Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Lebensverlängernde Maßnahmen

Online-Profile trotzen dem Tod. Wer den Schlüssel zu unserem digitalen Leben bekommt und was von uns bleibt, wenn wir das Zeitliche segnen, kann nun über Nachlassverwalter wie Deathswitch.com geregelt werden. Braucht unser virtuelle Besitz ein Testament?

Online-Profile trotzen dem Tod. Wer den Schlüssel zu unserem digitalen Leben bekommt und was von uns bleibt, wenn wir das Zeitliche segnen, kann nun über Nachlassverwalter wie Deathswitch.com geregelt werden. Braucht unser virtuelle Besitz ein Testament?

 

Das Leben im Hier und Jetzt und das Leben im Dort und Netz ist für viele Menschen längst zu einem Biotop verwachsen, in dem die Grenzübertritte zu Handlungen im virtuellen Raum und dem, was wir als Realität beschreiben, seltener zu spüren sind. Der Ausbau der eigenen Identität, die Schaffung einer digitalen Persönlichkeit und die Interaktion mit anderen Menschen und Nutzern ist nicht mehr auf Kommunikation über Sprache, Zeichen und Bilder beschränkt. Die Verwurzelung in der Welt hinter dem Bildschirm erfolgt außerdem über die Mehrung von Besitz. Die Bewohner des Internets errichten im Webspace mehr als ein Haus: sie lassen sich nieder an vielen verschiedenen Orten, die sie einrichten, zu denen es Schlüssel gibt, die verlassen werden können, die manchmal brach liegen und vergessen werden. Unsere Accounts sind Spuren im Netz, die kein Ablaufdatum besitzen, die der Kraft eines digitalen Radiergummis oftmals widerstehen.

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Wie viele kleine Heimaten im Netz besitzen Sie? Drei E-Mail-Adressen (und noch ein paar aus den Anfangszeiten). Ein Blog, ein Zweitblog und einen wirklich guten Tumblr? Einen Ebay-Account, ein Amazon-Konto, bei Paypal sind Sie registriert, in verschiedenen Online-Boutiquen liegen Ihre Daten. Facebook, Google-Plus, Twitter – und haben Sie Ihre Profile bei Myspace, studiVZ und Elite Partner auch wirklich gelöscht? Sie mögen Ihr Avatar in einem virtuellen Rollenspiel mehr als Ihr Selbst vor dem Bildschirm? Sie kommentieren in Wirtschaftsforen, bei Wochenzeitungen, auf Parteiportalen. Bei XING flirten Sie nur mit den flüchtigen Bekanntschaften von Netzwerksekttrinken, im BVB-Forum testen Sie gerade ein neues Pseudonym, und über den Rest möchten Sie nun wirklich gerne schweigen. Oder nicht?

Wie viel Herz hängt an dem, was wir uns online aufgebaut haben? Was ist es wert, wer soll es sehen? Ist das, was wir im Netz erschaffen wichtig für mehr als die Echtzeit?

Klassische Medien sind auf das Ableben einer Persönlichkeit gut vorbereitet. Für betagte Personen der Zeitgeschichte haben viele Nachrichtenagenturen, Zeitungen und Fernsehsender vorproduzierte Nachrufe in der Schublade, die im Todesfall schnell für das Publikum aufbereitet werden können. Auch für junge Künstler mit Drogenabhängigkeit oder einem anderweitig lebensgefährdendem Lebensstil gibt es Textvorlagen, die auf das Leben dieses Menschen zurückblicken. 2008 kam heraus, dass die amerikanische Nachrichtenagentur AP einen Nachruf auf die damals 26-jährige Popsängerin Britney Spears vorbereitet hatte. Auf diesen Umgang mit der Wahrscheinlichkeit des Todes folgte eine Debatte darüber, ob die vorproduzierten Abschiedsstücke Ausdruck einer verkommenen Medienethik seien, oder schlicht Professionalität in einer immer schneller werdenden Nachrichtenwelt.

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Sicher ist, auch wir bereiten uns aufgrund unterschiedlicher Vorzeichen auf den Tod anderer Menschen vor, formulieren vorab Gedanken, Reden und Gefühle für den Fall, dass uns jemand unwiederbringlich verlässt. Doch wie betrachten wir das eigene Ende?

In meinem Alter habe ich kaum etwas zu vermachen. Materiell könnte ich nicht einmal meine kleine Schwester mit meinem üppigen Kleider- und Schuhschrank erfreuen; sie ist größer als ich. Meine Kindergemälde horten meine Eltern, selbst meine Teenage-Tagebücher gelangten – wie ich zufällig entdeckte – in die Hände meiner Mutter. Ich hoffe, sie hat die Lektüre bereut. Aus Goldschmuck mache ich mir nichts. Und überhaupt darüber nachzudenken, wer meine Besitztümer erben sollte, würde ich jetzt sterben, liegt mir fern.

Als Autorin sammle ich die Dinge, die mir wichtig sind, vornehmlich in Text. Ich besitze tatsächlich handgeschriebene Briefe und Tagebücher, doch weit über neunzig Prozent meiner Schriften sichere ich seit Ende der 90er digital: in Textdateien, Fotos, Blogs, Online-Publikationen, Tweets – vieles davon frei zugänglich und kommentierbar. Doch die wertvollsten Stücke ruhen in meinem E-Mail-Postfach.

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Digitale Entrepreneure haben in den letzten Jahren die Bestattungsindustrie weitergedacht. User können nun mit den extistierenden Angeboten wie „Legacy Locker“ oder „Deathswitch“ Vorkehrungen dafür treffen, was nach ihrem Tod mit ihren Online-Accounts geschehen soll. Die eigene Todesurkunde bei „Deathswitch“ einzureichen geschieht automatisch. Der Service fragt in regelmäßigen Abständen, deren Länge man selbst auswählt, das Passwort des Account-Inhabers ab. Meldet dieser auch nach mehrfachen Erinnerungen nicht zurück, geh das System davon aus, dass der Nutzer entweder tot oder nicht mehr in der Lage ist, einen Computer zu bedienen. Alle hinterlegten Informationen und Briefe werden dann an die zuvor spezifizierten Empfänger geschickt. Das digitale Erbe fällt in die dafür vorgesehenen Hände.

Diesen letzten Willen aufzusetzen, ist – nimmt man die virtuelle Hinterlassenschaft als wichtigen Besitztum wahr – reichlich komplex: Was geschieht mit meinem Twitter-Account? Möchte ich, dass jemand mein Blog löscht, es ausdruckt und aufbewahrt, es fortführt? Dürfen meine Freunde auf meiner Facebook-Pinnwand kondolieren oder nehme ich die Seite mit ins Grab? Oder vergisst das Netz zu schnell, als dass diese Gedanken wirklich lohnen? Kann Technik allein das Gedenken übernehmen?

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Seitdem ich vor Kurzem „Ein Leben in Briefen – Marion Gräfin Dönhoff“ gelesen habe, stelle ich mir manchmal Buchcover mit dem Aufdruck „Ein Leben in E-Mails“, „Ein Leben in Foursquare-Check-ins“ oder die Nacherzählung großer Liebesgeschichten anhand von Twitter-Direct-Messages vor. Was Ingeborg Bachmann und Paul Celan dazu sagen würden? Wenn ich mich von dem Unbehagen befreie, was mich trotz dem Glauben an die Möglichkeit digitaler Romantik befällt, dem Wissen darüber, dass auch elektronische Briefe erhaltenswert sein können, stelle ich mir mit nicht wenig Amüsement vor, wie Enkel das virtuelle Erbe durchforsten und versuchen, daraus zusammenhängende Geschichten zu erzählen. Wer eine solche Erzählung über sich hinterlassen möchte, darf seine Spuren nicht über unzählige Kanäle streuen.

Eine Webdesignerin berichtete mir kürzlich, dass sie gemeinsam mit einem Kunden einen „digitalen Grabstein“ für dessen Tante erstelle. Jedoch wird die Website keinesfalls mit einem animierten Marmorstein geschmückt werden. Die alte Frau begann in den letzten Jahren ihres Lebens Geschichten ihrer Heimatregion per Hand zu notieren und fotografierte dazu. Diese Erinnerungen will ihr Neffe nun weitergeben. Nach dem Tod das erste Mal das Internet zu betreten, ist also auch eine Möglichkeit. Verlassen wir uns also auf den Kontrollverlust und die Menschen, die uns kannten, und verschwenden weniger Lebenszeit darauf, Familie und Freunden zur Trauerarbeit ein Passwort zu schenken. Viele der Ideen, die wir über Jahre im Netz hinterlassen haben, werden ohne Zweifel noch Jahre lang dort zu finden sein und Niederschlag in anderen Gedanken finden.

Der US-amerikanische Psychologe, Futurist und LSD-Guru Timothy Leary, der sich intensiv mit der Lebensverlängerung durch technologischen Fortschritt beschäftigte und 1996 verstarb, hat seinen Arbeitsplatz noch heute im Netz. Er wirkt beschäftigt.

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