Dass ich mit dem Konzept der sogenannten Post-Privacy fremdle, wird für regelmäßige Leser dieses Blogs keine bahnbrechende Neuheit sein. Wenn nun also Christian Heller, einer der profiliertesten Vertreter dieser Denkrichtung, ein Buch zum Thema schreibt, dann ist es selbstredend ein Anliegen, mir das Werk mal kritisch zur Brust zu nehmen.
Die Ausgangslage, von der aus Heller (im Netz auch bekannt unter @plomlompom) seine Thesen entwickelt, ist die: Unsere Privatsphäre ist von allen Seiten heftig bedrängt, womöglich gar ein „Auslaufmodell”. Wozu also einen aussichtslosen Kampf auf verlorenem Posten führen, wenn man sich mit den daraus resultierenden Konsequenzen auch arrangieren kann? Es gelte, die vielen neuen Freiheitsräume zu erkunden, die sich auf dem Pfad in die Post-Privacy auftun. Und dass signifikante Teile der Bevölkerung mehr oder weniger bereit sind, diesen Weg mitzugehen, ist für Heller schon allein aus der Tatsache evident, dass sich Millionen Menschen bei Diensten wie Facebook tummeln, um der Selbstdarstellung im Netz zu frönen. Und das, wo Datenschützer und Verbraucherministerinnen doch immer eindringlich vor diesem Datenmoloch warnen.
Bevor der Prophet der Postprivatheit allerdings daran geht, das Versprechen auf dem Buchcover einzulösen und darzulegen, wie es sich denn „prima leben” lässt ohne Privatsphäre, schlägt Heller erst einmal einen weiten historischen Bogen. Wir lernen, dass unser heutiges Verständnis von Privatheit keine anthropologische Konstante darstellt. Allein schon im westlichen Kulturkreis haben sich Bedeutungsebenen und Grenzziehungen zwischen dem Privatleben und dem öffentlichen Bereich immer wieder verschoben. Angefangen mit der hohen Wertschätzung, die öffentliches Wirken in der römischen res publica genoss über die Erosion dieser politischen Öffentlichkeitssphäre im Mittelalter und der stärker werdenden Bindekraft überschaubarer Gruppen und Bezugssysteme wie Klöster, Zünfte und Dorfgemeinschaften bis hin zum Aufstieg der bürgerlichen Familie mit ihrer entstehenden Kultur der Innerlichkeit und dem biedermeiernden „home, sweet home” als sicherem Rückzugsort vom Trubel der Welt.
Und jetzt, im anbrechenden digitalen Zeitalter, sind eben neue Techniken des Selbst erforderlich. Denn wie in den folgenden Kapiteln über die „Entfesselung der Daten” ausgeführt, nimmt die technologische Entwicklung auf kleinliche Bedenken wenig Rücksicht. Auch vom Datenschutz, der hierzulande einen hohen Stellenwert genießt, ist hier kein zuverlässiger Schutz mehr zu erwarten. Wie Heller ausführlich darlegt, nimmt der Staat das Grundrecht seiner Bürger auf informationelle Selbstbestimmung selber nicht ernst. Wo es dem System opportun erscheint, macht es uns nackig (etwa per Vorratsdatenspeicherung oder der immer weiter gehenden Überwachung des öffentlichen Raums). Der Datenschutz gibt vor, hehren Zielen zu dienen, aber oft wird nach Hellers Ansicht auch nur der Lust an der Reglementierung gefrönt. Und da, wo der Datenschutz wirklich gefordert wäre, gibt es meistens ein erhebliches „Vollzugdefizit”. Kurz gesagt, der Datenschutz ist für Heller ein zahnloser Tiger, von dem wir keinerlei ernsthaften Schutz erwarten sollten. Da würde man dem Verfasser gerne widersprechen, aber in der Tendenz ist seine Diagnose nicht von der Hand zu weisen.
Überhaupt verdankt die Datenschutzdebatte Christian Heller und den Mitstreitern der „datenschutzkritischen Spackeria” einige sehr unangenehme, aber doch notwendige Einsichten. Nämlich dass Datenschutz an sich kein Wert an sich ist und auch immer gefragt werden sollte, wessen Interessen dieser oder jeder datenschützerische Aktionismus dient. Wenn man erst einmal verstanden hat, dass in der Debatte um Datenschutz das, was wir uns eigentlich davon erhoffen, oft genug den Blick darauf verstellt, was uns ständig für Mogelpackungen mit diesem Label untergejubelt werden, wird man Datenschutzkritik nicht mehr automatisch gleichsetzen mit der Forderung „macht Euch alle nackig bis dorthinaus”.
Heller ist klug genug (oder er hat vor dem Schreiben genügend Kreide gefrühstückt), um diese Forderung nicht zu stellen und keine wie auch immer konstruierte Ethik oder Normativität der Datenpreisgabe zu postulieren. Er legt dar, wie es die Sache der Frauen und der Schwulen vorangebracht hat, aus der privaten Abschottung und Vereinzelung herauszugehen und die Öffentlichkeit zu suchen – wie beispielsweise auf jenem legendären „stern”-Cover mit dem Titel „Ich habe abgetrieben”. Er beschreibt ansatzweise wie eine transparente Gesellschaft aussehen könnte, in der wir weit mehr übereinander wissen als bisher.
Alles in allem liest sich das eigentlich auch recht fluffig. Heller geht dabei auch heißen Eisen wie „1984″ und ähnlichen Dystopien nicht aus dem Weg. Aber seine Begründungen, warum Post-Privacy unsere Gesellschaft eher nicht auf totalitären Kurs bringen wird, wirken ein bisschen bemüht wie das Pfeifen im Wald. Heller reißt die Machtfrage zwar an, aber er stellt sich ihr nicht. Er glaubt an das emanzipative Potenzial des Netzes und hofft, dass die richtige Mischung aus wikileaks und open data die Machtbalance zu unseren Gunsten verändern kann. Das Risiko, dass diese neue freiwillige und kuschelige Öffnung bislang privater Bereiche genauso gut ins Repressive umschlagen kann, sobald die Hose auf Knöchelhöhe die neue soziale Norm wird, hält Heller anscheinend für gering oder zumindest vertretbar angesichts der Chancen der neuen Offenheit.
Die alte Welt der Privatheit (auch durchaus mit ihren angenehmen Seiten) ist noch nicht tot, die neue transparentere Gesellschaft noch nicht errichtet. Und so stehen wir wahrscheinlich noch oft vor der Frage: „Privat oder öffentlich? Wieviele Daten von mir werfe ich den Datenfressern in den Rachen? Verhalte ich mich zurückhaltend und unsichtbar oder suche ich die Sichtbarkeit, die Reichweite?” Im Moment haben wir noch die Wahl, und das beruhigt ein wenig. Aber Christian Heller weist auch darauf hin, dass die persönliche Privatsphäre keine antiautoritäre Garantie bietet: „Sie kann genau so gut für die Macht arbeiten wie gegen sie.” Und zu guter Letzt nimmt der Autor etwaige Einwände gegen sein Werk auch schon gleich vorweg: „Vermutlich bin ich an vielen Stellen etwas zu sehr ins Optimistische, ins Utopische verfallen, wenn es um die Chancen der Post-Privacy ging.” Aus solchen Beschwörungen ließen sich leicht Heilsversprechen zimmern. Eine „große Gegendosis Skepsis” könne da nichts schaden.
Genau das wäre auch mein Fazit.