nicht mehr.
Was präjudizieren diese Fälle denn nun für die eigene digitale Lebenspraxis? Nachdem ich keinerlei Anstrengungen unternommen habe, all meinen Freunden, Kollegen und Familienangehörigen rechtzeitig beizubringen, mich Mark Siebenneundrei oder Marco Settembrini di Novetre zu nennen, führte für mich kein Weg an der Einsicht vorbei, dass ein entsprechender Nutzername wohl nicht im Sinne der Richtlinien von Google plus ist – und deswegen habe ich das Profil von Mark Siebenneundrei (das ich zunächst unter meinem Klarnamenkonto angelegt habe) vorsorglich gelöscht vor einigen Tagen. Nicht, dass ich auf mein gmail-Postfach vital angewiesen wäre, andere personalisierte Dienste von Tante Gu nehme ich auch nicht in Anspruch. Aber die Vorstellung, wie ein bußfertiger Bittsteller um die Entsperrung meines Postfachs betteln zu müssen, ist mir doch einigermaßen zuwider. Überdies habe ich auch 47 Jahre lang gut ohne Google plus gelebt. Ich kann also getrost abwarten, bis sich Google zu einer nutzerfreundlicheren Identitätspolitik aufrafft.
Andere sind da deutlich ungeduldiger. In die erste Begeisterung vieler Early Adopter über das vermeintlich bessere Facebook aus dem Hause Google mischt sich jetzt zunehmend Kritik an der Namenspolitik des Suchmaschinenriesen. Christian Heller hat aus Protest seinen zunächst korrekten Profilnamen in seinen Netz-Namen plomlompom geändert und fordert andere Nutzer auf, es ihm gleichzutun, um Druck auf Google aufzubauen. Dabei geht es ihm als bekennendem Postprivatisten gar nicht um Anonymität aus Datenschutzgründen: „Ich habe die Schnauze voll von der Gutsherrenart, mit der Google bestimmt, wie wir uns hier nennen dürfen oder nicht. Fleißig werden Nutzer suspendiert, weil sie es wagen, sich einen anderen Namen zu geben als einen bürgerlich klingenden. Anale Fixiertheit auf “Realnamen”, also auf die Unfälle in unseren Personalausweisen, dieses Verweisen auf staatliche Identitäts-Zertifikate, das war schon das außerordentlich Obrigkeitshörige, was mir im de-Usenet auf die Eier ging. Unsere Sozialräume im Netz sollten mehr sein als nur Erfüllungsgehilfen staatlicher Ordnung, und dasselbe gilt für die Namenswahl.”
Wie viele Nutzer sich der Aktion bisher angeschlossen haben, ist nicht bekannt. Dass der Druck ausreicht, um Google zu einer freizügigeren und dem Netz gemäßeren Namenspolitik zu bewegen, darf indes bezweifelt werden. Auch wenn einzelne pseudonyme Profile wieder freigeschaltet oder erst gar nicht geblockt werden, hält Google an dem erklärten Ziel fest, einen Begegnungsort zu schaffen, an dem „sich reale Menschen mit anderen realen Menschen verbinden können”. Dabei muss man kein Poststrukturalist oder ähnliches sein, um diesen Realitätsbegriff für einigermaßen wacklig oder zumindest konstruiert und willkürlich zu halten. Ich habe als mark793 ganz real in einem Frankfurter Café mit anderen Bloggern vor zahlendem Publikum Geschichten gelesen. Und wenn ich als Marco Settembrini real genug bin, um im Online-Angebot dieser altehrwürdigen Zeitung zu publizieren, dann reicht es doch, wenn die Buchhaltung meinen Realnamen und die Bankverbindung hat. Google ist weder meine Hausbank noch mein Vermieter noch ein Auftraggeber, also wo genau liegt jetzt das Realitätsdefizit meiner pseudonymen Existenz? Was ist mit all den vielen Leuten, die im Netz unter ihren Nicknames viel bekannter sind als unter ihrem Realnamen, warum sollten ausgerechnet diese Leute bei Google plus außen vor bleiben?
Ich glaube ja nicht unbedingt an hochfliegende Motive für eine Handlungsweise, wenn ich auch niedrigere finde. Also stellt sich die Frage, was uns Google mit seinem neuen Netzwerk eigentlich verkaufen will, auf dass wir unsere Klarnamen als Gegenleistung rausrücken. Olaf Kolbrück, Blogger in Diensten des Werbefachblatts „Horizont”, sieht die Cloud als die große Leitidee dahinter . Und den Kampf darum, wer die bequemere Brücke in diese neue digitale Landschaft baut, in der jeder Nutzer jederzeit von jedem Endgerät aus auf seine Daten zugreifen kann. Wer wie er, der Kollege Kolbrück, schon so ein bisschen zum Plus-Mensch geworden sei, verliere die Hemmschwelle, auch das bisher kaum genutzte gmail-Postfach intensiver zu verwenden, eventuell den Google-Browser Chrome zu instalieren, damit die Features von Google plus noch besser funktionieren. Der Google-Reader sei eh schon sein favorisiertes Feedmagazin. So fügt sich eins zum anderen, und da ist vom Smartphone und dem Android-Betriebssytem noch gar nicht gesprochen.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Namensfrage dann schon fast wie ein Nebenschauplatz, wo um Symbolik gekämpft wird. Als voll entwickelter Plus-Mensch mit allen Google-Features steckt man womöglich schon so weit drin im Borgwürfel, dass man es vielleicht auch dereinst hinnimmt, wenn Google einem für die Cloud einen neuen Benutzernamen zuteilt wie zum Beispiel Siebenvonneun. Mich darf man, das möchte ich hier schon mal vorsorglich anmelden, dann übrigens gerne zwölfvonelf nennen, falls das mit der 793 irgendwie zu sperrig sein sollte.