Wir sind heute besser denn je über den Nährwert von Nahrungsmitteln informiert und können praktisch jede Kalorie mitzählen. Nur scheint niemand damit etwas anzufangen – oder doch?
Vor kurzem saß ich mit einem Bekannten beim Kaffee, der sich im weitesten Sinne mit Übergewicht und den Auswirkungen auf Gesundheitssysteme beschäftigt. Vor uns auf dem Tisch sein Schokoriegel, mein Törtchen, eine Flasche Limo und irgendwie kam das Gespräch auf Kalorien. Er schätzte den Schokoriegel auf irgendeinen deutlich zu geringen Kaloriengehalt und ich hielt spontan entgegen, der Schokoriegel (ein gehaltvolles Snickers, oder so) habe mehr Kalorien. So um 300, mindestens. Und die Limo? Kam die nächste Testfrage. Um 50 kcal, pro 100 ml. Er schaute nach, ich hatte recht, er war verblüfft.
Dabei gehört das doch für die meisten jungen Frauen meiner Generation zum Allgemeinwissen. Glücklich, wer sich zumindest postpubertär mit seinem Körper anfreunden kann und das Kalorienzählen aufgibt. Manchmal allerdings beschleicht mich das Gefühl, daß es sich dabei um eine Minderheit handelt. Die Mehrheit meiner Bekannten hat im Laufe ihres Lebens mehr als eine Diät gemacht und in der Tat ist das Angebot ja unendlich: Brigitte-Diät, Ananas-Diät, Kohlsuppen-Diät. Relativ einsam dürfte jene Freundin sein, die im unterversorgten Kuba eine Schokoladeneis-Diät macht und abnahm, weil es sonst nicht viele Nahrungsmittel zu kaufen gab. Kalorienangaben kann jeder, der mag, auf der Verpackung nachlesen, in New York mittlerweile bei größeren Ketten sogar auf der Speisekarte. Im Fitnesstudio zählen die Ausdauersportgeräte den Kalorienverbrauch mit, jeder Schritt eine Kalorie, alle fünfzehn Minuten ein Kinderriegel. Als Kinder maßen wir die Zeit noch in „Maussendungs-Einheiten” – heute, beim Sport, in verbrannten Pizzen oder Latte Macchiatos.
Westliche Frauen sind alle bestens orientiert im Bereich der Kalorimetrie. Jawohl, es gibt tatsächlich eine wissenschaftliche Disziplin, die sich ausschließlich der Messung und Berechnung von Energieverbrauch und -zufuhr des menschlichen Körpers widmet. Diese ist allerdings deutlich älter als der moderne Körperkult. Schon im 18. Jahrhundert beschäftigten sich Wissenschaftler damit und um 1850 entwickelte der französische Arzt Paul Broca den – mittlerweile veralteten – Broca-Index zur Schätzung des Grundumsatzes.
Der Grundumsatz bemißt den Kalorienverbrauch des Körpers innerhalb von 24 Stunden bei völliger Untätigkeit. Den größten Teil der Energie konsumieren dabei Muskulatur und Leber, zwecks Erhaltung der Vitalfunktionen, vor allem aber auch der Wärmeproduktion. Ganze 60 % des Grundumsatzes dienen dazu, die durchschnittliche Körpertemperatur von 36-37 Grad zu halten.
Die heute durchaus noch verwendete Harris-Benedict-Formel hingegen illustriert sehr schön, welche Faktoren den Grundumsatz beeinflussen:
GU (kcal/d = 66,473 + 13,752 * Körpergewicht [kg] + 5,003 * Körpergröße [cm] – 6,755 * Alter [Jahre]
Der Grundumsatz G (hier für Männer) ist eine Funktion von Gewicht, Größe und Alter, wobei GU mit Gewicht und Größe steigt, mit dem Alter hingegen fällt. Hinzu kommt ein konstanter Korrekturfaktor für das Geschlecht, das wiederum den Einfluß der Faktoren bestimmt.
Tatsächlich sind diese Zusammenhänge aber nicht monoton, sondern haben einen kurvigen Verlauf. Folgt man vereinfachten Durchschnittssätzen gestaffelt nach Altersgruppen, sieht man, daß der Grundumsatz zwischen 20 und 50 Jahren höher ist als in der Jugend oder im Alter. Auch steigt der Grundumsatz zwar prinzipiell mit steigendem Körpergewicht, aber jenseits gewisser Schwellen (auch bezogen auf Muskelmasse vs. Körperfett) sinkt der Mehrverbrauch pro Kilogramm. Entsprechend werden Formeln wie oben für Body-Mass-Indizes größer 30 gerne korrigiert, um diesen Faktor zu berücksichtigen.
Eigentlich sind diese Formeln natürlich allenfalls noch für Mediziner im Alltagsgeschäft relevant. Große Krankenhäuser ermitteln den Grundumsatz durch aufwendige Messungen der Atemluft (Sauerstoffverbrauch und die Kohlendioxidabgabe), die Rückschlüsse darüber zulassen. Anorektische Teenager und gesundheitsbewußte Normalbürger hingegen finden im Internet Rechenmaschinen en masse, die auf Anfrage jede nur denkbare, personalisierte Information ausgeben. Da der Grundumsazt weitgehend ausserhalb unserer Möglichkeiten liegt, halten wir uns am Leistungsumsatz schadlos. Turnen die Kalorien beim Aerobic weg (250 kcal/h), trösten uns beim Rasenmähen mit dem Gedanken an den Umsatz (145 kcal/h) und bemitleiden den Computer-Nerd (klägliche 46 kcal/h). Paradoxerweise kommt all die Überinformation vor allem bei jenen an, die sie nicht bräuchten (man kann natürlich auch mutmaßen, daß sie bei den Normalgewichtigen ihren Zweck erfüllt hat). An den Rändern der Gewichtsverteilung hingegen herrscht die Irrationalität.
Kaum ein ǘbergewichtiger Mensch dieser Welt läßt sich die Tüte Chips vom Kalorienaufdruck auf der Packung vermiesen, oder verkneift sich den Latte Macchiato bei Starbucks nach einem Blick auf die Zahl hinter dem Preis (in New York, siehe oben). Dasselbe gilt für all die Magersüchtigen, die dem anderen Extrem verfallen sind. Als hochspezialisierte Kalorimetriker wissen sie ganz genau, daß mit sinkendem Gewicht der Grundumsatz sinkt und sind überhaupt mit den evolutionsbiologischen Notmaßnahmen des menschlichen Körpers bestens vertraut. Sie wissen , daß beim Eindruck von Hungersnot der Körper den Grundumsatz sogar deutlich unter das Normalmaß senkt, um die Unterversorgung auszugleichen. Sogar, daß der Körper bei vermeintlicher Hungersnot Glückshormone ausschüttet, damit der Mensch nicht in Apathie verfällt, und daß gerade diese Mechanismen zur Krankheit beitragen – aber von Sinn und Zweck einer normalen, ausgewogenen Ernährung haben solche rationalen Argumente noch kaum jemanden überzeugt.
Wobei sich natürlich auch weite Teile der optisch Unauffälligen mit mehr Planung als Genuß dem Essen nähern. Keinesfalls, so ein beliebtes Märchen, dürfe man nach 18h Essen. Ob das auch für Krankenschwestern in der Nachtschicht gilt, wird nicht kolportiert. Wenn ich heute die Pizza esse, dann muß ich aber morgen… . Kaffee und Joghurt nur mit 1,5 % Fett – aber andererseits zeigen Studien ja nun, daß man dann mehr konsumiert, also vielleicht doch lieber Vollfett? Drei Mahlzeiten am Tag, oder fünf? Zwischenmahlzeiten ja oder nein? Und steigert Ananas nun den Stoffwechsel und macht, daß man beim Essen abnimmt?
Dabei könnte es so einfach sein: Essen, wenn man Hunger hat. Aufhören, wenn man satt ist. Die ganze Zählerei, Rechnerei und Planerei könnte man sich auch sparen. Statt dessen einfach das Essen genießen.
Die Tarte au Citron enthält neben drei sehr gesunden Zitronen 250 g Zucker, 6 Eier und fast 200 g Butter. Die Kalorien könnte man nachzählen, aber wer will das schon?